Ein Hauch von Abenteuer


Es gab süße Tage. Und dann gab es solche, die einen bitteren Geschmack auf der Zunge hinterließen. Am Morgen erwachte ich mit einem faden Geschmack im Mund. Zum Glück kann ein Gang ins Bad diese morgendliche Note geschickt mit Minze übertünchen. Ein Blick in den Spiegel wollte ich mir ersparen, aber ich musste heute vor die Tür gehen, denn meine Anwesenheit in der Schule war erforderlich. „Was sein muss, muss sein.", grummelte ich vor mich hin und zwanzig Minuten später verließ ich das Haus ohne Frühstück. Das Wochenende war doch wie immer viel zu kurz gewesen. Ich benötigte allein zwei Tage, um mich von den fünf Tagen Schule zu erholen, da ich mich in meinem Abschlussjahr befand. Zwar war es erst Oktober, doch die Lehrer übten bereits jetzt so viel Druck auf uns aus, sodass ich kaum damit umzugehen wusste. Also schlief ich die meiste Zeit, wenn ich meine Anwesenheit im wachen Zustand nicht erforderlich war.

Als ich mit Rad an der Schule ankam, kündigte die Glocke den Unterrichtsbeginn an. „Jetzt musst du dich aber beeilen.", sprach ich mir selbst Mut zu, doch dann kam mir ein Gedanke. Frau Weiß war diejenige, die mich jetzt in deutscher Sprache unterrichten würde. Sie war eine Frau, die kein Wenn und Aber zuließ und Verspätungen bis auf den Tod nicht ausstehen konnte. Sollte ich mich dazu durchringen, meinen Morgen mit ihren spitzen Kommentaren zu versauern? Was konnte ich eigentlich über die deutsche Sprache noch lernen, wenn ich sie bereits beherrschte?

Missmutig schnaubte ich aus und öffnete das Schloss an meinem Fahrrad. „Wo willst du denn hin?", fragte mich plötzlich eine Stimme von der Seite her. Ich zuckte vor Schreck zusammen und mein Kopf fuhr unwillkürlich herum. War ich jetzt doch tatsächlich beim Schwänzen erwischt worden, bevor ich das Schulgelände überhaupt verlassen hatte? Es war aber kein Lehrer, der da vor mir stand, sondern jemand Weibliches in meinem Alter. Ungeniert musterte ich ihre Erscheinung. Zerrissene Jeans, ein bauchfreies, schwarzes Top von irgendeiner Indieband und dunkles Make-up waren neben ihren schwarz glänzenden Lackboots die auffälligsten Merkmale, die ich an ihr ausmachen konnte. Ihre platinblond gefärbten Haare standen in starken Kontrast zu der dunklen Farbgebung ihrer sonstigen Aufmachung. Sie war der Inbegriff von Trotz gepaart mit einer großzügigen Portion Rebellion.

„Und wer bist du?", stellte ich ihr betont lässig eine Frage zurück, statt auf ihre zu antworten. „Die Neue.", entgegnete sie mir mit einem breiten Grinsen und griff in ihre Jeanstasche, um einen Streifen Kaugummi herauszuholen. Das Kaugummi schob sie sich sogleich in den Mund und dabei fuhr ihr Blick zwischen der Schule und mir hin und her. „Sieht nicht gerade sehr einladend aus, dieser Betonklotz von Schule. Ich denke, es reicht, wenn ich hier erst Morgen Hallo sage. Also wo willst du jetzt hin?", fragte sie mich erneut und ich konnte sie vor lauter Unglauben nur mit großen Augen anstarren.

„Äh... ich...", stammelte ich vor mich hin und meine eigene Gelassenheit war dahin. Mit dieser Aussage von ihr hatte ich tatsächlich nicht gerechnet. „Ich wusste nicht, dass wir eine neue Schülerin bekommen." „Sollte ja auch eine Überraschung werden.", kommentierte sie meine Bemerkung mit trockener Ironie. „Also wohin geht es? Ist aber auch egal, ich komme so oder so mit." Kurz grübelte ich darüber nach, ob es tatsächlich eine gute Idee war, heute blau zu machen, aber etwas in ihren grünen Augen versprach mir ein Abenteuer, das zu erleben, ich wohl nicht noch einmal die Gelegenheit bekommen würde.

„Hast du Lust auf Frühstück? Ich kenne da ein kleines Café, das so gemütlich ist, dass die Leute dort sogar tagsüber schlafen.", schlug ich ihr den einzig schönen Platz in dieser kleinen, verschlafenen Kleinstadt vor, in der alles zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar war. Auffordernd hob sie ihr Kinn und lächelte mich an. „Dann mal los. Laufen werde ich aber nicht. Auf deinem Gepäckträger ist noch ein Platz frei, oder?" Mit der Selbstverständlichkeit, die in ihren Worten lag, konnte ich ihr diese Idee nicht ausreden, also nickte ich und ließ sie gewähren. „Ich hoffe, dass ich deine Intimsphäre nicht störe, wenn ich meine Arme um dich lege.", raunte sie mir in meinem Rücken zu, sodass angenehme Schauer über mein Rückgrat fuhren. Wieder nickte ich nur und sie schlang ihre Arme warm und fest um mich.

„Bist du bereit?", fragte ich sie, als ich so weit war, mit dem Rad loszufahren. „Bereit, wenn du es auch bist.", flötete sie mir zu und ich hörte, wie ihr Mund sich noch nach dem Sprechen schmatzend weiterbewegte. Unwillkürlich hoben sich meine Mundwinkel und ich stieß mich mit dem Fahrrad ab. Das zusätzliche Gewicht auf meinem Gepäckträger merkte ich schon, doch sie hielt still und passte sich meinen Bewegungen an. So fuhren wir nur die ersten Meter ein wenig wackelig gemeinsam Rad und ich warf einen letzten Blick auf das Betongebäude, das wirklich nicht einladend aussah. Daraufhin richtete ich meine Augen nach vorne und stellte fest, dass der Tag auch zu schön war, um ihn in einem muffigen Klassenzimmer zu verbringen. Außerdem versprach das Mädchen hinter mir, dass dieser Tag unvergesslich werden könnte. Mit einem kribbeligen Gefühl in der Magengegend steuerte ich das kleine Café an, das schon immer mein Zufluchtsort gewesen war, wenn mein Leben mir zu chaotisch gewesen war.

Das Café befand sich ganz in der Nähe des Nordseestrandes und die salzige Luft des Meeres schlug mir schon mehrere hundert Meter zuvor ins Gesicht. „Ist es dort vorne?", sagte eine Stimme in meinem Rücken zum ersten Mal, seit wir die Schule verlassen hatten. Sie deutete mit ihrem Finger geradewegs auf die blau verwitterte Hütte, vor der sich unter einem Baldachin Sofas und Sessel befanden. Niemand war zu sehen, doch die Fahne war gehisst, was bedeutete, dass das Café geöffnet war.

„Ja, das ist es.", bestätigte ich ihr und kam ein paar Meter vor dem Café zum Stehen. Sie stieg ab und lief schnurstraks auf eines der Sofa zu und versank darin. „Also das gefällt mir jetzt schon.", grinste sie von einem Ohr zum anderen. Während ich mein Rad abschloss, näherte sich uns aus dem kleinen Haus heraus schon die Besitzerin, um uns zu begrüßen. Mit den Menükarten in der Hand und einem gewinnenden Lächeln stolzierte sie auf uns zu. Ihre Augen blitzten. „Vivi, was machst du denn hier? Mal wieder schulfrei?"

„So was in der Art.", erwiderte ich ausweichend und deutete auf meine neue Bekanntschaft. „Heute bin ich nicht allein hier." Die Besitzerin des Café wandte sich dem neuen Gesicht zu und beäugte es kurz kritisch von oben bis unten herab. „Hi, mein Name ist Vroni. Freut mich, dich kennenzulernen. Bist du neu in der Stadt?" Vroni und die Neue aus meiner Schule gaben sich die Hand. „Ich heiße Mary und bin vor ein paar Tagen in dieses Dorf gezogen. Aber viel wichtiger ist, was kannst du uns heute zum Frühstück empfehlen?" Marys weiße Zähne funkelten, als sie Vroni ansah, die ihr zuzwinkerte. „Mit deiner frechen Art wirst du hier überleben.", prophezeite sie Mary. „Also ich hab frisch gebrühten Kaffee in der Kanne und bin gerade dabei gewesen, ein paar Sandwiches zu machen. Wie klingt das?"

„Perfekt.", sagten Mary und ich im Chor und lachten auf, da wir beide im selben Moment das Gleiche gedacht hatten. „Dann macht es euch gemütlich und ich bin gleich wieder zurück." Das ließen wir uns nicht zweimal sagen und wir ließen uns gemeinsam auf einem der Sofas nieder. Mary lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Es riecht so gut hier." „Meinst du das Essen oder das Meer?", rutschte es mir plötzlich heraus und ich sah errötend zu Seite. Was hatte ich hier gerade getan? Mary öffnete ihre Augen und grinste. „Da scheint wohl jemand Konter geben zu können. Aber ich meinte das Meer, obwohl der Duft aus der Küche mir das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt."

Schüchtern wandte ich ihr meinen Blick zu und kratzte mich verlegen am Hinterkopf. „Meine Mutter rügt mich immer für mein vorlautes Mundwerk." „Und meine bestärkt mich darin, eines zu haben.", gestand Mary und sah nachdenklich hinunter zu dem Pfad, der zum Strand führte. „Ich weiß nicht, was sie hier eigentlich will. Sie ist eine Großstadtpflanze und sie ist nur der Liebe wegen hierher in dieses Kaff gezogen." Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, tauchte Vroni mit zwei dick belegten Sandwiches und zwei Kaffee vor unserem Tisch auf. „So bitteschön, meine Damen. Lasst es euch schmecken und erzählt vielen davon, wie gut es hier schmeckt. Ich brauche unbedingt mehr Gäste wie euch.", bat sie uns mit einem schelmischen Funkeln in den Augen, als sie die Leckereien vor uns abstellte.

„Danke dir.", sagte ich und Mary nickte zustimmend, als wir uns über die Sandwiches hermachten. So aßen wir schweigend und genüsslich schmatzend im Schneidersitz auf dem Sofa. Mary sah verstohlen zu mir hinüber und musste ein Lachen unterdrücken. „Wasch isch?", fragte ich sie vorwurfsvoll mit vollem Mund und trank einen Schluck Kaffee, um das Sandwich leichter in meinen Magen befördern zu können. „Du siehst aus wie ein Hamster mit vollen Wangen.", grunzte sie, als für einen Moment den Mund frei hatte und nochmals in Sandwich biss. „Hattest du kein Frühstück?" Ich schüttelte den Kopf. „Dahür hatte isch keine Zeitsch.", entgegnete ich ihr mit vollem Mund nicht allzu unverständlich. „Und dusch?"

Mary neigte den Kopf zur Seite. „Ich bin immer offen für ein zweites Frühstück. Sieht man mir hoffentlich nicht an." „Ein bisschen vielleicht.", neckte ich sie und deutete auf ihren Bauch. Mit großen Augen schaute sie mich an. „Das hast du jetzt nicht gesagt." Ich zuckte mit den Schultern und mein Gesicht spiegelte die reine Unschuld wieder. „Das würde ich doch nie wagen. Ich kenne dich doch erst seit einer halben Stunde, Mary."

Mary wackelte daraufhin verschwörerisch mit ihren Augen und ein warmes Gefühl durchdrang meine Magengegend. Ich konnte nicht sagen, weshalb, aber ich fühlte mich in ihrer Nähe wohl. Einerseits hatte sie diese Wildheit in ihrem Äußeren, jedoch ihr Innerstes schien warm durch ihre Augen, die von diesen kühlen, weißblonden Haaren eingerahmt wurden. Ich mochte diesen Kontrast und fühlte mich zu ihr hingezogen. So hatte ich mich zuvor noch nie gefühlt und dabei hatte ich sie gerade erst kennengelernt.

„Was machen wir nach unserem Frühstück?", fragte mich Mary mit einem Mal. Überrascht sah ich sie an. „Das ist eine gute Frage.", murmelte ich im ersten Moment ausweichend. Darüber hatte ich mir doch noch gar keine Gedanken gemacht. „Lass uns zum Strand gehen. Ich bin erst einmal in meinem Leben am Meer gewesen und das als kleines Kind. Ich kann mich also kaum daran erinnern.", schlug Mary vor und blickte sehnsüchtig zu dem kleinen Trampelpfad, der zum Strand führte. Ich sah in dieselbe Richtung und zuckte mir den Schultern. „Ja, warum nicht?", stimmte ich ihr zu und musste unwillkürlich lächeln, als ich sah, wie sich ihre Mundwinkel hoben.

„Dann ist es abgemacht. Wie machen wir das mit dem Bezahlen?", fragte sie mich unumwunden. Meine Augenbrauen sprangen in die Höhe. Mary hatte es wohl sehr eilig zum Strand zu kommen. Ich musste lachen. Ehe mich versah, bot ich ihr an, die Rechnung zu übernehmen. „Ich zahle für uns beide." Doch Mary winkte diesen Vorschlag ab. „Ich bestehe darauf, für uns zu zahlen. Immerhin habe ich dich dazu verdonnert, mit mir hierherzukommen." Das war in gewisser Weise auch wieder wahr. „Weißt du, ich arbeite hier und Vroni gewährt mir immer einen Mitarbeiterrabatt.", raunte ich Mary verschwörerisch zu. „Ach, dann habe ich kein schlechtes Gewissen, wenn du für mich zahlst.", entgegnete sie mir und streckte mir frech die Zunge heraus.

Als hätte Vroni geahnt, stand sie plötzlich mit der Rechnung vor uns. „Ihr seht so aus, als wolltet ihr weiter ziehen. Hat es euch geschmeckt?" Wir nickten und zum Erstaunen von Vroni zahlte ich die Rechnung. „Das ist aber großzügig von dir." Jedoch schüttelte ich nur mit dem Kopf. „Nein, großzügig von dir, dass mein nächstes Frühstück umsonst sein wird." Skeptisch sah Vroni mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an und ich bemerkte, dass mein Mundwerk mal wieder schneller als mein Verstand gewesen war. Peinlich berührt erröteten meine Wangen. „Vroni, also ich meine...", stammelte ich vor mich hin, aber sie winkte grinsend ab. „Ich spaße doch nur mit dir." Sie zwinkerte uns zu und räumte den Tisch ab. „Dann genießt euren freien Tag. Wir sehen uns dann morgen, Vivi."

„Danke dir. Wenn meine Ma anruft..." Den Satz ließ ich bewusst in der Luft hängen. „Ja, ja, ich weiß von nichts.", erklärte Vroni lapidar und scheuchte uns davon. „Dann dürft ihr hier aber auch nicht auf frischer Tat ertappt werden. In zehn Minuten wird Gerald von der Tankstelle kommen. Seiner Nachtschicht kommt er immer hier vorbei, um..." An dieser Stelle unterbrach ich sie und beendete ihren Satz an ihrer statt: „Um mit dir zu flirten." Entsetzt starrte mich Vroni an und ihre Wangen färbten sich verdächtig rot. „Vivi, das hast du jetzt gesagt." „Aber es ist doch wahr.", hielt ich dagegen und erhob mich gemeinsam mit Mary, die neugierig zwischen uns hin und her blickte. „Vielleicht ist so eine Kleinstadt doch nicht so langweilig, wie ich dachte.", kommentierte sie den kleinen Schlagabtausch zwischen mir und meiner Chefin.

Vroni warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ihr könnt jetzt gehen. Wegen dir bekomme ich noch graue Haare." Mary lächelte und konnte eine Bemerkung nicht verkneifen. „Aber die hast du doch schon." Bevor Vroni dagegen etwas einwenden konnte, packte Mary meine Hand und zog mich glucksend davon. „Auf Wiedersehen.", riefen wir ihr im Gehen zu und sie schüttelte nur schmunzelnd den Kopf über unser unverschämtes Auftreten. Gemeinsam gingen wir den Trampelpfad zum Strand.

„Du kannst meine Hand jetzt loslassen, wenn du magst.", sagte Mary mit einem Mal in die Stille hinein, als wir ein paar Schritte gegangen waren. Ich sah hinab zu unseren Händen und riss mich abrupt von ihrer Hand los, als hätte ich mich an ihrer verbrannt. Meinen Kopf wandte ich verlegen zur Seite. „'Tschuldigung.", murmelte ich und fragte mich, warum ich ihre Hand nicht früher losgelassen hatte. Mein Fahrrad hatten wir beim Café zurückgelassen, da der Weg zu uneben war, um ihn mit dem Rad zurückzulegen. Außerdem war der Strand nur ein paar hunderte Meter entfernt von dem Café.

„Ich meine, so schlimm hat sich das jetzt auch nicht angefühlt.", witzelte Mary und wieder trafen mich ihre Augen, die in diesem Moment eine unglaubliche Wärme ausstrahlten. Irgendetwas schien Mary in meinem Schweigen auf ihre Neckerei gefühlt zu haben, denn unversehens griff sie wieder nach meiner Hand. Vielleicht wollte sie mir durch diese Geste über meine Verlegenheit hinweg helfen. „Lass uns jetzt zum Strand gehen. Es ist solange her, dass ich das Meer gesehen habe.", wiederholte sie sich zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit. Sie schien wirklich bestrebt zu sein, das Meer und den Strand endlich zu Gesicht zu bekommen, sodass sie sogar begann, an meiner Hand zu ziehen, damit ich schneller lief. Der salzige Geruch war überdeutlich wahrnehmbar und auch das Rauschen der Wellen waren zu hören. Aufgeregt grinste sie mich und ließ es sich nicht nehmen, mich dazu zu drängen, die letzten Meter rennend zurückzulegen.

„Wow!", rief sie aus, als das aufgewühlte, kühle Nasse und der mit Muscheln übersäte Nordseestrand in ihr Blickfeld trat. „Warum ist das Meer so weit weg?", war die nächste Frage, die sie mir stellte, denn das Wasser hatte sich weit zurückgezogen. Wir mussten noch ein Stück laufen, um tatsächlich am Wasser zu sein. „Ich vermute mal, dass Ebbe ist." Für mich war dieses Phänomen so normal, wie die Tatsache, dass ich morgens vor der Schule meistens das Frühstück ausließ, um länger schlafen zu können. „Ach ja, da war ja was.", entschuldigte sie ihre eigene Unwissenheit und legte den Kopf schief. Ein warmes Gefühl umfing mein Herz. Wie konnte ein Mensch nur so strahlen und sich so dunkel kleiden?

Wieder packte sie wie selbstverständlich meine Hand und zog mich weiter, bis wir am Wasser angelangt waren. Augenblicklich zog sie ihre schweren Stiefel und Socken aus und krempelte ihre Hosenbeine hoch. „Was hast du vor?", fragte ich sie. „Ich möchte das Wasser spüren.", erklärte sie mir und ihre kindliche Begeisterung steckte mich an. Der Anblick der Nordsee hatte schon lange keine solche Freude mehr bei mir geweckt, denn ich hatte das Meer mein ganzes Leben quasi vor meiner Haustür gehabt. Also folgte ich ihrem Beispiel und gemeinsam wateten wir in durch den Schlamm des Wattenmeeres hin zum Wasser. Händchenhalten mit unseren Schuhpaaren in der anderen Hand. „Das fühlt sich an, als würde man durch eine kräftige Suppe stapfen." Fasziniert sah Mary hinab zu ihren Füßen. „Und ich produziere Furzgeräusche. Hörst du das?" Mehrmals stampfte sie auf und ab, um mir diese in ihren Augen bahnbrechende Entdeckung zu demonstrieren. Ich tat es ihr nach. „Pass aber auf, dass du nicht stecken bleibst.", warnte ich sie. „Dann kannst du mich ja aus dem Matsch ziehen.", lautete ihre Lösung für dieses Problem. „Mist, meine Jeans sind heruntergerutscht."

„Ups.", entfuhr es mir und wir lachten über ihre matschige Jeans. „Ich hoffe, die war nicht teuer." Mary verneinte. „Ehrlich gesagt, ist meine Jeans Secondhandware." Nochmals musterte ich ihre zerrissene, schwarze Jeans. „Das hätte ich nicht gedacht. Die sieht ziemlich neu aus." Augenzwinkernd sah Mary mich von der Seite her an. „Der Schein täuscht. Oh, da ist es endlich. Das Meer. Hat ja auch nur eine halbe Ewigkeit gedauert." Mit dreckiger Jeans eilte sie auf das kühle Wasser zu. Dabei ließ sie meine Hand los, als mit einem Sprung ins Wasser das Meer für sich eroberte. Ich kam nicht umhin, es ihr nach zu tun. „Das fühlt sich fantastisch an. Aber es ist auch verdammt kalt. Baden kann man darin noch nicht.", lautete schließlich ihr Urteil. Ihre und meine Hosenbeine waren innerhalb kürzester Zeit bis zur Hüfte durchnässt. Es dauerte nicht allzu lange, bis wir uns entschlossen, zum Strand zurückzukehren.

Es war Anfang Frühling, sodass es weder zu kalt noch zu warm draußen war, doch ein bisschen fror ich schon, als der Seewind um meine nackten Füße pfiff. Wir suchten uns ein vor dem Wind geschütztes Plätzchen zwischen den Dünen, um unsere Hosen zu trockenen. „Das kann ja eine Weile dauern.", sagte Mary lachend und sah auf ihre sandverkrustete Hose hinab. Ich nickte ihr entschuldigend zu. „Immerhin kann ich diese Zeit in bester Gesellschaft verbringen." Ihr warmes Lächeln ließ mein Herz aufblühen, doch ich wusste auf dieses Kompliment hin nichts zu erwidern. Eine Weile hörten wir den Wind nur aufheulen und sahen, wie der Sand von diesem hin und her getrieben wurde. Der blaue Himmel erhielt vereinzelte Wolken und in meinem Nacken begann es, zu zwicken.

„Es wird bald regnen.", sagte ich mit einem Mal in die angenehme Stille hinein. Ich wandte meinen Kopf zur Seite. Mary hielt ihren Blick auf die Szenerie vor sich gerichtet und schien darin völlig versunken. Also räusperte ich mich. Erschrocken fuhr ihr Kopf herum. „Ja?" Unwillkürlich grinste ich. „Ich sagte, dass es bald regnen wird. Wir sollten von hier verschwinden." Darauf schürzte sie die Lippen und in mir kam das Bedürfnis auf, über diese mit dem Zeigefinger sanft fahren zu wollen. Was hatte ich nur für Gedanken? So kannte ich mich selbst gar nicht. Ob Mary solche Gedanken auch durch den Kopf gingen?

„Wo können wir hin, wo es niemanden stört, dass wir die Schule geschwänzt haben?", fragte mich Mary seufzend. Sehnsüchtig sah sie nochmals zum Meer. Sie wollte noch nicht fort. „So viele Wolken sind doch auch eigentlich gar nicht am Himmel. Könnten wir nicht...?" Entschieden schüttelte ich den Kopf. „Das Wetter an der See ändert sich schneller, als man denkt. Ich habe eine Idee. Ein paar hundert Meter von hier entfernt steht auf einem Feld eine verlassene Scheune. Sie ist zwar undicht, aber sie ist der Hotspot für alle Jugendlichen hier. Es stehen dort ein paar Sofas und Sessel herum und Snacks und Getränke finden sich dort auch." Leicht erröteten meine Wangen, als ich an den eigentlichen Zweck der Scheune dachte. An den Grund, warum sie existierte. Aber ich kam gar nicht dazu, weitere Erklärungen zu tätigen, denn da setzte auch schon der Regen ein. Eilig sprangen wir auf und ich packte wie selbstverständlich ihre Hand, um sie hinter mir herzuziehen. Mit unseren Schuhen in der Hand rannten wir barfuß zurück zu dem kleinen Pfad, aber ich wählte einen anderen Pfad, der von diesem abzweigte. Wir rannten landeinwärts, während der Regen sich von seiner tröpfelnden Form zu einem gewaltigen Monsun verdichtete. Mary kreischte auf und hielt sich die Hand mit den Schuhen über den Kopf.

Nach ein paar Minuten kam endlich die Scheune in Sicht, die aus dem dichten, hohen Gras herausragte. Rot und verwittert wirkte sie zwar, aber das Innere hieß uns dafür umso mehr willkommen. Mit hastigen Bewegungen entriegelte ich die Tür und ich Mary zwängten uns durch den schmalen Spalt, da die Tür sich nicht vollständig öffnen ließ. Dafür war sie einfach zu schwer. „Geschafft.", stellte Mary schwer atmend fest und ließ sich in eines der Sofa sinken. „Ich kann nicht mehr. Sport war noch nie meine Stärke. Ist da Wetter hier immer so launisch?" Im Laufen nickte ich ihr zu. Bevor ich mich neben sie ins Sofa sinken ließ, besorgte ich uns eine große Decke, zwei Dosen zimmerwarmer Cola und eine ungeöffnete Tüte Chips. Bei meinem nächsten Besuch hier würde ich den Vorrat wieder mit Getränken und Snacks aufstocken.

„So jetzt können wir uns aufwärmen. Was... tust du da?" Gerade war ich mit vollen Händen zurückgekehrt, als Mary anfing, ihre nassen Sachen von ihrem Körper abzustreifen. „Ich erfriere doch, wenn ich mich nicht aus dieser Kälte und Nässe befreie. Du solltest es mir gleich tun." Mit hochrotem Kopf und trockenem Mund nickte ich und kam nicht umhin, ihren schlanken, beinahe drahtig wirkenden Körper mit Blicken zu mustern. Jetzt stand sie vor mir bis auf die Unterwäsche entkleidet und hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt. Mit einer hochgezogenen Augenbraue betrachtete sie mich. „Worauf wartest du denn noch? Vor mir musst du keine falsche Scham haben." Jetzt war sie wieder die aufmüpfige Neue an der Schule, so wie sie sich mir am Morgen bei unserer ersten Begegnung präsentiert hatte. Ihre Augen funkelten herausfordernd.

Langsam löste ich mich aus der Starre und legte die Sachen auf dem Sofa ab. Ich kam ja doch nicht darum, mich ebenfalls ausziehen, vor allem da ich bereits zu zittern begonnen hatte. Währenddessen starrte ich unentwegt auf den Boden und begab mich direkt zum Sofa, wo sich Mary bereits in die Decke gekuschelt hatte. Leider hatte ich in der Scheune auf die Schnelle keine weitere Decke finden können. Unter der dicken Wolldecke war es warm und behaglich und Mary rückte so nah an mich heran, dass unsere Haut sich warm berührte. Atmen konnte ich in ihrer Gegenwart nur unregelmäßig und meine Hände wurden feucht. Ich befürchtete, dass sie meinen vor Aufregung pochenden Herzschlag ebenfalls so deutlich wahrnahm, wie ich es tat.

Laut prasselte der Regen auf das Dach der Scheune und laut schlugen ein paar Tropfen in einen Metalleimer, der für einen solchen Fall aufgestellt worden war. Unter den kleinen Löchern und in Ritzen waren auf dem Boden Aufhangbehälter gestellt worden, damit der Regen den Boden nicht durchnässte. Ein lautes Knistern ließ mich plötzlich zur Mary herumfahren, die die Tüte Chips geöffnet hatte. „Ist das ok? Ich habe Hunger.", kommentierte sie ihre Handlung und schmunzelte. „Du siehst so aus, als wäre dein Hund überfahren worden." Langsam nickte ich und sammelte mich wieder. „Wie fühlst du dich?"

„Weniger nervös, als du es offenbar bist." Ihre Augen glitzerten amüsiert. „Wenn ich mir diese Scheune hier so ansehe, werde ich das Gefühl nicht los, dass das hier ein geheimes Liebesnest ist. Liege ich mit meiner Vermutung richtig?" Einen kurzen Moment hielt ich die Luft an und zog die Decke bis unter mein Kinn. Ihre Augen hatten etwas Anziehendes, aber auch Beunruhigendes an sich. „Ja, hier trifft man sich, wenn man ungestört sein möchte. Es gibt auch ein Schild, das man draußen an der Tür anbringen kann..." Weiter kam ich nicht, denn plötzlich war ihr Gesicht dem meinem ganz nah. „Du hast schöne Augen.", murmelte sie. „Und wenn du verunsichert bist, sind deine Wangen immer verräterisch rot. Ich finde das irgendwie süß. Sag mal, hast du hier in der Scheune schon mal...?" Sie ließ den Satz in der Luft hängen, aber ich wusste, was sie meinte. Hektisch schüttelte ich den Kopf. Was dachte sie nur von mir? Sie lachte und zog sich von mir zurück.

„Hast du schon mal eine Frau geküsst?", fragte sie mich plötzlich ganz ungeniert. Dabei sah sie hinauf zum Dach der Scheune. Worauf wollte sie mit der Frage hinaus? „Ich bin ungeküsst.", flüsterte ich nach einer Weile in die merkwürdige Stille zwischen uns hinein. Nun drehte ihr Kopf sich in meine Richtung und sie strahlte mich an. Ihre Augenbrauen wackelten. „Dann könnte ich ja tatsächlich dein erster Kuss sein." Für einen Augenblick spielte sich eine Szene vor meinem inneren Auge ab, wie sie mich küssen würde. In Wirklichkeit geschah jedoch nichts dergleichen. „Nicht heute.", raunte sie mir augenzwinkernd zu und griff nach meiner Hand. „Nicht heute. Jetzt, wo ich weiß, dass es dich gibt, kann ich mir sogar vorstellen, morgen zur Schule zu gehen."

Ihr Kopf legte sich auf meine Schulter und mein Körper versteifte sich. Sogleich entspannte ich mich aber wieder und zog die Decke enger um uns, damit wir uns weiterhin aufwärmen konnten. Der Regen würde bald vorüber sein. Nur das Knistern der Chipstüte und das Zischen der Coladosen waren zu hören. Ich fühlte mich wohl in ihrer Gegenwart. Wenngleich mir tausend Gedanken durch den Kopf gingen, was das hier wohl zu bedeuten hätte, beschloss ich, einfach nur zu fühlen. Ich wusste nicht, was morgen sein würde, aber das hatte ich heute Morgen ja auch nicht gewusst. Mit dem Geschmack eines Abenteuers im Mund schloss ich meine Augen und grinste zufrieden. Am nächsten Tag würde ich wenigstens einen guten Grund haben, zur Schule zu gehen.

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