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Alec:
Noch nie im Leben hat mir jemand einen solchen Arschtritt verpasst wie Cameron, als er mit den anderen aus der Stadt zurückkam, mich in sein Zimmer gezerrt und angeschrien hat, bis ich dachte, seine Stimmbänder reißen ab.
Es waren Beleidigungen dabei von A bis Z und nachdem er dann erfahren hat, dass ich Dave verscheucht habe, ging das nochmal von vorne los.
Aber irgendwann hat er mit den Schuldzuweisungen aufgehört, sondern angefangen meine Psyche auseinander zu nehmen und zu analysieren. Ich muss zugeben, er hat das ziemlich gut gemacht.
„Du hast doch in den letzten Monaten nur noch gehandelt, weil du versucht hast, ihn zu vergessen. Und offensichtlich funktioniert das nicht. Sieh es doch endlich ein. Liebe ist nicht nur ein Wort. Du kannst sie nicht einfach aus einem Herzen radieren, genauso wenig wie die Person, für die du sie empfindest. Soll ich dir mal sagen, was dein wirkliches Problem ist?"
Und dann ging es los. Leute, ich habe keine Ahnung, wie lange er meine Denkweise bis aufs kleinste Detail zerlegt und erläutert hat, warum die Handlungen, die daraus entstehen unnötig sind.
Er hat mir unterstellt, dass ich Dave nur die Schuld geben will, dafür wie verwirrt, wütend und ängstlich ich bin. Er hat gesagt, ich gebe ihm die Schuld dafür, dass ich mein Leben hinschmeiße, obwohl jede meiner Entscheidungen, die mich an den Punkt gebracht haben, wo ich jetzt stehe, von mir gefällt worden sind und es somit nur meine Verantwortung ist, weil ich jedes Mal auch andere Möglichkeiten hatte.
Er hat mir erklärt, warum ich nicht sauer auf Dave sein sollte, sondern ihm dankbar. Weil alle anderen sich schlicht damit zufriedengegeben haben, dass ich gesagt habe, ich will dieses Jurastudium, aber er weiter nachgehakt und gehandelt hat, um mir eine andere Perspektive zu bieten.
„Wenn es sich für dich so anfühlt, als würde das mit euch einfach nicht mehr funktionieren, ist das okay. Aber dann sag es ihm. Du hast nämlich nicht wirklich mit ihm Schluss gemacht, sondern bist nur vor deinen Gefühlen davongelaufen und das hat dich zu einer Person gemacht, die du selbst nicht mal leiden kannst. Und ehrlich gesagt mag ich den alten Alec auch lieber. Der, für den seine Taten und Worte noch eine Bedeutung hatten. Der war nämlich echt ein guter Kerl", sagte er, versuchte es zum Ende hin mit einem warmen Lächeln.
Ich aber schnaubte nur. „Er war dumm, naiv und kindisch. Er hat sich verletzen lassen und von anderen beeinflussen, viel zu oft. Er war unglücklich..."
„Das bist du jetzt auch", unterbrach er mich energisch. „Aber damals hattest du wenigstens noch den Willen, etwas zu verbessern. Jetzt redest du dir ein, dir ist alles scheiß egal, während du darunter zerbrichst."
Tränen bildeten sich in seinen Augen, er krallte die Finger in meinen Nacken, lehnte die Stirn an meine und flüsterte nur noch, da seine Stimme zu nichts mehr in der Lage war.
„Ich kann dich zu nichts zwingen, das weiß ich. Und egal was du tust, ich werde immer für dich da sein. Aber, wenn dir unsere Freundschaft und unsere gemeinsamen Jahre irgendetwas bedeuten, dann bitte mach mir das Geburtstagschenk, um das ich dich gerade anflehe. Hör auf nachzudenken. Lass einfach los und wenn nur für fünf Minuten, und lass dein Herz machen. Denn das würde mein Alec tun."
In dem Moment, als er zu schniefen begann, hatte er die Mauer um mein Herz zerschlagen und mich dazu gebracht, die Arme um ihn zu schlingen, um ihn zu trösten.
Wir drückten uns aneinander, als würden wir sonst ertrinken und ich fragte ihn ebenfalls mit schwacher Stimme. „Du magst diese weinerliche Jungfrau wirklich lieber?"
Sofort nickte er energisch, löste sich von mir, um mich anzusehen und erkannte, dass sich seine Tränen in meinen Augen widerspiegelten, wie meine sich in seinen.
„Ja. Ich liebe ihn wie meinen Bruder"
Das war er. Der Arschtritt, den ich gebraucht habe, um aus dieser Phase zu entkommen. Zumindest ein kleines bisschen.
Das ist jetzt drei Tage her. Die anderen sind auch schon alle weg, weil wir nur übers Wochenende bei Cam und Noah bleiben wollten, aber ich bin noch hier.
In der Uni erwartet mich eh nichts mehr, außer Klausuren, von denen ich gar nicht dazu in der Lage bin, sie sinnvoll zu beantworten.
Noah ist ziemlich scheiße zu mir, seit Dave weg ist, aber nachdem er mal mitten in der Nacht mit Cameron gestritten hat und dieser dann zu mir ins Gästezimmer gewechselt ist, ist Noah auch wieder lieber zu mir, wirkt dabei aber traurig.
Gerade ist er in seinem Musikzimmer, dort, wo er laut Cameron die meiste Zeit verbringt, wenn er zuhause ist und es ihm nicht so gut geht, während mein bester Freund und ich kochen.
Naja, er kocht und ich versaue alles... Ausversehen natürlich. Irgendwann stellt er fest, dass das so keinen Sinn macht und schickt mich weg, weil er nicht noch mehr Flecken auf seiner weißen Küche haben will. Selbst schuld, wer legt sich schon eine weiße Küche zu?
Jedenfalls gehe ich dann zu Noah. Ich will mit ihm reden, ihm erklären, dass es zwischen Dave und mir einfach schwierig ist und wenn ich ehrlich bin, will ich ihn auch bitten, etwas mehr auf seinen Bruder acht zu geben.
Dass er trinkt und raucht, passt mir nicht. Es ist nicht gut für ihn. Und es war sein eigener Vorsatz, sich von Suchtmitteln fernzuhalten. Wenn er das über Bord geworfen hat, dauert es vielleicht nicht mehr lange, bis er dem Verlangen der Dunkelheit in sich wieder nachgibt, Drogen nimmt und anfängt, sich selbst zu verletzen. Das will nicht. Und vor allem will ich nicht der Grund dafür sein.
Ich klopfe natürlich an, aber Noah hört mich nicht, weil er schon am Musizieren ist. Ich schiebe mich zur Tür rein, lehne mich dann von innen dagegen und höre ihm zu. Er singt und begleitet sich selbst am Klavier.
Das Lied ist langsam, traurig, aber es steckt auch sehr viel Energie darin. Noahs Stimme ist wirklich schön. An den hohen Stellen kommt sie einem wie ein Windhauch vor, so dünn wird sie, so fein werden die Töne, zumindest für mein ungeübtes Ohr.
Man hört, man sieht ihm an, wie sehr er die Musik liebt. Wie ihn dieses Lied schmerzt. Das klingt extremst nach Liebeskummer.
Er lebt für jeden einzelnen dieser Töne. Vielleicht ist es das, was mich an diesem Lied so berührt, die Art, wie er es vorträgt, in Kombination mit der Melodie und dem Text, die Herzklopfen bei mir auslösen. Daves Bild, das in meinen Kopf schießt. Die Träne, die seine Wange hinabgekullert ist, als er vor mir kniete und zustimmte zu gehen.
Als Noah das Lied beendet, seine Finger auf seinen Schoß legt und den Kopf senkt, klatschte ich leicht und komme ihm näher.
Er schaut mich erschrocken an. „Sag mal, hat dir keiner beigebracht, nicht zu lauschen?", zickt er mich an.
„Doch, aber ich konnte nicht anders. Das Lied ist unglaublich und deine Stimme... wow"
Versöhnlich lächele ich ihn an.
Er seufzt, nimmt ein paar Zettel, die vor ihm herumstehen und überfliegt sie seufzend. Es sind Notenblätter und Texte. „Ich glaube den hat Dave hier vergessen. Er muss für seine Arbeit so einen Song schreiben, das hat er auch, aber ich habe ihm gesagt, dass er nochmal einen schreiben soll, einen, bei dem er nicht viel nachdenken, sondern einfach fühlen muss. Ich schätze, das hat er getan"
Überprüfend schaut er mich an.
Ich schlucke. „Darf ich mal sehen?"
Zögerlich legt Noah mir die Blätter in die Hand, als habe er Angst, ich würde sie sofort in der Luft zerreißen.
Mit dem meisten Zeugs hier kann ich gar nichts anfangen, die Noten uns so. Nur der Text ist das, was ich verstehe, aber der reicht mir schon, um zu spüren, wie mein Herz ein kleines Stückchen wiederbelebt wird.
„Weißt du", seufzte ich, als ich es ihm zurückgebe. „Dave ist ein toller Kerl. Er wird jemand besseren finden als mich"
Noah schüttelt ungläubig den Kopf. „Scheiße, Alec, er sagt genau dasselbe von dir. Wieso könnt ihr zwei Sturköpfe nicht mal nachgeben, euch eure Liebe gestehen und euch eure Zickereien dann gegenseitig rausvögeln? Das kann doch nicht so schwer sein!"
Das bringt mich zum Schmunzeln. Mir ist bisher gar nicht aufgefallen, wie ähnlich er Dave ist. Naja optisch haben sie nur die Locken gemeinsam, wobei Noahs Haare aber dunkler sind als Daves. Aber von der Art her...
Meine Gedanken stellen sich ein, als mein Handy zu vibrieren beginnt.
Als hätte der Teufel gepetzt, erscheint Daves Name auf meinem Display.
Ich tippe Noah an und zeige es ihm nervös.
„Nimm ab, sag, er soll herkommen, gesteh ihm deine Liebe und mach Sex mit ihm! Aber nur in dieser Reihenfolge!", zischt er, so als könne Dave ihn schon hören.
Schmunzelnd nehme ich ab, halte mir den Hörer ans Ohr. „Hei"
„Gott, bin ich froh, dass du abnimmst!"
Was für eine Begrüßung.
„Äh, ich auch?", gebe ich unsicher zurück.
Dave klingt ziemlich abgehetzt. „Hör zu, ich weiß, du willst nichts mit mir zu tun haben, aber du musst herkommen. Deine Mum ist im Krankenhaus..."
„Was? Geht's ihr gut?" Alarmiert stehe ich auf, so als könnte ich von hier aus etwas ausrichten.
„Ich weiß es nicht. Ich habe sie vor einer halben Stunde hierher gebracht und dann erstmal deinen Dad informiert. Aber ich denke, du solltest herkommen..."
„Dave", hauche ich. „Sag mir, dass es ihr gut geht"
„Ich weiß es nicht!"
Ich zucke zusammen, schlucke heftig. „O-okay... ich... komme so schnell ich kann..."
Ich höre ihn seufzen. „Fahr vorsichtig. Keine Eile, ich bin ja da. Falls es irgendetwas gibt, das man als nicht Mediziner für deine Mum tun kann, werde ich es machen"
„Danke"
„Kein Ding. Wir sehen uns"
„Ja, bis dann"
Keiner von uns legt auf, bis mir bewusst wird, dass es mir Handy am Ohr schwierig wird Auto zu fahren. „Bis später" sage ich nochmal und lege dann auf.
Ich schiebe mein Handy in die Hosentasche, packe schnell meine Sachen zusammen, wobei ich weiß, dass ich die Hälfte vergesse. Verabschiede mich von Noah und Cameron und fahre los.
Erst als ich am Steuer sitze, wird mir bewusst, was Dave getan hat. Er hat seine Angst überwunden, um meine Mum ins Krankenhaus zu fahren.
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