1.

Die Gezeiten sangen ein Lied von Veränderungen. Rhapsodie spürte es im ganzen Körper, von den Ohrenspitzen bis zu den Schwimmhäuten zwischen ihren Zehen. Ein neues Zeitalter stand bevor.

Mit einem leisen Seufzen schwang sie ihre Beine über den Bettrand, griff nach dem Algenmantel, der schon auf dem Stuhl bereit lag und hüllte ihren Körper in den Stoff ein. Es war schade. Wie gerne hätte sie die Veränderungen kennen gelernt und die Erfahrungen weitergegeben, die sie in all den Tiden gesammelt hatte. Aber der Beginn von etwas Neuem bedingte immer auch das Ende einer Ära. Ihrer Ära.

Ein Pfiff ertönte, fragend und aufmerksam. Es gab nur eine Person, die derart viel Bedeutung in ein simples Geräusch legen konnte.

»Komm herein, Kadenz.«

Der Vorhang, der ihr Gemach vom restlichen Nestbau trennte, blähte sich, bevor Kadenz ihn zur Seite schob und eintrat. In seinen Augen lag eine Spur Traurigkeit, die nicht einmal durch ein Lächeln verschleiert werden konnte. »Wie geht es dir, Erste Stimme?«

Rhapsodie seufzte. Warum stellte er nur so eine Frage, wo er die Antwort doch kennen musste? »Das Wasser ist unbeständig. Fühlst du es nicht?«

»Ich fühle es. Ich wünschte nur ...« Kadenz trat einen Schritt näher. Die Fischhaut seines Hemdes schimmerte im Licht der fluoreszierenden Wandkristalle.

Obwohl sie gerade erst aufgestanden war, hätte sie sich am liebsten wieder hingelegt. Aber Schonung würde ihr nicht helfen. »Was wünschst du dir?«, fragte Rhapsodie leise.

»Der Gezeitenwechsel kommt zu schnell. Viel zu schnell.« Wie immer trat Kadenz an ihre rechte Seite und schob seinen kräftigen Arm unter Rhapsodies Hand. »Gerade haben wir selbst noch versucht Erste Stimme zu werden und nun wird sich der Schwarm erneut für die Prüfungen zusammenfinden.«

Sie erreichten den Balkon. Unter ihnen breitete sich die Klingende Stadt aus, vom roten Riff bis zum Trauergraben. Doch die Straßen zwischen den Höhleneingängen und dem obergründigen Jungviertel war ungewöhnlich leer. »Ein schönes Wort, mit dem du die Plagen beschreibst. Aber dieses Mal werde ich nicht teilnehmen können.«

»Genausowenig wie ich. Es ist die Zeit der Jungtöne, die gerade erst schwimmen gelernt haben.«

Rhapsodie hob ihre Finger und fuhr sanft über Kadenz' Wange. »Du warst furchtbar. Viel zu überzeugt von dir. Arrogant. Und selbstverliebt.«

Ein Mundwinkel hob sich, als Kadenz ihr sein verschmitztes Lächeln schenkte. Normalerweise hütete er es wie einen Schatz, aber jetzt vertrieb es die lähmende Müdigkeit in ihren Knochen. »Ich war nur eingeschüchtert. Von dir. Und das zurecht, wie die Tiden gezeigt haben«, murmelte er.

»Du warst viel in deinem Leben. Aber gewiss niemals schüchtern.«

Kadenz lachte. »Das muss ich mir gerade von dir sagen lassen?«

Die Erinnerung stand wie ein vertrauter Freund zwischen ihnen und für einen Moment vergaß sie das Gewirr aus Pflicht und Macht, das ihr Leben bestimmte. »Zurückhaltung war nie meine Stärke. Mein Verstand macht mich zu dem, was ich bin.«

»Wenn du meinst ...« Sein trällernder Pfiff hatte etwas Schelmisches.

»Denkst du nicht?«

Sein Blick wurde ernster, als er sich vorbeugte und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. »Du bist zweifelsfrei klug, aber die Blaue Mutter hat erkannt, dass du besonders bist. Du trägst das Herz des Meeres in dir. Deswegen wurdest du Erste Stimme, nach gerade einmal vier Prüfungen.«

»Plagen«, verbesserte Rhapsodie, mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung. Das Brennen in ihren Augen lenkte sie ab. Ihr lief die Zeit davon. »Ich habe eine Bitte.«

»Alles was du möchtest, Erste Stimme.«

»Es gibt niemanden, dem ich mehr vertraue als dir. Würdest du als Hüter des Volkes dienen, bis eine neue Stimme über die Geschicke der Stadt waltet?«

Kadenz' kobaldblaue Haut wurde blass und glich mehr der eines Schneefisches als einer Sirene. An seiner Schläfe konnte sie das Trommeln des Pulses sehen. »Ist dir klar, um was du mich bittest?«

»Ja.«

Ein zittriger Pfiff entwich seiner Kehle. »Dann soll es so sein.«

Erleichterung flutete durch ihre Adern, breitete sich in Rhapsodies Körper aus und brachte ihr Innerstes zum Flattern. Die Sirenen würden in guten Händen sein. Ihr Freund war unparteiisch, selbst wenn es ihn umbringen würde. Dennoch – seine Schultern sanken herab und mit einem Mal sah er älter aus, als würde er die Last der Welt tragen.

Rhapsodie legte ihre Stirn gegen seinen Arm, fühlte die Stärke. Es war richtig so. »Komm mit«, forderte sie und zog ihren Freund zur Brüstung. Mit seinem Ärmel wischte er den Sand vom Rand. Ein großer Schritt, dann stand er oben, reichte ihr eine Hand und gemeinsam glitten sie durch den Strom. Immer wenn sie drohte, in den Sog zum Trauergraben zu geraten, hielt er stand und schenkte ihr ein Teil seiner Kraft. Plötzlich war es vorbei, sie glitten aus dem Strom hinaus und fanden sich über dem Trainingsgelände wieder. Wie viele Gedanken waren auf diesem versunkenen Schiff zum Leben erwacht? Auch jetzt wuselte es. Die Jungtöne bereiteten sich auf die Plagen vor. Es wurde gebaut, meditiert und diskutiert. Einige saßen im Bug des Wracks und lauschten an den Muscheln, um in den Klängen der Vergangenheit Wissen über die Zukunft zu erlangen.

Die große Erschöpfung zupfte an Rhapsodies Beinen, forderte immer wieder ihre Aufmerksamkeit. Aber es war noch nicht Zeit.

Mit gleichmäßigen Bewegungen schwammen sie durch das klare Wasser. Die Sirenen musterten sie mit aufgerissenen Augen. Offensichtlich hatte niemand damit gerechnet, dass die Erste Stimme am Ende ihrer Ära einen Blick auf die Zukunft riskierte. Sollten sie doch starren. Noch war sie die Führerin ihres Volkes und hatte jedes Recht hier zu sein.

»Hast du eine Favoritin?« Kadenz' tiefe Stimme ließ sie zusammenzucken.

»Warum rechnest du mit einer Frau? Nur weil es dir nicht gelang, kann kein Mann Erste Stimme werden?«

»Schrill und Schall, das kannst du nicht ernst meinen!«

Sein entsetztes Gesicht brachte sie zum Lachen. »Du bist ganz schön empfindlich, alter Freund.«

Kadenz strich sich seine Haarstrahlen hinter die Ohren, bevor er Rhapsodie mit einem trillernden Pfiff kritisierte. Wenn es nur nicht so viel Spaß machen würde, ihn zu necken.

»Deine direkten Vorgängerinnen waren Frauen. Soprania und Coda. Die Blaue Mutter scheint euch vorzuziehen«, stellte er klar.

»Aber davor führte Alegro die Geschicke der Stadt und das sehr erfolgreich.«

Kadenz legte den Kopf schief und schwieg. Schließlich nickte er. Sie drehten eine weitere Runde über dem Wrack. Die Jungsiirenen fuhren mit dem fort, was sie gerade getan hatten. Lauschen, basteln, plaudern. Es war einschläfernd friedlich.

»Also möchtest du jetzt von der Sirene sprechen, der du den Vorzug gibst oder soll ich anfangen?«

Kadenz glitt neben ihr durchs Wasser, legte sich auf die Seite und zog herausfordernd eine Augenbraue hoch. »Ich würde es nie wagen, mich vor die Stimme zu drängen. Also, erleuchte mich. Wer wird deiner Meinung nach die Führung übernehmen?«

Ihr Blick huschte über die Rücken der Sirenen, von Schopf zu Schopf, bis sie Tenus ausmachte. Der junge Mann saß am hinteren Ende des Schiffs. Dort hatte vor vielen Tiden eine geschickte Sirene Löcher in den Rumpf gebohrt. Hier konnten, geschützt vor den Elementen, die Konzertmuscheln gelagert werden.

»Für mich hat Tenus das meiste Potential.« Sie deutete auf den jungen Mann, der gerade sein Ohr an eine Schale legte und die Augen schloß. Selbst auf die Entfernung konnte Rhapsodie sehen, wie sein ganzer Körper beim Klang des versteckten Liedes vibrierte. »Warum denkst du, dass Aria gewinnen könnte? Familienstolz?«

Kadenz schnaubte und sie drehten eine weitere Runde. Als sie den Konstruktionsbereich erreichten, straffte sich der Körper ihres Freundes. Beinahe schien es, als habe ihn ein Aal gestreift, doch Rhapsodie kannte ihn lange genug. Er hatte seine Nichte gesichtet. »Aria wird sich durchsetzen, weil sie stark, geschickt und einfallsreich ist. Das hat nichts mit mir zu tun.«

Rhapsodie musste ihm stillschweigend zustimmen, zumindest was Arias Wert anging. Die Jungsirene beugte sich gerade über ein Stück Treibholz und verband es mit langen Algen. Mit ihrer Kreativität hatte sie schon manche Erfindung geschaffen.

Jeder Armschlag kostete mehr Kraft. Die große Erschöpfung war nicht mehr fern. Ob Kadenz es auch so deutlich spürte? Ihre Muskeln brannten. Ein letztes Mal ließ sie ihre Augen über die Wunder der Klingenden Stadt wandern. »Wer immer es auch werden wird, ich vertraue auf die Blaue Mutter. Und dich.«

Es wurde Zeit.

»Bring mich heim, Kadenz.«

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