Die Wale sangen von Trauer und Abschied. Kadenz blinzelte, um die Tränen zu vertreiben. Rhapsodie war fort, ihr Herz im Trauergraben versunken. Die Welt hatte ihren hellsten Ton verloren.
Einer der Laichlinge setzte neben ihm auf. Rhapsodie hätte seinen Namen gewusst, aber sein Gedächtnis war leer. Kadenz seufzte. Es zählte nicht. Wichtig war nur, dass er ihn über eine Unkonformität informiert hatte.
»Ich verstehe das nicht«, flüsterte der Junge und schaute sich unruhig um. »Es sollte doch hier sein.«
»Wie heißt du?«, brummte Kadenz.
»Blues.«
»In Ordnung, Blues. Erzähl mir, was du gesehen hast.«
»Ich war hier am Riff, kurz bevor die Wale aufgetaucht sind. Das Wasser hatte einen Bereich gebildet und ...« Seine Stimme wurde immer leiser.
»Und?«
»Es war ein schillernder Wirbel. So etwas habe ich bisher noch nie gesehen. Alles war bunt.«
Jede Veränderung ihrer Umwelt, die mit dem Schweigen der Ersten Stimme zusammen hing, bedeutete nichts Gutes. »Und dann?«
»Ich bin zum Wrack geschwommen. Tenus und Brato waren da und ich habe sie hergeführt. Erst als das Lied erklang, bin ich zurück um mich dem Trauergesang anzuschließen.« Der Jungton drehte sich im Kreis, ließ seinen Blick schweifen. »Ich verstehe nicht, warum die Farben fort sind.«
Vermutlich hatte jemand die erste Prüfung absolviert. »Also waren nur Brato und Tenus hier?«
»Brato hat sich von der Musik vereinnahmen lassen, aber Still kam noch dazu.« Blues schüttelte sein langes Haar. »Vielleicht waren auch andere da. Nach uns.«
Das stimmte. Aria war noch nicht ausgeschieden. Vielleicht hatte sie das Problem entdeckt und behoben. Ein solches Vorgehen würde zu ihr passen, wesentlich mehr noch als zu Tenus. »Danke für deine Offenheit«, murmelte Kadenz. »Du kannst jetzt gehen.«
Blues nickte, bevor er zur Stadt zurückkehrte.
Das Meer bewegte sich ruhig und friedlich. Er könnte sich irren. Die Monotonen erzählten manchmal von bunten Bögen, die sich bildeten, wenn Licht auf Wasser traf. Niemand konnte wissen, was hier passiert war.
Kadenz sank auf ein Knie und strich mit seinen Fingern durch den Sand. Nichts.
Ein Fischschwarm schoss aus dem Riff hervor und umrundete ihn. Unzählige blaugelbe Körper, die ihn umringten. Seine Augen folgten ihrem Tanz. Obwohl das Volk nun ohne Stimme war, spielte das Meer sein ewig gleiches Lied.
Erst als sich seine Finger um einen Gegenstand schlossen, bemerkte er den Stein im Sand. Nein, es war kein Stein.
Ein Kristall? Die Oberfläche war glatt und scharfkantig. Im Inneren schien Nebel zu wogen, wie man ihn bei kalten Sonnenaufgängen über der Wasseroberfläche findet. Was war das?
Nachdenklich verstaute Kadenz den Kristall in seinem Beutel. Der Fischschwarm stob auseinander, als Kadenz mit einem Satz vom Boden abhob.
Schon aus der Entfernung erkannte Kadenz einen Pulk von Sirenen, die sich am Fuße des Riffes versammelt hatten. Ganz vorne stand Aria, die mit einem Sirenenmann diskutierte. Ihre Hände machten weit ausholende Bewegungen.
Kadenz runzelte die Stirn. Der Mann neigte seinen Kopf und offenbarte eine hohe Stirn und ausgeprägten Wangenknochen. Was besprach Aria ausgerechnet mit Still?
Lautlos landete Kadenz neben Tenus und Brato, die das Spektakel verfolgten.
»Was geht hier vor?«, fragte Kadenz.
Während Tenus zusammenzuckte, wirkte Brato nicht überrascht. »Sie streiten sich.«
Kadenz presste zwei Finger auf seine Nasenwurzel. Jungtöne waren anstrengend. »Das sehe ich. Worüber?«
»Das Riff ist beschädigt. Die Korallen sind kraftlos«, erklärte Tenus. »Still mag Arias Plan nicht.«
Wärme stieg in Kadenz Magen auf. Seine schlaue Nichte hatte also einen Plan. Langsam näherte er sich den beiden Sirenen, die im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit standen.
Still bewegte seine Hände schnell. Selbst ein angriffslustiger Stachelrochen hätte seinen Schwanz nicht derart peitschen können. Seine Nichte hingegen verkörperte kühle Ruhe.
»Onkel.« Bei Arias schlichter Begrüßung fuhr Still herum.
»Nichte«, antwortete er ebenso förmlich, bevor er sich dem jungen Mann zuwandte. »Still.«
»Ich möchte die Korallen durch eine spezielle Konstruktion absichern, damit sie wieder zu Kräften kommen«, erklärte sie knapp und deutete mit dem Kinn in Richtung Riff.
Die Tentakeln der kleinen Tiere waren blasser, als sie es sein sollten.
»Was sind deine Bedenken?«, fragte er Still.
Der hob eine Hand, wedelte mit den Fingern, die er schließlich erstarren ließ. Am Ende formte er eine Faust.
»Du denkst, die Korallen könnten sterben, wenn sie zu stark fixiert werden würden?«, übersetzte Kadenz.
Still nickte.
»Hast du einen Gegenvorschlag?«
Die Hand des jungen Mannes strich an seiner Seite hinab und berührte einen Fischhautbeutel. Für einen Moment hielt er inne, bevor er den Kopf schüttelte.
Kadenz drehte sich zu seiner Nichte um, die selbstbewusst ihre Schultern nach hinten zog. »Wirst du seine Bedenken berücksichtigen?«
»Ja, On ...« Ihr Kiefer verkrampfte sich. »Hüter«, verbesserte sie und wählte damit den Titel, der ihr eine unparteiische Bewertung versprach.
»Gut. Somit wird diese Prüfungsaufgabe Aria zugewiesen«, bestimmte Kadenz. »Möge die Blaue Mutter dich leiten.«
Arias Stimme erteilte laut und klar Anweisungen. Die Jungtöne brachten ihr Werkzeuge und Treibholz. Mit schnellen Bewegungen formte sie ein Gitter.
Ein Wal glitt über sie hinweg. Aria kniete sich neben die Korallen und verband Körper um Körper mit dem Gitter. Verfärbten sich die Korallen tatsächlich wieder dunkler?
Ein Glitzern am Boden erregte seine Aufmerksamkeit. Während seine Nichte im Krebstempo arbeitete, sank Kadenz auf den Stein hinab. Mit seinem Fuß schob er den Sand beiseite und entdeckte einen Kristall. Noch einer? In diesem brach sich kein Nebel. Er war etwas größer und wesentlich schlichter, als es sein letzter Fund gewesen war. Seine Augen glitten über den Untergrund. Jetzt, wo er darauf achtete, entdeckte er immer mehr der hellen Steine. Die angrenzenden Korallen waren eine Spur rötlicher und kräftiger. Arias Gitter hingegen schien keinen Einfluss auf die Entwicklung zu haben. Enttäuschung waberte durch seine Brust. Der Plan seiner Nichte war gut, doch er bekämpfte nur das Symptom. Jemand hatte eine Art von Dünger benutzt und die Korallen gestärkt. Die Prüfung war schon absolviert worden.
Die Sirenen wurden unruhig. Während er sich mit den Korallen befasst hatte, waren weitere Wale aufgetaucht. Delfine, Haie, Rochen – ja selbst ein paar Leuchtquallen begleiteten die Tiere.
Jemand pfiff. Aus jeder Spalte des Riffs stoben Lebewesen hervor. Winzige Seeschlangen, Muränen, Oktopusse – alles schwamm hervor.
Kadenz fing Arias Blick auf, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, als ob er ihr erklären könnte, was hier geschah.
Doch das konnte er nicht.
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