Kapitel 1
Völlig erschöpft betrat ich die Küche. Ich hatte heute den ganzen Tag keine Minute gefunden, mich um meinen Magen zu kümmern. Als ich den Deckel des Suppentopfes anhob, war ich nicht überrascht, dass wieder mal nichts für mich übrig geblieben war. Ich hörte die Tür ins Schloss fallen und wie meine Stiefmutter sich neben mich stellte. Ich schluckte und legte den Deckel wieder auf dem Topf. „Tja, Kleine, wärst du früher gekommen ...", fing sie an.
Dafür, dass ich nach der Schule auch noch arbeiten musste, kümmerte es ihr ein Scheiß, ob ich erschöpft war oder verhungerte.
„Was soll ich sagen? Mein Chef hielt mich auf, bis alle Kunden gegangen waren. Ich musste für meine Kollegin einspringen, weil sie nicht da war, und du wusstest das. Jedes Mal, wenn ich einen harten Tag hatte, bestreust du es zusätzlich mit Salz. Ich hab's satt!", motzte ich. Sie starrte mich drohend an und hob ihre rechte Augenbraue in die Höhe.
„Deswegen habe ich dir oft geraten, die Schule abzubrechen. Als Verkäuferin verdienst du gut und du wirst nicht überfordert sein. Andere Leute schaffen es auch, nur du bist etwas schwach. Ah ja, den zusammengepackten Koffer in deinem Zimmer habe ich nicht übersehen. Du musst dich nicht bemühen und ihn jede Woche packen, wenn wir mal eine Auseinandersetzung haben. Es ist in jeder Familie normal, dass es hin und wieder mal Streitereien gibt", erklärte sie als wäre ich ein Kind.
„Nein, diesmal habe ich wirklich vor, von hier wegzuziehen!", verkündete ich.
Sie lachte. „Wohin? Zu deiner verkorksten Mutter? Sie hat dich doch schon längst aufgegeben."
Mein Appetit war vergangen und ich ging an ihr vorbei zu meinem Zimmer. Es war hoffnungslos mit ihr zu diskutieren, sie provozierte mich nur.
Meine Schränke waren offen. Nicht nur vom Nachtkästchen, sondern auch vom Kleiderschrank. Sie hatte wieder mein Taschengeld genommen, was Vater mir gestern in die Hand gedrückt hatte. Sie fand es zu viel, dass mein Vater mich neben meinem Job auch mit Taschengeld unterstützte. Ich wollte schon lange den Führerschein machen, deshalb war mir das so wichtig.
Mein Vater hatte Geld, sogar genug Geld, aber ich wollte nicht von ihm abhängig werden. Dass er mich hier wohnen ließ, war schon genug für mich. Meine Stiefmutter würde ihn verlassen, wenn er mein Führerschein bezahlen würde.
Als ich sechzehn wurde, verließ mein Vater meine Mutter und mich für eine bessere Familie. Er wollte schon immer einen Sohn, aber als er rausfand, dass meine Mutter nach all den Jahren keine Kinder mehr bekommen konnte, entschied er sich für eine andere jüngere Frau. Und so fing meine Mutter an, sich zu betrinken. Sie trank jeden Tag und ihr war es egal, ob ich was dagegen hatte. Ihr war alles scheißegal. Meine Schulnoten, ob ich zur Schule gehe oder ob ich was gegessen habe. Sie hatte sogar mit dem Kochen aufgehört und hatte einmal am Tag Essen bestellt, obwohl sie natürlich auch von der Arbeit gekündigt war.
Natürlich hatte ich Mitleid mit ihr. Ich hatte auch versucht, ihr zu helfen, sie aufzuheitern, aber nichts hatte hingehauen.
Nach fast zehn Monaten hatte ich es auch schon satt. Ich erkannte sie nicht mehr. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass eine Frau ihren Mann so sehr lieben konnte, dass sie nicht mal leben wollte, weil er nicht da war. Für sie war alles um sie herum nichts wert.
Später fing sie an, alles auf mich zu schieben. Sie meinte, es wäre nicht passiert, wenn ich ein Junge gewesen wäre und dass Mädchen wertlos sind.
Mich überforderte das Ganze und ich fing an, jeden Tag zu weinen, weil sie ihre Wut Tag für Tag mehr an mich ausließ. Sie hasste mich.
So entschied ich, ein paar Tage bei meiner Freundin zu übernachten, damit meine Mutter Ruhe bekam.
Statt ein paar Tage wurden es Wochen, weil meine Mutter nicht wollte, dass ich heimkam. Sie meinte, sie bräuchte noch Wochen, um sich zu fassen. Ich hatte mich gegenüber meiner Freundin geschämt, ich wollte ihr keine Umstände machen. Und so, wie sie war, überredete sie mich noch zu bleiben. Sie meinte, es machte ihr Spaß, wenn ich bei ihr war. Da Emma keine Schwester hatte wie ich, verstanden wir uns wie Schwestern.
Dann gab es noch Eric, einer der beliebtesten Schüler an der Schule. Eric war die Liebe meines Lebens. Wir waren über 5 Monate verliebt, dann fragte er mich, ob ich seine Freundin sein wolle.
In dem Moment war ich das glücklichste Mädchen überhaupt. Er hatte mich von all meinen Problemen abgelenkt. Er hatte mich seinen Freunden vorgestellt und wir hatten echt viel Spaß.
Ein Junge, ein bestimmter Junge namens Thiago war Eric sehr wichtig. Er war sein bester Freund und egal was war, er hatte ihn vorgezogen.
Es kam oft vor, dass er sagte, dass Thiago ihn im Moment bräuchte und er losmüsse. Da fing es an, dass er wegen Thiago nie Zeit für mich fand. Klar vielleicht hatte dieser Thiago ja Probleme oder Sonstiges aber doch nicht jeden Tag?!
Er regte mich so auf. Ich hatte das Gefühl, als würde Thiago das mit Absicht machen. Ich hatte fast nie ein Wort mit ihm geredet, weil er mich nicht interessierte. Auch wenn er der beste Freund von Eric war, war er der einzige, den ich in Erics Freundeskreis nicht mochte.
Jedenfalls wurde ich endlich von meiner Mutter angerufen, weil sie wollte, dass ich endlich heimkäme. Das wurde aber auch wirklich Zeit nach fünf Wochen.
Erleichtert betrat ich unser Haus. Mit angeschwollenen rot untergelaufenen Augen kam sie auf mich zu. Ich starrte sie steif an und wusste nicht, was weiter passierte.
„Schatz, ich habe meine Entscheidung getroffen und finde, du solltest zu deinem Vater nach New York ziehen", sagte sie. Es dauerte, bis diese Information bei mir ankam.
Nach einer halben Minute fassungslosen Schweigen kam ich zu Wort: „Was?"
Tränen sammelten sich in meinen Augen und ich schluckte. „Mama, das kannst du mir nicht antun!"
Sie wollte mich am Kopf streicheln, aber ich wich zurück. „Es tut mir leid, Schatz, aber ich kann für dich nicht sorgen. Ich kann das alles nicht. Ich habe kein Job, kein gar nichts, wie soll ich dich versorgen?", redete sie.
Wieso versuchte sie es nicht? Wieso hörte sie nicht auf meinem Vater hinterher zu weinen und veränderte endlich ihr Leben, anstatt mich wegschicken zu wollen? Sie könnte aufhören zu trinken und wieder einen neuen Job suchen. Ich verstand das nicht. Alles fühlte sich fremd und beängstigend an.
„Du willst mich weghaben?", fragte ich lapidar.
Sie schüttelte leicht ihren Kopf und starte mir tief in die Augen.
„Ich hole dich wieder zurück, wenn es mir besser geht. Wenn ich mein Leben wieder im Griff bekomme. Versprochen!", versprach sie und drückte sanft das Flugticket in meine Hand.
Was hatte ich für eine Wahl?
Wütend schrieb ich meinen Freunden und Eric eine Nachricht, dass ich nicht mehr wieder käme, und stieg schließlich in den Flieger.
Ich war am Boden zerstört. Ich musste jeden verlassen. Doch eines versprach mir Eric, nämlich, dass wir eine Fernbeziehung führen werden.
∞∞∞
Über ein Jahr verbrachte ich schon hier. Ich vermisste meine Mutter jeden Tag. Das Leben hier mit meiner Stiefmutter und meinen Zwillingsstiefbrüdern, die mittlerweile schon ein Jahr alt waren, machte es auch nicht einfacher. Jede Nacht musste ich aufstehen und ihnen Flaschen geben. Ständig Windeln wechseln und wenn ich mal zu Hause war, auf ihnen aufpassen. Es fiel mir nicht schwer, das alles zu tun, und ich tat es meinen Vater zuliebe. Jedoch juckte mich die Undankbarkeit von meiner Stiefmutter, die ständig an mir Vorwürfe suchte. Sie hielt es für selbstverständlich, dass ich ihre zwei Söhne aufzog, während sie öfters zu einigen Partys eingeladen wurde und immer nur am Feiern war.
Sie machte immer ein Drama draus, als ich sagte, dass ich zu meiner Mutter zurückwollte und ich ihr Leben im Griff bekommen wollte. Sie spielte vor meinem Vater die Frau, die mich so sehr ins Herz geschlossen hatte, dabei hasste sie mich abartig und wollte mich nur als ihre Sklavin haben, sie brauchte mich weiter als Babysitterin und Putzfrau.
Seit zwei Monaten hatte ich den heutigen Termin festgelegt und mir bereits ein Flugticket gekauft. Gestern in der Nacht wurde das Thema mit meinem Vater schon durchgesprochen. Natürlich wollte er, dass ich noch bleibe, aber diesmal konnte er mich nicht mehr überreden dazubleiben. Es fühlte sich richtig an, endlich meine Mutter, meine Freunde und meinen Freund wieder zu sehen.
∞∞∞
Mein Flugzeug landete, ich stieg erleichtert aus und holte noch meinen Koffer ab.
Meine Mutter hatte zwar was dagegen, dass ich zurückkäme, aber ich habe viele Erfahrungen gesammelt und mich dazu entschlossen, ihr zu helfen. Ich möchte und werde sie nie im Stich lassen, so wie sie mich damals im Stich gelassen hatte.
Ich atmete tief durch und freute mich wieder mal auf ein neues Leben.
Suchend blickte ich herum, denn Eric sollte ja hier sein. Er wollte mich abholen. Ich freute mich riesig drauf, ihn wiederzusehen.
Jedoch entdeckte ich in zehn Meter Entfernung Thiago. Ich klimperte ein paar Mal mit den Augenlidern und hoffte zu träumen.
Vielleicht wartete er auf jemand anderen, doch sein Blick schweifte suchend herum und traf auf meinen.
Bei einem Meter hielt er vor mir an und schaute mich mit seinen dunkelblauen Augen an.
Langsam zog ich meine Augenbrauen wütend zusammen und schob grantig meinen Koffer nach vorn.
„Sag mir bitte nicht, dass Eric dich geschickt hat, mich abzuholen?!", fragte ich.
Er atmete tief ein und blickte runter zu meinem Koffer. Plötzlich spürte ich ganz deutlich, dass ich hier fehl am Platz war.
„Ich freue mich auch, dich wieder zu sehen Schönheit", sagte er grinsend. Ich ignorierte, was er eben von sich gab.
„Dieser Spast hat mich ein Jahr lang nur in FaceTime gesehen und kommt nicht mal mich abzuholen? Ich habe ihn doch gestern auch angerufen und gefragt, ob er da sein wird und da schickt er einfach dich?", motzte ich weiter und schob meine lange Haarsträhne hinter dem Ohr.
„Glaub mir, ich bin gerade auch nicht froh darüber, aber wenn was dazwischenkommt, muss man einfach eine andere Lösung finden", zuckte er mit dem Schultern.
„Was hat er den so Wichtiges zu erledigen, dass er sogar mich sitzenlässt?", fragte ich und hob dabei arrogant mein Kinn. Er musterte einige Sekunden mein Gesicht und sagte: „Ein wichtiges Fußballspiel."
„So ein Idiot!", äußerte ich trocken und ging mit meinem Koffer an ihm vorbei, aber nicht ohne meinen Koffer mit den Rädern auf seinen Füßen zu rollen.
Ich hörte, wie er hinter mir zischte aber ignorierte es gekonnt.
Als ich aus dem Flughafen raus war, suchte ich ein leeres Taxi.
„Celia?! Ich bin mit dem Auto hier!", rief er mich fast aufgeholt hinter mir. Ich ignorierte ihn, so wie ich es immer tat.
Schließlich öffnete ich den Kofferraum des Taxis und wollte meinen Koffer reinlegen, ehe er nach meinem Koffer griff und mich mitsamt dem Koffer auf den Gehweg zog.
Ich befreite mich aus seinem Griff. „Denkst du wirklich, ich fahre jetzt mit dir? Dieser Idiot Eric versetzt mich und ich soll einfach mit seinem verdammten Freund fahren?"
„Ich weiß du bist wütend. Ich mache hier nichts als nur einen Gefallen für meinen besten Kumpel. Sein Coach würde ihn aus dem Team schmeißen, wenn er heute nicht zu dem Spiel aufgetaucht wäre. Er hat es versucht. Deswegen lass mich für ihn diesen einen Gefallen tun. Ich fahre dich einfach zu deiner Mutter und das war's", meinte er ernst.
Ich atmete tief durch und nickte zögernd.
Die Fahrt verlief still. Als er bei meinem Haus angehalten hatte, fragte er mich, ob meine Mutter ganz sicher zu Hause sei.
„Klar, sie muss zu Hause sein. Wie könnte sie bei meiner Ankunft nicht da sein?", fragte ich, als wäre ich mir sicher. Wir beide stiegen aus dem Auto, dann nahm er meinen Koffer aus dem Kofferraum, übergab ihn mir und setzte sich wieder ins Auto, während ich die ein paar Stufen rauf ging und vor der Haustür anhielt.
Ich drehte mich kurz um: „Ah ja und danke, dass du mich hergefahren hast!", rief ich ihm zu.
„Kein Problem!", hörte ich ihn aus dem Auto sagen, doch komischerweise fuhr er trotzdem nicht weg.
Ich klopfte schon zum vierten Mal, aber meine Mutter öffnete mir nicht die Tür. War sie nicht zu Hause? Auch ihr hatte ich doch Bescheid gegeben, dass ich heute wiederkäme. War sie etwa wegen mir abgehauen? Nein, das konnte nicht sein ...
„Mama, ich bin da. Mach die Tür auf!", rief ich misstrauisch. Es kam nichts ...
Ich blickte nach hinten zu Thiago. „Du kannst schon wegfahren, Thiago!", sagte ich, weil ich sicher nicht wollte, dass er mich so verlassen sah.
„Okay", gab er von sich und lehnte sich dennoch bei seinem Sitz zurück und beobachte mich, anstatt sein Motor zu starten und wegzufahren.
Nach zehn Minuten trat ich mit dem Fuß hastig gegen die Tür und fluchte leise. Verärgert ging ich die Treppen wieder runter, legte, ohne was zu sagen meinen Koffer wieder in Thiagos Kofferraum und stieg ein. „Fahr mich zu Eric!", befahl ich schwer atmend.
„Siehst du? Das Ganze fängt schon sehr gut an. Mein Freund, der mich versetzt und meine Mutter, die nicht zu Hause ist. Als wäre ich unnötig hergekommen. Ich rede seit Wochen, dass ich heute, genau an diesem Tag kommen werde, was machen die? Denen ist es scheißegal. Was für eine verfluchte Welt ist das? Nirgendwo bin ich Willkommen", erzählte ich richtig wütend.
Er blickte beim Fahren ab und zu zu mir, während ich vor mich hin quasselte.
„Mach dir keine Sorgen. Vielleicht ist das heute einfach nicht dein Tag oder der Tag von den anderen. Es gibt bestimmt eine Erklärung. Bei Eric gibt es sie doch schon", sagte er plötzlich.
Verwundert blickte ich zu ihm. Dass Thiago mir so was sagte? Diese zwei Jahre hatte ich nie etwas Sinnvolles von ihm gehört, andererseits haben wir auch nie miteinander geredet. Dieser Satz von ihm: Ich solle mir keine Sorgen machen ...
„Würdest du deine Freundin, die du ein Jahr lang nicht gesehen hast, für ein Fußballspiel versetzen? Ich selbst höre mich echt armselig an. Als wäre ich nur auf Eric angewiesen, aber das stimmt nicht. Andererseits hätte ich wirklich eine normale verantwortungsvolle Mutter, die sich um ihren Tochter Sorgen macht, aber wie Eric und du es ja vor einem Jahr mitbekommen habt, habe ich eine ... eine alkoholsüchtige Mutter. Könnte man sich das Leben aussuchen, Mann glaub mir, ich würde eines aussuchen, wo ich mit einer großen Familie leben kann. Eltern haben, die für ihre Kinder sorgen, Geschwister, mit denen ich als ich klein war spielen und reden konnte, aber nein ...", erzählte ich voller Emotionen.
Keine Ahnung, wieso ich ihm das alles erzähle, vielleicht weil er mir zuhörte? Weil ich verzweifelt war?
„Es tut mir leid, ich labere dich unbewusst voll an. Kurz zusammengefasst, ich bin einfach nur enttäuscht, dass meine engsten Leute für mich nicht da sind. Das ist alles", meinte ich schließlich und beruhigte mich langsam.
„Klar, verstehe ich", sagte er kurz und konzentrierte sich auf die Fahrt.
Als wir ankamen, stieg ich sofort aus dem Auto und rannte in Richtung Fußballstadion. Ich öffnete einige Minuten später die Tür zum Stadion und entdeckte Eric beim Spielen. Ich setzte mich bei der Tribüne und beobachtete ihn. Die Fußballer konzentrierten sich auf das Spiel und auf der Tribüne waren einige weitere Zuschauer.
„Eric spielt scheiße!", sagte ich kurz lächelnd, als Thiago sich neben mich setzte.
„Er ist etwas aus der Übung."
Die weiteren fünfzehn Minuten blieben wir schweigend sitzen, dann kam ich zu Wort: „Wieso spielst du kein Fußball?"
Er warf mir ein Seitenblick zu. „Spiele ich eh, nur bin ich nicht mit Eric in seiner Mannschaft."
„Hast du nicht mal Basketball gespielt?"
„Das musste ich aufgeben, denn mein Vater gefällt es lieber, wenn ich Fußball spiele."
„Hmm."
Während sein Blick nach vorne gerichtet war, beobachtete ich Thiago am überlegen. Ehrlich gesagt, dachte ich, er wäre wie Eric, dem egal war, was seine Eltern oder andere sagen und nur das tat, was ihm gefiel. Aber wie es aussah, hörte Thiago wohl auf seinem Vater.
Das Spiel endete und Eric kam die Treppen rauf in unsere Richtung, jedoch hatte er uns noch immer nicht entdeckt. Gerade als er bei uns vorbeigehen wollte, stand ich schnell auf und griff nach Erics Arm von hinten. Verwirrt drehte er sich um und schaute mir überrascht in die Augen. „Hey du Mistkerl!", sagte ich glücklich grinsend.
„Celia?!", rief Eric voller Freude und umarmte mich, so fest es ging.
Er hob mich kurz hoch und ließ mich wieder zu Boden. Mit seiner Stirn auf meiner lächelte er glücklich, dann drückte er einen Kuss auf meine Lippen.
Wir hörten Schritte hinter mir und Eric blickte rauf.
„Thiago, danke dass du sie hergefahren hast!", bedankte sich Eric.
„Klar, kein Ding!", antwortete Thiago freundlich.
„Eigentlich bin ich sauer auf dich, Eric!", meinte ich skeptisch. „Du hast mich einfach hängen lassen."
„Ich mach's wieder gut. Gehen wir was trinken? Oder besser zusammen was essen? Kommst du mit?", wendete er die letzte Frage an Thiago.
Er überlegte und blicke zuerst auf unsere verschränkten Hände dann zwischen Eric und mir.
„Ich sollte lieber heimfahren. Ich habe noch einiges zu erledigen", fand er eine Ausrede für seinen Freund.
„Ach so, wenn das so ist. Wir sehen uns dann morgen. Bis dann Kumpel!", verabschiedete sich Eric schließlich und drehte sich mit mir in Richtung Ausgangstür.
Mit meinem Koffer fuhren Eric und ich los. Während der Fahrt versuchte ich noch, meine Mutter zu erreichen. Erst bei fünftem Anruf hob sie ab und lallte: „Wer spricht?", in den Hörer.
„Du fragst, wer spricht? Bist du high, um meinen Namen am Display zu lesen?", fragte ich sie.
„Celia ... oh wann bist du denn da? Du kommst doch heute, oder?"
„Ich bin vor zwei Stunden schon angekommen, aber dich interessiert das kaum. Wo warst du, als ich an der Tür geklopft habe?", fragte ich laut.
„Ich habe geschlafen. Es tut mir leid, ich habe echt nichts gehört."
„Ja, wahrscheinlich, weil du wieder was getrunken oder sonst was hast ..."
„Ich bin da. Komm einfach heim!", meinte sie schließlich und legte einfach auf.
Jap so ist sie. Ihr ging es am Arsch vorbei.
„Ich dachte, sie wäre clean?", fragte Eric, der gerade das alles mitbekommen hatte.
„Wie es aussieht nicht. Bitte fahr mich heim. Wir können das nächste Mal essen gehen."
„Klar, wie du magst", sagte er locker.
Angekommen klopfte ich wieder an der Tür und meine verschlafene Mutter öffnete mir endlich.
„Meine wunderschöne Tochter!", sagte sie breit grinsend und umarmte mich. Sie stank abnormal nach Zigaretten und Alkohol, wobei ich innerlich angeekelt mein Gesicht verzog. Trotzdem erwiderte ich ihre Umarmung. Eric wollte meinen Koffer ins Haus tragen, aber ich erlaubte es ihm nicht.
„Gut, dann verabschiede dich von deinem Freund, ich geh mal für uns Tee kochen", meinte meine Mutter und verschwand mit dem Koffer ins Haus.
Ich wand mich zu Eric. „Mutter ist nur ein bisschen verkühlt ...", meinte ich verlegen.
„Ich freue mich, dass du wieder da bist." Er zeigte mir sein schönstes Lächeln und drückte mir ein Kuss auf die Wange, dann schaute er mir warm in die Augen. „Willkommen zurück, Celia!"
„Wenigstens einer der so was sagt!", lächelte ich mit.
„Gut, wir sehen uns morgen. Du kommst doch in die Schule, oder?"
„Höchstwahrscheinlich."
„Passt!", somit gab mir einen letzten Kuss auf den Mund, bevor er sich ins Auto setzte und wegfuhr.
Nachdem ich ins Haus eingetreten war, hatte ich es bereut, überhaupt zurückgekommen zu sein. Mutter hatte alle Vorhänge im Haus zusammengezogen und lebte hier, als wäre sie ein Vampir. Und was die Ordnung anging ... fragt mich gar nicht. Es war einfach ein Saustall, als hätten hier nur Schweine gelebt.
Ich öffnete all die Vorhänge und fing an, in den großen schwarzen Müllsack den ganzen Müllzusammen zu räumen.
Langsam ging ich die Treppen rauf und öffnete die Tür zu meinem Zimmer. Es sah genauso aus, wie ich es verlassen hatte. Wenigstens sah mein Zimmer ordentlich aus. Zwar lag hier viel Staub, aber ich war froh, dass es hier unberührt aussah.
Ich hatte ein paar Stunden gebraucht, bis ich das ganze Haus sauber geputzt hatte. Das Schlimmste war die Küche. Ich musste zwei Säcke voll Alkoholflaschen entsorgen. Mama hatte mir dabei geholfen und immer wieder ihre Entschuldigungen ausgesprochen, noch dazu weitere Ausreden gefunden, wieso das Ganze so aussah.
Ehrlich, ich dachte, meine Mutter hätte sich eine klitzekleines Bisschen geändert ... für mich geändert. Mich heute überrascht mit wenigstens einen kleinen Kuchen, aber nein ... sie hatte betrunken gepennt.
Das ganze Jahr durfte ich von meinem Vater aus nie hier her zu Besuch kommen. Andererseits hätte mich Eric besuchen können, aber er hatte anscheinend sehr viel für seine Prüfungen zu lernen, deswegen keine Zeit, mich für ein paar Tage zu besuchen. Jedoch verzeihe ich ihm immer solche Kleinigkeiten viel zu schnell. Ich hasse das an mir. Ich kann gar nicht anders, als meinen engsten Leuten schnell zu verzeihen. Ich denke, ich werde deswegen schnell enttäuscht, weil ich schnell verzeihe. Was soll man machen? Jeder hat mal eine Schwäche für irgendetwas.
∞∞∞
Am nächsten Morgen traf ich vor dem Schulgebäude meine Freundinnen. Kreischend liefen die vier Mädchen mir entgegen und umarmten mich ganz fest.
„Wir sind so froh, dass du wieder zurück bist Celia. Ohne dich war es hier so was von langweilig!", sagte Emma voller Freunde.
„Ich habe euch auch ganz doll vermisst", drückte ich sie alle in den Armen.
Wir gingen in die Cafeteria und plauderten viel.
„Und Kristina, wie läuft es denn mit Thiago? Ich habe von Eric gehört, ihr wärt zusammen", fragte ich Kristina.
„Uff wäre schön, um wahr zu sein. Aber Thiago ist so stur. Ich habe ihn nie mit einem Mädchen gesehen und bei mir zeigt er auch kein Interesse. Weißt du, wie viele Mädchen auf ihn stehen? Wundert mich nicht, mit seinen schönen blauen Augen und diesen gut gebauten Körper. Er ist einfach so heiß, so gut aussehend, dass jedes Mädchen vor ihm hinschmelzen würde. Auf jeden Fall, ich habe einmal vor Erics Augen Thiagos Hand gehalten und deswegen denkt fast jeder, wir wären zusammen", erzählte sie offen.
„Ich sag doch, er ist schwul! Heiß, aber leider schwul", meinte Rebecca lachend. Die anderen lachten mit.
„Nein, schwul ist er sicher nicht, nein er ist einfach ein Player. Er mag keine Beziehungen und hält geheim, mit wem er was hatte. Nicht so wie die anderen hier, die einfach angeben und rum erzählen, mit wem und mit wie vielen sie es hatten. Traurig. Deswegen ist Thiago so interessant. Seine geheimnisvolle Sturheit und sein Aussehen machen ihn heißer als die anderen", erklärte Emma sehr ernst.
„Du redest so, als würdest du ihn jahrelang kennen", gab ich belustigt mein Kommentar ab.
„Er ist doch der beste Freund von deinem Freund, kannst du nicht mit ihm reden?", fragte Kristina mich verzweifelt.
„Ich kann es ja versuchen, wieso nicht", zuckte ich mit den Schultern.
„Du bist die Beste. Hier hat sich keiner getraut, mit ihm zu reden. Wenn du mit ihm redest, bitte sag ihm nicht, dass ich dich geschickt habe oder so."
„Spinnst du? Natürlich nicht. Ich tu mal so, als würde ich euch verkuppeln wollen. Du bist sehr hübsch, also wieso sollte er dich nicht wollen?"
„Oh danke!"
∞∞∞
„Schön dich wieder zu sehen, Celia!", grüßte mich meine Geographielehrerin vor allen anderen Schülern im Unterricht.
„Schön auch dich zu sehen, Tante Bella!", lächelte ich sie breit an.
„Pshhht ... in der Schule immer Mrs. Andinger, schon vergessen?", fragte sie grinsend und verteilte ein paar Aufgabenzetteln an die Schüler.
Ich schmunzelte und konzentrierte mich auf den Unterricht. Meine Tante war die coolsteLehrerin. Sie war die Schwester meines Vaters.
Ein junger neuer Lehrer betrat die Klasse und überreichte meiner Tante eine Mappe. Ich beobachte sie dabei und merkte, wie sie anfingen, flüsternd zu flirten, während die Schüler sich auf ihre Aufgaben konzentrierten. Meine Tante lächelte ihn breit an und senkte schüchtern ihren Blick auf die Mappe. So kannte ich sie gar nicht. Was war mit ihr los? Sie war doch verheiratet! Mit einem Zwinkern verließ der neue Lehrer den Raum. So ein Arsch.
Bella öffnete kurz die Mappe und entdeckte einen Brief dazwischen. Oh, sie schrieben sogar Liebesbriefe?
∞∞∞
Nach der Schule konnte ich gar nicht anders als hinter dem Schulgebäude zu verschwinden und mir einen Plan auszudenken, um ins Büro von Tante Bella zu kommen. Ihr Büro ist im ersten Stock. Ich stand unter ihrem Fenster zum Lehrerzimmer, das Problem war nur, wie sollte ich da rauf kommen? Ich wusste, Bella ließ ihre Fenster immer offen. Sie unterrichtete gerade andere Schüler und das Büro müsste gerade leer sein.
Ich überlegte mir einige Minuten lang einen Plan und blickte auf dem Baum hinter mir, ließ meinen Blick langsam nach oben schweifen, nur ein kleiner Ast kam mir im Blickfeld zum Fenster, doch die Gefahr, dass der Ast brechen würde, war viel zu hoch. Plötzlich aus dem nichts entdeckte ich Thiago, der sich auf sein Motorrad setzte und sein Helm aufsetzte. Seit wann hatte er denn so ein geiles Motorrad?
„Thiago!?", rief ich laut, bevor er den Motor starten konnte. Verwirrt blickte er herum und zog seinen Helm wieder aus, als er mich hier neben dem Baum entdeckte.
Er kam langsam auf mich zu. „Was machst du hier?", fragte er mit seiner tiefen Stimme. Und zum ersten Mal sah ich ihn genauer an. Meine Freundinnen hatten recht, er sah wirklich gut aus. Er hatte mehr Muskeln bekommen als letztes Jahr. Seine dunkelblauen Augen unnormal schön, seine Wangenknochen, seine Nase, seine Lippen und seine weichen schwarzen Haare, die fast bis zu seinen Augenbrauen fielen, er sah mehr als nur perfekt aus.
„Celia?", fragte er mich und unterbrach mich vom Starren. Oh mein Gott, ich war so peinlich. Er blickte mich verwirrt an.
„Ich möchte dort rauf klettern!", zeigte ich ihm mit dem Finger zum Fenster.
„Wieso?"
„Ich muss da was nehmen. Das ist das Lehrerzimmer von Mrs. Andinger."
„Deine Tante ... ich verstehe. Was genau willst du nehmen?"
Woher wusste er, dass sie meine Tante war? Wahrscheinlich von Eric. Alles was Eric von mir wusste, wusste Thiago auch. Das störte mich. Trotzdem konnte es Eric nicht lassen, Thiago alles zu erzählen.
„Muss ich dir das sagen?"
„Wenn du meine Hilfe brauchst, dann ja!", nickte er.
„Ich muss so einen Brief nehmen. Ein Liebesbrief eines anderen Lehrers für meine Tante", erklärte ich seufzend.
„Falls du eine Spange trägst, kann ich die Tür aufschlüsseln."
„Echt? ...Ähm das wird nicht gehen, weil wir werden, dann am Flur erwischt. Das können wir echt nicht riskieren. Ich hatte die Idee auf dem Baum zu klettern und über den Ast ...", zeigte ich hin.
„Das wird niemals gehen. Der Ast wird brechen und du landest mit einem gebrochenen Fuß im Krankenhaus."
„Wie wäre es, wenn du dein geiles Motorrad herfährst, du drauf steigst und ich auf dich, dann durch das Fenster?", malte ich ernst einen Plan aus. Plötzlich fing er an zu lachen. Er lachte mich wirklich aus und zum ersten Mal sah ich ihn so lachen. Sogar seine Zähne waren richtig schön. Ahh, so ließ er also die Mädels vor ihm hinschmelzen. Wieso war er mir nie auf diese Weise aufgefallen, was hatte sich bei ihm geändert?
Ah du ... was denke ich mir die ganze Zeit? Ich habe doch einen Freund, seit wann fand ich an andere Männer etwas schön?
„Oder du fragst deine Tante, was auf dem Brief steht", schlug er vor.
Ich atmete tief durch. „Als würde sie mir das sagen", sagte ich und verschränkte am Weiterüberlegen meine Arme vor der Brust.
„Ich finde, du solltest dich in ihr Liebesleben nicht einmischen."
„Sie ist verheiratet und flirtet mit anderen, da werde ich sicher was unternehmen. Das ist echt unverschämt. Sie hat einen perfekten Mann", äußerte ich sauer.
„Auch das kannst du nicht wissen. Was bei Leuten hinter der geschlossenen Tür passiert, kann keiner wissen außer, du wohnst mit ihnen."
„Weißt du was Thiago, halt einfach deine Klappe!", gab ich hinterhältig grinsend von mir.
Er zog ein wenig seine Augenbrauen zusammen und grinste schief. „Sag mir so was nie wieder!", meinte er.
Irgendwas löste er in mir was aus, mit diesem Blick.
„Wie war den das Essen gestern mit Eric?", fragte er auf einmal.
Er hatte mich was gefragt? Thiago der voll stur war und für niemanden Interesse zeigte, fragte mich, wie gestern das Essen war? Andererseits war doch klar, dass er mit mir nett sein musste, weil ich die Freundin von seinem besten Freund war.
„Wieso fragst du?", fragte ich dennoch aus Interesse.
„Keine Ahnung, muss doch was Besonderes gewesen sein, wenn ihr euch ein Jahr lang nicht gesehen hattet."
Ich grinste ungläubig. Denkt er wirklich, ich erzähle ihm, was Eric und ich gemacht haben? Auch wenn da nichts war, was wollte er überhaupt wissen?
„Ja, genau ...", sagte ich leise und blickte zu Boden. „Ich hab's abgesagt, weil ich zuerst meine Mutter sehen wollte", sprach ich meinen Gedanken aus.
„Ich verstehe ...", sagte er nur leise zurück.
Dann blickte ich ihm wieder in die Augen. „Sag mal, seit wann reden wir zwei überhaupt so viel miteinander?"
„Vielleicht bist du ja erwachsen geworden, Celia!", lächelte er.
Ich verdrehte die Augen. „Oder du hast gelernt, netter zu sein."
„Ich war immer nett, du hast es nie gemerkt."
„Wie auch immer ... Ähhhm hast du eine Freundin?", rutschte es mir in dem Moment aus. Verdammt, klang ich blöd.
Verwirrt blickte er an mir vorbei, dann in die Augen. „Du willst wissen, ob ich eine Freundin habe?", wiederholte er meine Frage.
„Ja ... da ist meine Freundin, du kennst sie bestimmt. Kristina, sie würde echt gut zu dir passen. Ich dachte, du warst schon mal an ihr interessiert?", fragte ich unsicher.
Er biss sich auf die untere Lippe und schaute überlegen. „Nein, ich habe kein Interesse an ihr!", kam einfach so von ihm.
„Weil?"
Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und atmete tief durch. „Weil mir eine andere gefällt!"
Überrascht schaute ich ihn prüfend an. „Eine andere?"
Er nickte emotionslos. Er lügt doch nur!
„Oh ... na dann", sagte ich und wollte nicht mehr weiter fragen.
„Wie wäre es damit, ich helfe dir deine heimliche Verehrerin zu bekommen, wenn du mir hier und jetzt hilfst, den Brief zu holen", machte ich einen Vorschlag.
„Süß dein Vorschlag, aber ich schaffe es auch selber, meine heimliche Verehrerin zu bekommen und außerdem, wie kannst du wissen, dass sie nicht schon mit mir zusammen ist?", fragte er.
Gute Frage. „Keine Ahnung, weil niemand dich mit jemand gesehen hat!"
„Du bist erst gestern zurück und schon verfolgst du die Gerüchte?", fragte er und kam einen Schritt auf mich zu.
„Weißt du, du hast gerade zu viel gesprochen, nicht dass dein Mund noch müde wird, Thiago!", meinte ich mit einem kurzem gespielten süßen Grinsen.
„Du hast dich geändert! Irgendetwas ist an dir anders. Deine Haare sind länger geworden, du bist bisschen gewachsen und ...", er sprach nicht mehr weiter und blickte mir tief in die Augen.
Wollte er mich nervös machen? Ich ging einen Schritt zurück und unterbrach unseren Augenkontakt.
Und? Was wollte er weitersagen? Das meine Haut glatter geworden ist? Das wusste ich schon. Ja, bisschen gewachsen war ich, dennoch musste ich zu ihm aufblicken, weil er fast einen Kopf größer war als ich.
„Ich kann dir den Brief holen, ich bin nicht einer der im Gegenzug etwas verlangt. Wie du mich kennst, bin ich doch so nett und hilfsbereit", redete er und blickte während des Redens rauf zum Baum.
„Du willst da rauf klettern?", fragte ich erstaunt.
„Jap."
„Wenn du runterfällst, dann bin ich schuld, ja?"
„Jap!", antwortete er und kletterte langsam rauf.
„Ich hab's mir anders überlegt, Thiago. Komm da runter! Ich will nicht, dass du mit einem Knochenbruch davonkommst!", rief ich kleinlaut zu ihm rauf.
„Celia! Sei einfach leise!", zischte er und war schon fast oben. Bei dem dünnen Ast blieb er noch am Baumstamm, hielt den Ast fest um den Arm verschränkt, und mit einem Schwung sprang er zu dem fast zwei Meter entferntem Fenster und schaffte es gerade noch, auf dem Fensterbrett zu landen.
Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich mein Atem angehalten hatte, weswegen ich erleichtert auspustete.
Er betrat den Raum. „Der Brief ist in einer blauen Mappe!", rief ich noch.
„Ich denke, er ist es!", sagte er und zeigte zu mir runter.
„War er in der blauen Mappe?"
„Ja!"
„Okay, dann passt es." Ich glaub's nicht. Ich war so gespannt was in dem Brief stand. Wo ich mir dachte, er würde wieder zu dem Baum springen und runterklettern, tat er genau das Gegenteil. Er ließ sich noch mit den Händen am Fensterbrett hängen und sprang schnell runter, ehe ich auch was sagen konnte.
Mit offenem Mund blieb ich schockiert stehen, als er genau vor mir stand.
„Oh mein Gott!", äußerte ich und blickte zu seinen Füßen. Er hatte sich nichts gebrochen, obwohl er von fast fünf oder sechs Meter Höhe runtergesprungen war.
„Das runterklettern ist immer leichter als rauf zu gelangen. Hier!", streckte er mir den Brief vor die Nase.
„Ein Wunder, dass du es so heil geschafft hast", meinte ich immer noch baff.
„Starke Knochen und Muskeln, du weißt schon", grinste er.
„Danke!" Somit nahm ich den Brief in die Hand und öffnete ihn ungeduldig. „Dieser Mistkerl hat sie zu einem Date eingeladen", sagte ich nach schnellem Lesen.
„Wieso schreibt er Briefe, SMS würde doch auch gehen."
„Damit sie von ihrem Mann nicht erwischt wird. Mann, ich glaub's nicht, dass so was meine Tante macht." Ich starrte noch fassungslos auf den Brief. „Diesen Brief werde ich verbrennen, sodass sie ihn nie bekommt."
„Dann schreibt er ihr morgen einen neuen", lachte Thiago.
Ich blickte zu ihm auf und sagte: „Danke, dass du zum zweiten Mal für mich da warst. Vielleicht holen wir nach und werden gute Freunde. Wenn du mich brauchst, bin ich auch da zu helfen", sagte ich ehrlich dankbar.
„Dafür habe ich Eric", meinte er einfach eiskalt und lächelte mich am Ende doch an. Ohne ein weiteres Wort ging er zu seinem Motorrad und setzte seinen Helm auf. Ich sollte auch gehen, doch stattdessen beobachtete ich ihn wie paralysiert. Mit einem Ruck startete er das mörderische Gefährt. Das Dröhnen des Motors riss mich aus der Starre.
∞∞∞
Zuhause angekommen ließ ich mich erschöpft auf mein Bett fallen. Da kam meine Mutter ins Zimmer und starrte mich schweigend an. Verwirrt setzte ich mich wieder auf und fragte: „Ist alles in Ordnung?"
„Leider nicht. Schatz, ich bin irgendwie pleite. Ich muss mein Auto verkaufen, damit ich für uns Essen kaufen kann. Es ist zwar gut, dass wir ein eigenes Haus haben und keine Miete zahlen müssen, so wie andere Freundinnen von mir, aber trotzdem sind wir komplett am Ende", erklärte sie misslaunig.
Sie hätte das Geld sparen können, anstatt für Alkohol und Zigaretten auszugeben. Aber da ich mich mit ihr nicht wieder streiten wollte, erhob ich mich und stellte mich vor ihr hin.
„Ich werde mir einen Nebenjob suchen, damit ich dir helfen kann, aber eines sag ich dir, Mama, ich werde das nicht machen, wenn du nicht aufhörst dich zu betrinken oder Sonstiges. Merkst du denn gar nicht, dass es dich fertigmacht? Und außerdem, seit wann wurdest du wieder von der Arbeit gekündigt?", fragte ich.
Sie seufzte. „Seit zwei Wochen!"
„Wieso?"
„Wieso wohl? Weil ich oft zu spät gekommen bin. Der Kellner-Job war sowieso nichts für mich. Keine Sorge, Celia, ich bin eh schon dabei, mir einen neuen Job zu suchen", meinte sie sich sicher.
„Okay!", nickte ich nur, mehr sagte ich nicht und sie ging aus meinem Zimmer. Es war so vieles anders, als ich bei Papa gelebt habe. Er war zielstrebig und ihm fehlte es nicht an Geld. Er wusste, was er wollte. Doch bei seiner neuen Frau war er echt blind. Leider hatte mich meine Stiefmutter oft mies behandelt, als mein Vater nicht zu Hause war. Doch durch ihr, hatte ich gelernt, etwas stur zu sein. Ich ließ mir Sachen sagen, die ich früher nie jemanden erlaubt hätte. Vielleicht war ich ja schwach geworden. Es war absurd zu behaupten, dass ich das alles meine Stiefmutter zu verdanken habe, aber es war wahr.
Das Wichtigste war jetzt, dass ich meine Mutter helfen wollte. Ich wollte mit ihr durch diesen harten Weg gehen, damit wir eine bessere Zukunft haben. Ich sollte sie auch zur Therapieschicken, vielleicht könnte ihr das mehr oder weniger helfen.
Ich nahm meinen Kalender und markierte einen Tag, wo ich keinen Test hatte, und würde mit Mama zu einer Pediküre gehen, damit sie sich schön fühlte.
Mit dem Geld, was ich gespart hatte, ging ich etwas zu Essen kaufen und überraschte Mama, als sie in die Küche kam.
„Celia? Woher hast du das Geld für so was?", fragte sie überrascht und nahm sofort vor Hunger ein Bissen von dem Essen.
„Ich habe noch etwas Geld, da können wir Wochen auskommen. Hoffentlich finden wir bis dahin einen Job", redete ich. Den Gedanken an meinen Führerschein musste verschieben.
„Keine Sorge. Meine alte Freundin ... sie hat eine 5-jährige Tochter und sagte, sie suche eine Babysitterin. Vielleicht könntest du ja hingehen, du liebst doch Kinder ...", meinte sie und kaute zwischendurch ihr Essen. Ich starrte nachdenklich ins Leere. „Celia komm, fang an zu essen, es wird schon kalt", merkte sie mir an.
„Ja ... Ähm ich stimme das mit den Babysittern zu. Wann braucht sie eine?", fragte ich, als ich mich entschieden hatte.
„Ich werde sie morgen anrufen und fragen. Das freut mich, dass du Interesse zeigst, mein Schatz. Du bist ein gutes Mädchen. Seitdem du hier bist, fühle ich mich besser und das Haus sieht so freundlich aus, weil du es schön hergerichtet hast. Es tut mir leid, dass du es wegen mir so schwer hast", murmelte sie und blinzelte schnell ihre Tränen weg.
Ich lächelte sie warm an. „Wieso nicht, Mama. Wir sind doch eine Familie und da müssen wir für uns gegenseitig da sein. Obwohl, du hast mich vor einem Jahr rausgeschmissen. Hättest du das nicht getan, dann wäre ich für dich schon früher da gewesen."
„Ich wollte nicht, dass du mich so siehst. Noch dazu diese Entzugsklinik damals, hat mir null geholfen."
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