Das Kapital des Grafen von L.
Er las in der Zeitung und verdrehte die Augen: Wieder war ein Krieg ausgebrochen, wieder schossen Menschen aufeinander, töteten sich, nur um einem Staatsoberhaupt zu dienen, das bankrott gegangen war. Wer Krieg führte, der brauchte Geld — und die Menschen waren so dumm, weil sie sich dem mit Kriegseifer und dem indoktriniertem Wissen einer Übermacht vollkommen hingaben. Die Menschen töten sich, weil sie Geld brauchen. Man wird bestohlen, weil die Ressourcen auf der Welt ungerecht verteilt gewesen sind. Im Kapitalismus gewinnt nicht derjenige, der die besten Ideen hat, sondern der, der der entweder das Geld hat, sie umzusetzen, oder weiß, wie man sie dem anderen entwenden und vermarkten kann. Der Markt reguliert sich nicht selbst. Der Kapitalismus ist nicht fair. Die Menschen, die arbeiten, werden nicht dafür belohnt. Willst du deine erste Million verdienen, musst du eine Million investieren. Im Kapitalismus gewinnt der Stärkere, der, der die Naivität der Menschen auszunutzen weiß. Im Kapitalismus geht es nicht um Ehre, um Charakter, um einen Ruf, den man zu verlieren hat, wenn man Bedürftige, obwohl man selbst die Mittel hat, nicht unterstützt. Im Kapitalismus geht es darum, viel Geld zu verdienen und zu besitzen — ganz gleich, was dafür getan werden muss.
Der Graf von L., von einigen seiner besten Freunde auch lediglich X. genannt, wohnte mit seiner Frau und den vier Kindern in einer französischen Stadt mit dem Namen N. Aus Mitleid über das Schicksal seiner (damals noch) zukünftigen Frau, die ungewollt schwanger geworden war, heiratete sie der Graf und adoptierte das erste Kind. A., der ein attraktiver Sohn wurde. Er war das erste der vier Kinder, die die Familie bekommen sollte. Es folgte der Sohn T., ein Musikliebhaber, die Tochter A., ebenfalls attraktiv wie klug und der Sohn B., der jüngste von allen, geboren als aufgeweckter Junge.
Sie waren eine Aristokratenfamilie, das sah man ihnen an. Der Graf und seine Frau sowie die vier Kinder lebten herrschaftlich, aber nicht auffällig. Hinter ihrer verschlossenen Tür, welche lediglich zu einem hübschen Altbau-Reihenhaus gehörte, verbargen sich mehrere Etagen, Betten aus goldenem Material, zwei Hunde, Kamine, ein privater Salon und so vieles mehr, dass es viel mehr Zeit in Anspruch nehmen würde, das, was ihnen gehörte, zu beschreiben als sie selbst. Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn die Menschen, die die Familie umgaben, bei dem Namen von L. zu erst an die vielen Gegenstände als an die fünf Personen dachten. Alle vier Kinder hatten das Glück, eine vortreffliche Schulbildung genießen zu können. Im Gegensatz zu denen, die nicht das entsprechende Kapital besaßen, konnten sie auf die beliebte katholische Privatschule gehen und eine Bildung genießen, die sie in ein besseres Leben führen sollte. Sie wollten fromm wirken, gottesfürchtige Menschen sein, die ihren Besitz, so gut es ging, zu verstecken vermochten, um so zu wirken, als wären sie welche von denen, die sie doch von oben herab betrachteten. Die Familie von L. hatte ein gutes Leben gehabt und verstand sich darauf, die positiven Seiten ihres reichen Daseins mit den positiven Seiten einer scheinbaren armen Normalität zu verknüpfen. — Diesen Luxus konnten ich wahrlich nur diejenigen leisten, die das entsprechende Kapital und den benötigten Verstand besaßen. Als Grafenfamilie bekamen sie das Geld, was die anderen erwirtschafteten. Aus der Angst vor dem Proletariat, das sich bei genügend Verstand zusammengetan und ihren eigenen Verdienst wiedergeholt hätte, verstanden sie sich darauf, wie eine unscheinbare Familie zu wirken. Während die Kinder in teuren Anzügen Urlaub mit dem Privatjet unternahmen, engagierte sich die Mutter in der katholischen Kirchengemeinde.
Das Glück der Familie schien wohl perfekt für jene, die sich dem Geld statt der Menschlichkeit hingaben und dennoch muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass das so glücklich scheinende Schicksal der sechs Mitglieder eine tragische Wendung bekommen sollte, die durch nichts weniger als ihrem eigenem Streben nach Kapital verschuldet wurde.
Der Graf verspielte sein Glück. Der Graf nahm das Vermögen der Familie, seiner Familie, um es dafür zu verwenden, noch mehr Geld zu erhalten. Doch der Aristokrat, der es bis dahin gewöhnt war, stets in seinem als Gewinner zu gelten, hatte, bei aller guten Bildung, die er genießen durfte, nicht den Umstand beachtet, dass er nur ein kleiner Hai von vielen großen in der unendlichen Weite des Kapitalismus' war. Sein Wunsch, das schon so üppige Geld zu vervielfachen, brachte ihn in eine Lage, die er nicht mehr beherrschen konnte. Die Familie hätte lange von dem Geld des Grafen leben können, von den Einnahmen, die sie aus ihrem Landgut erhielten und jene, die ihnen der Nachname einbrachte, doch dem Grafen war es nicht genug. Er verstand: nur derjenige, der viel Geld besitzt, war, seiner Ansicht nach, auch viel Wert. Die Lücke seines Selbstbewusstseins, die sich durch mangelnde Integrität und fehlende Persönlichkeitsbildung durch die Möglichkeit des finanziellen Ausgleichs schon in seinen frühen Kindheitsjahren auftat, kam nun wieder zum Vorschein, viel größer, als er es in Erinnerung gehabt hatte. Wer war dieser Graf, dieser X., schon, wenn er kein Geld besaß? Was war er für ein Mensch, wenn er in mehr in überteuerten Restaurants sein Dasein pflegen, mit seinem ruhmreichen Namen von L. prahlen und der lieblichen Frau die schönsten Kleider kaufen konnte? Er und sein Leben hatten sich dem Geld verschrieben, dem Kapital, womit sie erzogen wurden. Nun, als ihn seine Gier dazu brachte, immer mehr Haben zu wollen, verlor er es mitsamt seiner so gutherzigen Persönlichkeit. Das Fehlen seines Kapitals, das Fehlen der Möglichkeiten, ein gutes (oder menschliches?) Leben zu führen, offenbarte die tiefen Abgründe des menschlichen Seins, seines Lebens.
So hatte die Familie nun nichts mehr, worauf sie sich einst so selbstverständlich-abschüttelnd bourgeois berufen konnten, doch lebte sie weiter wie bisher. Denn der Graf, der mit so viel Stolz und Ehre erzogen war, verstand es nicht, nicht aufgrund seines Geldes, sondern aufgrund seiner selbst geliebt zu werden — und so sagte er der Familie nicht, dass sie alles verloren hätten, weil er die Angst gehabt hatte, dass sie ihn deshalb verlassen würden. In seinen Gedanken war der Graf, der dazu erzogen wurde, nicht mehr wert als das Geld, das er besaß. Wenn die Familie nun dahinter kam, dass das so ruhmreiche Leben, das sie für so selbstverständlich und gottgegeben erachteten, zu Ende war und sie sich im Zweifelsfall wie die Normalsterblichen zu verhalten hatten, hätten sie ihn mit Sicherheit verlassen. Ihr Standard war ein anderer geworden, den der Graf wohl nicht mehr hätte erfüllen können.
So sollte es ihm also sehr gelegen kommen, dass der Vater, ein alter betagter Mann, der auf einem alten, brüchigen Schloss hauste, ohne die Anwesenheit seines Sohnes verstarb. Daraufhin machte sich der Graf zu seiner einstigen Heimat auf, in der Hoffnung, das Schicksal eines armen Bettlers doch irgendwie umgehen zu können. Wortlos schritt er an der aufgebahrten Leiche vorbei, eilte zum Sekretär und blätterte in den Finanzunterlagen. Es mag nun nicht erstaunen, dass in einer Familie, die von so viel Unwahrheiten geprägt war, auch der Vater des Grafen nicht den Mut hatte, zu seinem finanziellen Ruin zu stehen. Auch der Vater im Schloss war arm verstorben, lediglich das Prestige seines Namens rettete ihm vor seinem elendigen Untergang, bei dem er das bekommen hätte, was die Menschen, die er und seine Familie über Jahre ausgebeutet hatte, übrig gehabt hätten. Vermutlich wäre es sehr wenig gewesen, aber das sind nur unbestätigte Thesen, die nicht mehr überprüft werden können. Wie sehr verfluchte der Graf nun, dass er zu seinem verstorbenen Vater gefahren war, doch brachte ihm das Schicksal ein eindeutiges Zeichen. Der Tod seines Vaters war eine Chance gewesen, sein Leben von Grund auf zu verändern. Er hätte es als Zeichen sehen sollen, ehrlich zu seiner Familie zu sein und das Kapital gegen Herzlichkeit tauschen sollen. Doch stattdessen nahm er die Waffe an sich, die er auf einem Schrank fand und aus den gutbürgerlichen Zeiten stammte. Ganz magisch zog sie ihn an und er verliebte sich in die Stärke, in die Maskulinität, die sie für ihn ausstrahlte. Mit dem immer weniger vorhandenen Geld nahm er nun Unterrichtsstunden, schoss auf weiße Blätter mit schwarzen Männern, nahm seine Söhne mit und zeigte ihnen, was ein richtiger Mann sei und was die Frauen so meinten, wenn sie sich einen guten Gatten wünschten. Sehr viel Zeit verbrachte der Graf nun damit, die mühevoll gefertigte Munition sinnlos zu verschießen und inzwischen sah man ihn öfter in eben jener Anstalt als bei sich zu Hause. Und dennoch verschwanden nicht die Probleme, die ihm innewohnten und der Konflikt, die manche Menschen mit Alkohol hinauszuzögern versuchten, kam ihm bedrohlich nahe. Im März kaufte er einen Schalldämpfer.
Der Graf entschloss sich also zu etwas Grausigem, dass aus Respekt vor den Toten und ihrem menschlichen Leid, nun nicht ausgesprochen wird. Es war im April gewesen, da sah man die so glückliche Familie ein letztes Mal. Die Mutter ging mit den Hunden spazieren, der schöne A. küsste seine schöne Freundin, T. verließ N. und besuchte seine Hochschule in A., wo er Musik studierte. Die Idylle der Familie, die von dem Grafen mehrheitlich beeinflusst wurde, endete in jenem Moment, als er in die Gläser der drei übrig gebliebenen Kinder Schlaftabletten mischte und sie sich zu Bett begaben. Seine Frau küsste ihn ein letztes Mal und er sagte, dass er noch etwas recherchieren müsste. Dann ging auch sie und fand sich in den Träumen ihres wohl-situiertem Lebens wieder. Der Graf schlief in dieser Nacht nicht.
Er konnte es ihnen nicht erzählen. Es war eine viel zu große Schande, die er seinen Liebsten nicht erzählen konnte. Doch die größte Schande, die er sich nicht eingestand, war wohl seine eigene Unfähigkeit, eine derartige Schande als Chance oder Schicksal zu betrachten. Nicht er lenkte in dieser Nacht die Flinte, sondern seine Erziehung, die ihm zu einem übermächtigen Mann erhob, der den Sinn und Zweck seines Lebens im Kapital und dem damit verbundenen Ruhm fand. Seine Frau war die erste, die aus ihren Träume gerissen wurde, es folgten die drei Kinder. Er verscharrte sie im Garten und beklebte den Briefkasten mit der Botschaft, dass alle ankommenden Briefe zurück an Absender gingen. Montagmorgen versendete er an die Familienfreunde Nachrichten, die über einen spontanen und äußerst geheimen Plan informierten, dem sie die Familie wohl Sonntagabend hingegeben hätten. Laut Nachricht wären sie nun für eine Organisation tätig, die sich um verschiedene Konflikte kümmerte. Am Dienstag kam T. von seiner Hochschule zurück, weil der Graf ihm schrieb, dass seine Mutter mit dem Fahrrad gestürzt war. Sie aßen gemeinsam im Restaurant und auch T. wurde nie wieder gesehen. Ihm wurde wohl das traurigste Schicksal zu Teil: zu leben, ohne zu wissen, dass die Menschen, die man so sehr liebte und als seine Familie betitelte, bereits verstorben waren. Eventuell hatte T. Hoffnung gehabt, als er aus A. zurückkam und in N. an seine Haustür klopfte. Aber auch das ist nur eine These, die nicht mehr bestätigt werden kann. Auch T. schlief ein. Wie seine Familie wurde er mit Kreuzen und einem Marienbild nicht mehr als einem Meter unter der Erde vergraben.
Am Mittwoch nun, da ging der Graf, als wäre es ganz selbstverständlich gewesen, aus seinem Haus und fuhr in Richtung Süden. Er bereiste all jene Städte, die er so glücklich in Erinnerung hatte, verkleidete sich nicht und ließ im April 2011 seinen Wagen auf einem Parkplatz einer Hotelkette zurück. Eine Kamera filmte ihn, wie er mit einem Kleidersack und einer Waffe in die Berge verschwand. Es ist ungewiss, ob der Graf jemals wieder zurückkommen wird, ob er sich ebenfalls umgebracht hat oder ob er ein neues Leben begonnen hat. Sicher ist jedoch, dass er die Bilder, die er aus den Bilderrahmen in der Wohnung entnahm, bei sich trug und sie alle ihrem frommen Gott übergab, weil die Schande, kein Kapital zu besitzen, größer war als die Liebe zu seinen nächsten. Der Graf dachte nur an sich, als er die Familie, im vermeintlichen Gedenken an sie, ihrem Schöpfer gegenüber treten ließ. Vier junge Schicksale waren weniger wert als der Gedanke, nicht mehr erhaben über jenen zu sein, die für einen selbst die Arbeit verrichteten.
Die Lehre dieser, unserer, Geschichte ist: Es siegt nicht der, der die Kraft hat, zu vertrauen, sondern derjenige, der die Naivität der Menschen auszunutzen weiß. Es ist einfacher, Geld zu besitzen, um sich als maskulinen Herrscher zu verstehen, als um seiner selbst Willen geliebt zu werden.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top