10 - Die Orangerie

꧁✧⭑✩⭑⚔︎⭑☾ Die Orangerie ☽⭑⚔︎⭑✩⭑✧꧂


Levi trat hinter Mio durch eine hohe Glastür und wurde sofort von einer Welle warmer, feuchter Luft umhüllt. Es duftete intensiv nach Erde, süßen Blüten und Früchten. Sie befanden sich in einem Gewächshaus. Überall rankten tropische Pflanzen und reckten ihre großen dunkelgrünen Blätter in die Höhe, wo Lichterketten wie Sterne über ihnen schwebten und einen goldenen Schimmer auf das Pflanzengrün zauberten. Leise zwitscherten bunte Vögelchen in den Ästen und flatterten aufgeregt über sie hinweg.

In der Mitte des Raumes stand ein großer Orangenbaum, dessen Zweige mit prallen Früchten schwer beladen waren. Der warme Schein der Lichterketten brach sich auf den Orangen und ließ sie fast wie kleine Sonnen aufleuchten. Der Ort war wie eine Oase mitten im königlichen Palast und doch weit entfernt vom Prunk und dem oberflächlichen Getümmel des Balls. Levi stand einen Moment lang einfach da, von der Schönheit dieses Ortes überwältigt. „Wow ...", entfuhr es ihm leise.

Er drehte sich zu Mio um, dessen Gesicht im diffusen Licht des Gewächshauses weich und entspannt wirkte. „Ich kann verstehen, warum das dein Lieblingsplatz ist."

Mio lächelte sanft. „Mein Rückzugsort. Abseits von all dem Trubel und den Verpflichtungen." Er deutete auf eine weiße, verschnörkelte Bank unter dem Orangenbaum. „Komm, setzen wir uns."

Levi nahm neben ihm Platz. Gedankenversunken betrachtete er die weißen Orangenblüten über ihnen, die wie funkelnde Sterne zwischen den Früchten blühten. Er sog den süßlichen Duft in seine Lungen und seufzte wohlig. Die Stille zwischen ihnen war angenehm, ein friedliches Schweigen, bis Mio begann zu sprechen.

„Als ich ein Kind war, hatte ich immer nur Flausen im Kopf", schwelgte er in seinen Erinnerungen. „Schon damals liebte ich das Zwitschern der kleinen Vögel, allerdings saßen sie damals noch überall verteilt im Palast in kleinen Käfigen. Eines Tages kam mir eine Idee: Mit meiner Magie öffnete ich die Käfige – alle auf einmal. Die Vögel flatterten wild im Palast umher. Meine Eltern waren alles andere als begeistert, doch ich bettelte so lange, bis sie mir erlaubten, die Vögel hier in der Orangerie zu halten. Sie sind zwar nicht frei, aber hier haben sie wenigstens Platz zum Fliegen." Er sah auf, den Hauch eines Lächelns auf den Lippen.

Levi lachte leise. „Ich kann mir den kleinen Mio bildlich vorstellen."

Wieder schwiegen sie. Doch abseits des lustigen Treibens des Balls wanderten Levis Gedanken zurück zu den Zwillingen. „Mio", begann er vorsichtig, „könntest du nicht irgendwie herausfinden, wie es Ennio und Andi geht?"

Mio zog die Augenbrauen zusammen und wandte sich ihm zu. „Warum sind dir diese Leute aus den unteren Ebenen so wichtig? Du solltest dich nicht mit ihnen abgeben." Seine Stimme klang kühl, Verachtung schwang in seinen Worten mit.

Levi stockte der Atem. Wie konnte jemand, der so liebevoll zu ihm war und sich sogar um das Wohl kleiner Vögel kümmerte, gleichzeitig so gleichgültig über andere Menschen sprechen? Ein Stechen durchfuhr ihn. Vielleicht steckte doch mehr Wahrheit hinter dem Ruf des Eisprinzen, als Levi sich eingestehen wollte – auch wenn er verzweifelt hoffte, dass er sich damit irrte.

Ein Räuspern erklang. Levi und Mio drehten sich um. Eine Gestalt trat zwischen den Pflanzen hervor. Es war die uniformierte Frau aus dem Ballsaal – Vexira. Ihre Haltung war steif, ihr strenger Blick lag unverwandt auf ihnen.

„Was willst du, Vex?" Mio klang genervt, fast wie ein trotziges Kind. „Kann ich nicht ein einziges Mal meine Ruhe haben?"

Vexira ließ sich nicht beirren. „Es tut mir leid, Euer Gnaden, aber meine Aufgabe ist es, auf Euch aufzupassen, auch wenn es Euch nicht passt."

Mio verdrehte die Augen, doch dann erschien sein schelmisches Grinsen auf den Lippen. „Vex, ich habe eine Aufgabe für dich. Ich will, dass du herausfindest, was mit dem Mechaniker und der Mechanikerin passiert ist, die in den Unfall verwickelt waren. Finde heraus, wie es ihnen geht und wo sie sich befinden." Erstaunt verfolgte Levi das Gespräch zwischen dem Prinzen und seiner Leibwächterin. Er freute sich, dass diese Vexira herausfinden sollte, wie es Andi und Ennio ging, doch ihm war bewusst, dass Mio das nicht verlangte, weil ihm wirklich etwas am Wohlbefinden der Zwillinge lag.

„Ich werde mich morgen früh sofort darum kümmern", antwortete sie bestimmt.

„Nein, du sollst dich jetzt darum kümmern!"

„Euer Gnaden, meine Aufgabe ist es ..."

„Du willst mir widersprechen?", unterbrach der Eisprinz sie provokant.

Erzürnt presste sie die schmalen Lippen aufeinander. „Nein, Euer Gnaden."

„Dann tu, was ich dir sage!"

„Jawohl, Euer Gnaden." Sie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder im Schatten der tropischen Pflanzen.

„Entschuldige", meinte Mio. Die eisigen Gesichtszüge wichen erneut dem Lächeln, das Levi um einiges besser gefiel. „Sobald Vexira mir die Informationen beschafft hat, gebe ich dir Bescheid."

„Danke", sagte Levi kurz angebunden.

Mio seufzte und lehnte sich auf der Bank zurück, seine Schultern lockerten sich. „Mach dir keine Sorgen mehr. Es geht den beiden bestimmt gut."

Levi nickte langsam, doch in seinem Inneren wirbelten die Gedanken. Er wollte sich Ennio und Andi nicht einfach aus dem Kopf schlagen. Und die kühle Art, die immer wieder durch die freundliche Fassade des Prinzen blitzte, verwirrte ihn. Trotzdem konnte er nicht leugnen, dass die Atmosphäre in diesem malerischen Gewächshaus ihn besänftigte. Der süßliche Duft der Orangenblüten umhüllte ihn, die angenehme Temperatur löste seine Anspannung und die negativen Gedanken.

Mio, stand auf und griff nach einem Ast des Orangenbaums. „Kannst du glauben, dass der Baum erst einundzwanzig Jahre alt ist?" Er lachte leise und Levi schaute verwundert zu ihm auf. „Meine Großmutter hat ihn gepflanzt, als ich geboren wurde. Seit sie nicht mehr ist, kümmere ich mich um den Baum ... na ja, meistens."

Levi konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Du, der Gärtner? Das hätte ich nicht gedacht."

Mio hob eine Augenbraue und setzte sich grinsend wieder neben Levi. „Ich kann mehr, als du denkst. Ich bin schließlich nicht nur ein verwöhnter Prinz." Er beugte sich zu Levi hinüber. „Aber ich verrate das nicht jedem."

Für einen Moment schien die Spannung zwischen ihm und dem Eisprinzen zu schmelzen. Levi spürte, wie sein Herz schneller schlug, als Mio ihm so nahekam. Der Raum wirkte plötzlich kleiner, die Luft dicker, nicht der Wärme wegen, sondern aufgrund der unerwarteten Nähe, die zwischen ihnen entstand.

Levis Blick wanderte über Mios Gesicht – die funkelnden, stahlgrauen Augen und die Grübchen, die sich bei seinem spitzbübischen Grinsen mitten in seinen Wangen bildeten. Levi öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken.

„Levi ..." Mios Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, seine Augen auf Levis Lippen gerichtet.

Ehe Levi reagieren konnte, bemerkte er eine Bewegung im Augenwinkel und zuckte zusammen. Nur in ein Nachthemd gehüllt, saß ein Mädchen vor ihnen in einem bronzenen Rollstuhl. Ihre großen Augen waren neugierig auf die beiden gerichtet, auf ihren Lippen lag ein schelmisches Grinsen, das Levi bekannt vorkam.

„Finchen", entfuhr es Mio überrascht. „Was machst du hier? Solltest du nicht längst im Bett sein?"

Das Mädchen mit den dunklen, welligen Haaren zog eine Grimasse. Und plötzlich fiel Levi ein, woher er sie kannte. Er hatte sie damals auf der Empore gesehen, als er in der Wolkenzelle gestanden hatte. Sie war eines der Königskinder und somit eine Schwester von Mio. „Ich konnte nicht schlafen. Außerdem wollte ich auch so gerne beim Ball dabei sein. Ich habe heimlich von der Galerie zugeschaut. Ihr habt so schön getanzt. Das war richtig romantisch." Ihre Augen glänzten.

Levi errötete, während Mio mit liebevollem Gesichtsausdruck seinen Kopf schüttelte. „Finchen ..." Er ging zu ihr und kniete sich vor ihren Rollstuhl. „Du bekommst Ärger, wenn Vater und Mutter das mitbekommen."

Sie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Aber ich war so gerne dabei, auch wenn ich nur von oben zugeschaut habe." Sie lächelte verträumt, ihre Hände im Schoß gefaltet.

„In ein paar Jahren darfst du auch bei den Bällen dabei sein", antwortete Mio und legte sanft seine Hand auf ihre. „Aber jetzt solltest du wirklich ins Bett. Es ist spät."

Sie zog einen Schmollmund. „Schaust du bei mir vorbei, bevor du zu Bett gehst?"

„Natürlich, wie immer." Mio erhob sich, küsste sie sanft auf die Stirn und schob sie dann bis zur Tür. Levi beobachtete die beiden, konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

Nachdem sie weg war, setzte sich Mio wieder neben Levi. „Deine Schwester?", fragte der Rosahaarige.

„Ja, Seraphina. Sie ist vierzehn. Danach kommen Elorya und Liriel und dann meine Brüder: Atherion und Lorian. Lori ist niedlich. Er ist erst fünf und mindestens so aufgedreht, wie ich es als Kind war", sagte Mio.

Neugierig fragte Levi: „Warum sitzt Seraphina im Rollstuhl?"

Mio hielt inne. „Es war ein Unfall." Sein Blick trübte sich. „Als wir Kinder waren ... ich war dreizehn, sie sechs. Ich hatte einen Weg gefunden, ohne die Aufzüge auf die mittleren und sogar auf die unteren Ebenen zu kommen. Sie bettelte mich an, ihr die unteren Ebenen zu zeigen und ich war dumm genug sie mitzunehmen ..." Seine Stimme wurde leiser. „Meine Eltern haben mir das nie verziehen."

Levis Herz zog sich schmerzlich zusammen. Sanft legte er eine Hand auf Mios Arm. „Das tut mir leid."

„Schon gut." Mio unterdrückte seinen Schmerz und versuchte zu lächeln. „Ich habe es mir selbst ja auch nie verziehen."

Levi nahm die Last in Mios Worten wahr. Auch wenn er heute die eisige Seite des Prinzen kennengelernt hatte, spürte er, dass unter dieser Eisschicht noch mehr steckte. Etwas, das Levi besser verstehen wollte.

Der Magier sprang auf und unterbrach Levis Gedanken. „Genug Trübsal geblasen. Wollen wir noch einen Tanz wagen? Dieses Mal ohne neugierige Zuschauer?"

„Hier?", fragte Levi überrumpelt. „Und ohne Musik?"

„Das ist das kleinste Problem", kicherte Mio und schnippte.

Sanfte Musik erfüllte plötzlich die Orangerie. Levi sah sich um, doch er konnte nicht ausmachen, woher die Musik kam. Bevor er noch etwas sagen konnte, zog Mio ihn sanft von der Bank. Sofort begann Levis Herz wie wild zu klopfen. Ihre Hände fanden sich wie selbstverständlich. Levi ließ sich von Mio führen, spürte das angenehme Kribbeln, das Mios Berührungen in ihm auslösten. Der Tanz war anders als der im Ballsaal. Sie bewegten sich langsam und schauten sich dabei tief in die Augen.

Mio zog ihn näher zu sich, Levi legte den Kopf an seine Schulter. Sein Herz klopfte schwer in seiner Brust, im gleichen Takt wie Mios Herz, das er an seinem Körper spürte. Er genoss den Augenblick, atmete den süßlichen Duft von Mios Haar ein – Orangenblüten. Für einen Moment war alles perfekt, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt.

„Schließ die Augen, Levi", hauchte Mio sanft, so nah, dass Levi seinen Atem an seinem Nacken spürte. Gänsehaut breitete sich auf seiner Haut aus und zog sich angenehm über seinen Rücken.

Levi zögerte nur kurz, dann tat er, wie ihm geheißen. Er fühlte, wie Mios Hand sich fester um seine schloss, als sich ihre Schritte verlangsamten, bis sie fast stillstanden.

Etwas war anders. Die Luft roch nicht mehr nach Erde. Langsam öffnete er die Augen, beinahe widerwillig, da er nicht wollte, dass der Moment endete.

Zu spät. Sie standen in seinem Zimmer.

„Gute Nacht, Levi", raunte Mio ihm ins Ohr. Ehe Levi etwas sagen konnte, begann sich Mios Gestalt aufzulösen, wie feiner Nebel, der im warmen Schein der ersten Sonnenstrahlen verschwand, bis nur noch ein Hauch von silbernem Staub um ihn herum wirbelte und wie von einem nicht spürbaren Wind aus dem gekippten Fenster getragen wurde.

Levi stand sprachlos da. Ein leises Schnurren riss ihn aus seiner Verwirrung. Träge öffnete der Kater ein Auge und musterte ihn kurz, als wäre nichts geschehen.

„Da hast du was verpasst", seufzte Levi und ließ sich mit einem verträumten Lächeln und Kribbeln im Bauch neben den Stubentiger rücklings aufs Bett fallen.

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