2.

Das Lied der Muschel sang vom Aufstieg der frühesten Ersten Stimme. Tenus beugte sich näher an die Schale heran und schloss die Augen, um dem Gesang des Meeres besser folgen zu können.

Sanfte Worte durchbrachen Tenus' Gedanken. »Dein Gesichtsausdruck sagt mir: Du hast einen Schatz entdeckt.«

»Es ist eine Geschichte über Nonette«, erklärte er, ohne den Kopf zu heben. »Über ihren Kampf gegen die Algenblüten.« Es war schön, dass sich Brato wieder am Riff blicken ließ. Seit die Erste Stimme die neue Ära angekündigt hatte, sahen sie sich nur noch selten. Während Tenus die Geschichten der Konzertmuscheln studierte, setzte sein Freund auf Meditation und Bewegung.

Brato stieß einen leisen Pfiff aus. »Damals hatten viele Sirenen Atemprobleme. Sind nicht sogar einige erstickt?«

Die Töne der Muschel wurden tiefer. Eine Abfolge aus Molltönen, die von Verlust und Trauer berichteten. »Ja, sogar ziemlich viele.«

Mit einem Seufzen ließ sich Brato an der Reling hinabgleiten und lehnte sich gegen das Holz. Ihre Hände verbanden sich und Tenus genoss den Moment der Ruhe. Vielleicht sollte er das Thema weniger verbissen angehen und alles auf sich zukommen lassen. Immerhin wusste niemand, nach welchen Kriterien die Blaue Mutter ihre Nachfolger auswählte. Vielleicht hatte ja tatsächlich jemand Unverkrampftes die besten Chancen?

Die Geschichte kam zum Ende und offenbarte den Weg der Ernte, mit dem Nonette das Volk gerettet hatte. Diesen Teil liebte Tenus. Er zeigte den Sieg des Geistes.

Ein dunkler Schatten glitt über sie hinweg. Tenus stupste Brato an und deutete auf das Schiff. »Was meinst du, warum die Monotonen hier sind?«

Brato legte seinen Kopf schief. »Wer kann das schon wissen. Vielleicht suchen sie einen Schatz. Oder sie spüren singenden Fabelwesen nach.«

Vorsichtig strich Tenus über die glatte Oberfläche der Muschel und erforschte die Windungen, um sie später wiederfinden zu können. »Weil es ja noch nicht genug Märchen von uns gibt.«

Das Schiff näherte sich einem Felsen und sein Anker schnitt wie eine Flosse durch das Wasser. Sand wirbelte auf, als er neben dem Riff liegen blieb. Ein kleines Schiff tauchte neben dem großen auf, kaum größer als ein Schwertwal. Mit kräftigen Ruderschlägen setzte die Mannschaft zur Insel über.

»Was immer es ist, sie scheinen es gefunden zu haben«, stellte Brato lakonisch fest, bevor er die Augen schloss und sich in die Vibration versenkte. Das Wrack leerte sich, immer mehr Sirenen wanderten ab. Ob es an dem Schiff alleine lag oder daran, dass die Nacht nicht mehr fern war, konnte Tenus nicht mit Sicherheit sagen. Schließlich waren sie alleine.

Mit seinen Fingern strich er über eine andere Muschel. Ob es sich lohnen würde, die Pause für eine weitere Geschichte zu nutzen?

Brato schlug die Augen auf. »Jemand kommt.«

Das Meer war ruhig. Niemand schien in der Nähe zu sein. Woher nahm sein Freund also diese Sicherheit?

Um sie herum tollten die Fischschwärme durch das Meer. Dann stoben sie auseinander und ließen einen Sirenenjungen durch, dessen hellblaues Haar wie ein Banner hinter ihm her wehte.

»Blues«, erklärte Brato.

»Woher wusstest du das?«

Sein Freund zuckte mit den Schultern. »Jede Sirene hat seine eigene Schwimmfrequenz. Blues' ist wilder. Unkontrollierter. Sehr leicht zu erkennen.«

Der Laichling schwamm auf das Schiff zu und zögerte. Sein Kopf bewegte sich unruhig hin und her. Mit schnellen Schwimmlängen kam er näher.

»Das Wasser ...« Blues' Stimme brach zu einem Kieksen. Er räusperte sich und setzte erneut an. »Ich war hinter dem Riff. Das Wasser dort ist komisch.«

Laichlinge erforderten immer ein hohes Maß an Geduld. Brato war wesentlich besser in diesen Dingen. »Was meinst du damit?«

»Es ist bunt. Kommt mit, ich zeige es euch.« Blues drehte bei und eilte voraus.

Für einen Moment fing Tenus' Bratos Blick ein, der jedoch nur mit den Schultern zuckte. Wer wusste schon, was der Laichling wirklich gesehen hatte. »Komm schon. Er wird keine Ruhe geben, wenn wir es uns nicht ansehen.«

Schulter an Schulter schwammen sie zum Riff. Hinter den Felsenausläufern bog der Laichling scharf ab.

Eine Strömung floss an ihnen vorbei. Das Wasser schillerte in allen Farben – von korallenrot über walblau bis orange. Es wirkte wie flüssige Musik. Alles vermischte sich und war dennoch klar erkennbar.

Eine dunkle Gestalt umrundete das Riff von der anderen Seite. Bevor Tenus die Sirene identifizieren konnte, schob sich Brato näher an ihn heran. »Still kommt.«

Der Neuankömmling näherte sich ihnen und wurde dabei immer langsamer. Seine Hand zuckte zu dem Beutel an seinem Gürtel. Still war schon immer ein Sammler gewesen. Ob er auf der Suche nach seltenen Gewächsen war?

Brato hatte sich längst wieder der bunten Erscheinung zugewandt. Gerade als Tenus dem Drang folgen wollte, es ihm gleichzutun, drehte sich Still und trat Wasser in ihre Richtung.

»He da«, beschwerte sich Blues. Die Wut des Laichlings ließ seine Stimme tiefer klingen. »Das ist ungehörig!«

Still beachtete den Jungen nicht. Seine Hand fuhr Richtung Oberfläche, an der immer mehr Schatten auftauchten. Nein, keine Schatten. Es waren Wale. Unzählige der majestätischen Kreaturen kamen auf sie zu. Sie umrundeten das Riff, wichen dem bunten Wasser aus und steuerten die Klingende Stadt an. Was ging hier vor?

Als der erste Wal ein Lied anstimmte, fuhr die Trauer der Tonlage direkt durch Tenus' Körper. Seine Muskeln spannten sich an und ohne sein Zutun bildeten sich Tränen in seinen Augen.

»Was passiert hier?«, wimmerte Blues.

Brato stimmte in das Lied ein. Steuerte einen Ton zum großen Gesang bei. »Die Erste Stimme ist vergangen. Ihr Körper versank im Trauergraben«, flüsterte Tenus. »Die Zeit der Tränen ist gekommen.«

Ohne zu antworten drehte sich Blues um und hechtete in Richtung der Klingenden Stadt. Immer mehr Sirenen tauchten über den Eingängen auf.

Das bunte Wasser lenkte Tenus ab. Was bedeutete es? Niemals zuvor hatte von so einem Phänomen gehört. Stand es im Zusammenhang mit dem Tod der Stimme? Vielleicht sogar mit den Prüfungen?

Während Brato aufstieg und einen Kreis über dem Riff drehte, kam Still näher. Der Mann trug sein Haar in mehrere Zöpfe gebunden, als ob ihm die traditionelle Frisur über Stille in seinem Leben hinwegtrösten könnte. Seine Hände bewegten sich, sprachen von Vorsicht und drohender Gefahr. Meinte er das Wasser?

Schillernde Fischschwärme stiegen aus dem Riff hervor und drehten ihre Runden über der Klingenden Stadt. Von überall stimmten Sirenen in den Walgesang mit ein. Ein Konzert der Tränen.

Tenus' Herzschlag beschleunigte, als der Takt des Liedes in seine Gliedmaßen schoss. Immer wieder flackerte sein Blick zwischen dem farbigen Wasser und den tanzenden Fischen hin und her.

Nur Still schien fest wie ein Stein im Sand verwurzelt zu sein. Niemand wusste warum er die Musik der Sirenen nicht in sich trug. Im Gegensatz zum stillen Mann pflügte Brato durch die Schwärme hindurch und begrüßte den Schmerz mit weit aufgerissenen Armen. In immer engeren Spiralen drehte er sich in Richtung Wasseroberfläche.

»Nein«, flüsterte Tenus. Was tat Brato da? Er war viel zu weit oben. Die Monotonen könnten ihn sehen.

Mit einem melodiösen Schrei warf sich Brato aus dem Wasser. Vom Boden aus konnte Tenus nur erkennen, wie sein Freund eine elegante Drehung absolvierte und wieder in das Meer eintauchte. Doch es war zu spät.

Auf dem Schiff wurden Lichter entzündet. Es dauerte nicht lange, dann sprangen die ersten Monotonen ins Wasser. Sie tauchten ein, versuchten verzweifelt die Musik zu erreichen. Brato zu erreichen.

Tenus stieß sich vom Boden ab. Der Sand wirbelte um ihn herum, als er mit kräftigen Stößen hinauf schwamm. Nichts war mehr wichtig. Als er Brato erreichte, zog er ihn auf die Klingende Stadt zu. Direkt ins Zentrum der Feier zu dem Ort, der für die Monotonen unerreichbar war.

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