Die Gegenwart - Petarch #1
Ahiro schlenderte genervt durch die Straßen Winbrucks. Er war wütend auf Ohrgott, der ihn zum ersten Mal auf ihrer schier ewigwährenden Reise falsch geleitet hatte. Auch der Umstand, dass er sich in der Stadt seit Langem wieder ein anständiges Mahl hatte gönnen können, änderte daran nichts.
Er hasste Städte. Umso größer sie waren, desto mehr beengten sie ihn. Unzählige Personen waren darin, die ihm misstrauische Blicke nachwarfen. Zwar gab es neben ihm reichlich Abenteurer, die ihr Glück auf langen Reisen erprobten, um heldenreich zurückzukehren, aber diese marschierten in aller Regel nicht verhüllt durch die Städte. Seine mitgenommen wirkenden Kleider taten ihr Bestes, um den Eindruck eines herumstreunenden Diebes zu perfektionieren. Würde er nicht drei Waffen offen mit sich tragen, wer wusste schon, ob man ihn nicht einfach niederprügelte? Vrynn waren nicht dafür bekannt, zimperlich zu sein. Aus Furcht oder Missgunst rotteten sie sich schnell zu einem wütenden Mob zusammen. Ahiro schmunzelte bei dem Gedanken, dass ein Teil seiner selbst zu diesem Volk gehörte. Er passierte den zentral gelegenen Marktplatz, wonach er nach rechts von der Hauptstraße abbog und sich fortan durch kleinere Nebengässchen weiter zum Herzen der Stadt bewegte.
„Und du bist dir diesmal sicher mit dem Aufenthaltsort des Blutsteins?", fragte Ahiro zum wiederholten Mal.
Ohrgott war von Natur aus ein äußerst geduldiges Wesen. Es machte ihm nichts aus, dass sein Begleiter ihn ständig mit derselben Frage löcherte. Zuviel stünde auf dem Spiel, würde er auf irgendeine Weise Ahiros Gunst verlieren.
„Wie ich dir bereits sagte, habe ich mich diesmal auf mein Gespür verlassen. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass die Lupa den Petarch weitergeben würden und hatte es mir deswegen erlaubt, davon auszugehen, dass er sich immer noch in deren Besitz befand."
Grimmig erinnerte Ahiro sich zurück an das Massaker, das er im Lager der Halbwölfe anrichten musste, nur um dem Anführer mit Gewalt die Information herauszupressen, dass der Stein den Besitzer gewechselt hatte. Die Lupa waren starke, wilde Kämpfer und einander treu verbunden. Auch ihr Blut floss durch seine Adern. Umso erschrockener waren sie, als jemand ihrer eigenen Rasse ihnen in den Rücken fiel. Eine Vielzahl von Gassen weiter bogen sie wieder auf die Hauptstraße ab.
Das Menschengedränge war hier im nördlichen Stadtteil um ein Vielfaches kleiner. Sie näherten sich der Residenz des derzeitigen Königs. Ahiro hatte sich für ein Trinkgeld über ihn informieren lassen. Angeblich war er praktisch aus dem Nichts gekommen. Die erst kürzlich beigelegten Unruhen innerhalb des Landes hatten ihm die Möglichkeit gegeben, sich auf den Thron zu schwingen. Zwar war er nie wirklich zum Herrscher gekrönt geworden, aber er schien zumindest der König in den Herzen der Menschen zu sein. Ein steiler Aufstieg, das musste man ihm lassen.
„Der Blutstein hat ihm sicherlich auf den Thron verholfen. Er ist dem großen Mantel geweiht und steht über allem. Von jeher galt er als Herrschaftssymbol, egal wo er sich gerade befand. Man sagt auch, er wäre in der Lage, Menschen zu beeinflussen."
„Bedenkt man, welche Macht dieses Kleinod verleiht, kann ich ja durchaus nachvollziehen, dass man einen derart gestärkten Herrscher gerne an der Spitze des Volkes sieht."
„Ja, er ist in der Lage für seine Position einzustehen", bestätigte Ohrgott, „aber du wirst ihn dennoch schlagen. Auch wenn der Stein des Mantels das stärkste der fünf Artefakte ist, so besitzt du doch drei der anderen."
„Ich würde diesen Stümper auch ohne meine Waffen bezwingen", gab Ahiro höhnisch von sich.
„Du magst stärker sein als die meisten, doch überschätze deine Kräfte nicht. Die Lupa werden nicht grundlos den Stein an ihn weitergegeben haben", warnte ihn der dunkle Geist, aber Ahiro wollte davon überhaupt nichts hören. Er inspizierte die Verteidigungsanlagen, während er nach einer möglichen Raststätte Ausschau hielt, um den Tag zu verbringen.
Die Burg war im Gesamten von zwei hintereinanderliegenden mächtigen Mauern umspannt, auf denen zahlreiche größere und kleinere Türme platziert waren. Der Mittelpunkt der Festung wurde von einem riesigen Bergfried eingenommen, der aus dem Hauptgebäude, wohl dem Zuhause des Königs, hervorragte. An einigen Stellen bemerkte man notdürftig reparierte Schäden an dem mächtigen Bollwerk. Für eine Armee mit Belagerungswaffen würde das sicher zu deren Vorteil gereichen – ihm war es gleich.
Alles in allem merkte man der Stadt ihren Reichtum durch die ergiebigen Weinberge an. Als Eroberer würde Ahiro diese Festung abstoßen, als Mörder reizte es ihn. Nahe der Burg fand er einen Gasthof, der eines Königs würdig war. Zwar kostete ihn der Aufenthalt dort ein kleines Vermögen, aber er war der Meinung, sich diese Annehmlichkeit nach den Strapazen der letzten Zeit verdient zu haben. Mehrere Wochen hatte er auf dem Gehöft nördlich Remederres gearbeitet.
Die Vrynn dort waren gut zu ihm – eine nette kleine Familie. Der schon betagte Vater, dem seine Frau nur Töchter geschenkt hatte, konnte seine Hilfe auf den Feldern immer wieder gut gebrauchen. Im Gegenzug gab er ihm einen Schlafplatz und ein wenig Reisegeld. Manchmal erwischte sich Ahiro bei dem Gedanken einfach dortzubleiben, an einem Ort, wo man ihn akzeptierte. Den Rest des Tages nutzte er sowohl um die Verteidigungsanlagen, die er zu überwinden gedachte, zu inspizieren, als auch um sich den nötigen Schlaf zu gönnen. Die Aufregung ließ ihn jedoch kaum ein Auge zu tun. Immer wieder schreckte er aus seinem Dösen auf, nur um festzustellen, dass draußen noch helllichter Tag war.
„Es stört mich ehrlich gesagt, dich nie wirklich zu sehen", meckerte Ahiro, als er wieder einmal in dem vermeintlich leeren Raum aufwachte.
„Du hast die Gabe auch mich zu sehen, wenn du dich darauf konzentrierst. Es wäre nicht von Nachteil, wenn du die Fertigkeit deines Volkes öfters studieren würdest."
„Dieses Volk hat meine Mutter getötet – ich pfeife auf diese Gabe."
Ohrgott seufze genervt auf. „Dann musst du wohl damit zurechtkommen, mit dir selbst zu sprechen."
„Damals hattest du auch einen Körper, als ich noch kleiner war."
„Irgendwie musste ich dich ja tragen", erwiderte Ohrgott gereizt. „Aber es stellt eine ungemeine Anstrengung für mich dar. Davon abgesehen zerfällt der Körper eines Wesens, das ich besetze, rasant schnell. Wenn ich ihn nicht verlasse, bevor er – auf welche Art und Weise auch immer – stirbt, vergehe ich mit ihm."
„Eine ganz schöne Schwachstelle für so ein übermächtiges Wesen", frotzelte Ahiro.
„Ich habe es nicht nötig, eine fleischliche Hülle zu besitzen. Ich töte meine Gegner so viel effizienter als mit grober Gewalt."
„Aber die Absconden wagst du nicht anzugreifen?"
„Haarspalterei!"
Ohrgott schien ernsthaft beleidigt, weswegen Ahiro es für sinnvoller hielt, sich noch einmal schlafen zu legen.
„Es ist einfach ein wenig einsam, weißt du?", sagte er, ehe er eindöste. Doch sein geisterhafter Begleiter erwiderte nichts mehr darauf.
Endlich schwächte das Leuchten des großen Mantels ab. Die schillernden Farben verschwammen und wurden durch trübe Blau- und Grüntöne ersetzt. Die Vrynn verließen die Straßen und gingen zurück in die Häuser, während die Zahl an Patrouillen, die die Straßen auf- und abgingen, größer wurde.
Ahiro hatte sich die Zeit mit Schnitzen vertrieben. Er ging diesem Handwerk ständig nach, wenn er Zeit für sich hatte, sich langweilte. Er fertigte nichts Planmäßiges an, sein Tun war eher intuitiver Natur. Diesmal war das Ergebnis seiner Arbeit eine Parvin, die furchtvoll ihr Kind umschlang, gewesen. Nachdenklich betrachtete er die Figur, die ungefähr so groß wie sein Handballen war. Dann warf er sie achtlos in seinen Beutel zu den anderen.
Auf Zehenspitzen verließ Ahiro sein Zimmer. Der Flur lag dunkel vor ihm. Einzig aus der Küche im Erdgeschoss dröhnten leise Geräusche nächtlicher Arbeit. Auch wenn er sich noch so anstrengte, so konnte er es nicht verhindern, dass der hölzerne Boden unter seinen Schritten knarzte. Er hoffte, dass man annahm, er suche nur das stille Örtchen auf. Die Treppe war erst vor Kurzem neu gemacht geworden und verriet ihn nicht durch irgendwelche Geräusche. Die Tür zur Küche war nur angelehnt. Ein Lichtschimmer drang von drinnen hinaus.
Er wollte nicht unbedingt auffallen, dennoch, sollte jemand der Küchengehilfen nach draußen kommen, musste er ihn erledigen. Ohne weiter abzuwarten, ging er die letzten Stufen hinab und schlich an der Tür vorbei. Erschrocken presste er sich gegen die Wand, als diese plötzlich aufschwang. Der hintere Teil des Schankraums wurde von hellem Licht erfüllt. Aber Ahiro hatte Glück. Die Tür öffnete sich in seine Richtung, sodass er von ihr verdeckt wurde.
„Ich gehe dann zu Bett. Vergiss bitte nicht, alle Lichter auszumachen, wenn du fertig bist", rief die Köchin nach drinnen und warf die Tür ins Schloss. Nachdenklich blickte sie durch den Raum. Hatte sie nicht etwas gehört? Vielleicht spielten ihr ihre überstrapazierten Nerven auch schon einen Streich. Achselzuckend erklomm sie die Treppe. Ahiro war in der Zwischenzeit von dannen gezogen.
„Das war knapp", kommentierte Ohrgott das Geschehene.
Ahiro sah grimmig in die Richtung, aus der die Stimme kam. „Es ist gut gegangen - was willst du mehr?"
„Du hättest sie einfach auslöschen können. Damit wärest du nicht Gefahr gelaufen, entdeckt zu werden."
„Ach nein, das wäre keinem in der Küche aufgefallen."
„Dann hättest du dich des Zweiten eben auch entledigt."
„Ich bevorzuge die elegante Lösung", beendete Ahiro die Unterhaltung und machte sich auf den Weg.
„Wirst du langsam weich?"
Ahiro antwortete auf diese Spitze nicht. Er konzentrierte sich darauf, jeder Wachmannschaft, die seinen Weg zu kreuzen drohte, auszuweichen.
„Ich erinnere mich noch gut an deinen blutigen Zug quer durch das Parvenreich. Sag bloß, du bevorzugst die Vrynn?"
Ahiro schüttelte den Kopf. Viel eher zutreffend war, dass ihn die Parven seine Sterblichkeit gelehrt hatten. Aber der wahre Grund lag wohl in der reinen Zweckmäßigkeit. Es war schlicht nicht notwendig, jemanden zu töten - noch nicht.
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