34

Alec:

Dave und ich hatten beschlossen, dass die Arbeiten an seinem Haus noch warten konnten und wir unsere restliche Zeit hier verbringen wollten. 

Wir hatten nur noch 2 Tage, da wir den letzten zur Rückfahrt brauchen würden, und Dave ging es nach wie vor nicht wirklich gut, aber zumindest redete er wieder und wirkte nicht mehr die ganze Zeit über so abwesend.

„Danke übrigens...", meinte er beim Frühstück zu mir.

Ich schaute ihn vielsagend an, um ihm zu versichern, dass das nicht nötig war.

 Er seufzte nur und nickte. Streiten mussten wir ja deshalb jetzt nicht.

„Hast du heute Lust, ein bisschen raus zu gehen?", hakte ich vorsichtig nach.

Ich hörte ihn seufzen. „Muss ich dir das jetzt sagen? Ich weiß ja gar nicht, ob ich in zehn Minuten noch lebe..."

„Kein Problem", unterbrach ich ihn. „Wir können auch spontan rausgehen, wenn du Lust hast und bis dahin bleiben wir hier und... keine Ahnung"

Unsicher schaute ich ihn an, da ich nicht wollte, dass er sich wieder in sein Zimmer verzog, nachdem er die Nacht mit mir kuschelnd auf dem Sofa verbracht hatte.

„Ich würde gerne die ganzen Kisten hier aus dem Weg schaffen. Ich hasse es, dass das alles so nach Aufbruch aussieht... Das macht mir Angst" Den letzten Satz setzte er eher leiser hinzu.

 Ich ließ meine Kaffeetasse los und fasste mit dieser Hand nach seiner. „Machen wir. Ich hab schon ein bisschen angefangen. Wenn es dir so nicht gefällt, Pech gehabt. Laut Noah bin ich dein zukünftiger Ehemann, also ist das so quasi auch mein Haus"

Er schaute mich leicht überfordert an. „Dir ist aber klar, dass das Haus nicht mir gehört, sondern Noah?"

„Ach" ich winke ab. „Der teilt gern mit dir. Außerdem musst du zugeben, dass euer Erbe ziemlich ungerecht aufgeteilt worden ist. Ist weiß, dass du das so gemacht hast, aber ich finde das ehrlich gesagt nicht richtig so. Wieso hat Noah alles bekommen und du hast dir die Schulden aufgeladen?"

 Es klang keineswegs vorwurfsvoll, ich verstand nur nicht, wie man so brunshummeldumm sein konnte.

„Ich bin nicht davon ausgegangen, dass ich noch lange lebe...", meinte Dave, meinem Blick ausweichend.

Es tat weh, das von ihm zu hören, aber es bewies auch, dass wir uns schon auf dem Weg der Besserung befanden.

„Verkaufst du das Haus, um die Schulen loszuwerden?", hakte ich nach. 

Er nickte seufzend.

„Selbst mit Job könnte ich das nicht bezahlen. Ich könnte evtl. mit der Bank reden, um die Raten geringer werden zu lassen, aber dann würde der Kredit länger andauern und die Zinsen dementsprechend höher werden... Außerdem glaube ich, dass es vielleicht auch gut sein könnte, mit diesem Teil meiner Vergangenheit abzuschließen. Ich meine, ich liebe dieses Haus. Noah und ich sind darin aufgewachsen, aber wir haben da nicht nur gute Dinge erlebt..."

Natürlich war mir aufgefallen, dass er nicht nur Einstichnarben von seinen Heroinspritzen hatte, sondern auch längliche Narben, die sich an seinem Unterarm abzeichneten, aber sie waren so blass, dass ich wusste, sie mussten mindestens aus seiner Jugend herrühren. Doch woher sie kamen, das hatte ich mir nie erklären konnten.

Etwas gedankenverloren fuhr ich eine der sichtbareren Narben mit dem Zeigerfinger nach.

Dave seufzte deshalb. „Du hast den Beweis, wie kaputt ich bin, doch direkt vor Augen. Wieso sitzt du immer noch so ruhig hier als würdest du meine Anwesenheit genießen?"

Ich schaute ihn an, erkannte, dass er ungläubig den Kopf schüttelte. So unsicher kannte ich ihn gar nicht, aber ich fand es stand ihm irgendwie. 

„Weil ich es tue. Ich bin gerne bei dir. Ich rede gerne mit dir. Und ich höre dir gerne zu..."

 Gut gemacht, Alec. Ich war stolz auf mich, ihm so unterschwellig anbieten zu können, für ihn da zu sein.

Er lächelte schwach. „Womit hab ich dich eigentlich verdient, mh?"

„Hast du nicht" Bedauernd schaute ich ihn an. „Aber ich bin trotzdem hier und werde sicherlich nicht mehr gehen. Also musst du wohl damit umzugehen lernen" Ich zwinkerte ihm zu und wandte mich wieder meinen Rühreiern zu, bevor sie kalt wurden.

„Kennst du das, wenn du dir einfach nur die Frage stellst: wieso? Wieso bin ich so? Wieso kann ich nichts tun? Wieso hört es nicht auf? Ich bin quasi damit aufgewachsen, mir das durch den Kopf gehen zu lassen"

Es freute mich irgendwie, dass er sich mir weiterhin, trotz allem, anvertrauen wollte und ich beendete mein Frühstück, um ihn anzusehen, obwohl er lieber auf seine Eier sah und in ihren herumstocherte.

„Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll ohne dass es brutal klingt..." Er schüttelte leicht den Kopf, atmete dabei tief durch. „Du musst wissen, dass nicht alles schlecht war. Er konnte nichts dafür. Es war sein Job und seine Alkoholabhängigkeit und die Enttäuschung und der Stress und einfach all das zusammen, was ihn dazu gebracht hat, meine Mum zu schlagen. Anfangs war es auch echt selten und er hat sich jedes Mal entschuldigt und versucht, es wieder gut zu machen, aber irgendwie wurde es halt immer schlimmer. Phasenweise hat er sie zusammengeschlagen. Meistens nachts, wenn Noah und ich schon im Bett waren. Er hat ihr die Schuld für alles gegeben. Dass es in seinem Job nicht so gut lief, dass Noah nicht sein Sohn ist, dass ich so eine Enttäuschung bin, dass er alkoholsüchtig ist... Mum war nie jemand, der sich leicht unterkriegen lässt. Verbal hatte Dad nie eine Chance gegen sie. Aber körperlich war er nun mal stärker und wenn er betrunken war, dann hatte er keine Scheu davor, ihr wehzutun. Ich hatte solche Angst..." 

Er schüttelte wieder leicht den Kopf, ich erkannte in seiner Stimme die Abscheu für sich selbst, die Enttäuschung, weil er nicht gehandelt hatte, doch konnte dabei nicht mal richtig fassen, was er mir überhaupt erzählte.

„Noah hat es auch mitbekommen, er war ja nicht dumm, nur zu klein, um zu verstehen, was vor sich geht. Er ist jede Nacht zu mir ins Bett gekrochen, weil er alleine in der Dunkelheit nicht einschlafen konnte. Je älter er wurde, desto mehr hat er auch begriffen, dass das nicht normal ist, was da passiert. Dass Mum Schmerzen hat. Er hat mich unter Tränen angefleht was zu unternehmen. Aber ich hab eine Ausreden nach der anderen erfunden, um es nicht tun zu müssen. Ich hab ihm jede Nacht was vorgesungen, damit er es nicht hören muss und mich dann bittet, einzugreifen. Ich wollte ein guter Bruder sein. Aber ich war ein schrecklicher Sohn. Ein Feigling. Ich habe es gehasst. Meinen Dad, die ganze Situation, aber am meisten mich selbst. In der Schule und bei meinen Freunden habe ich immer den großen Macher gemimt, den Starken, den Unbesiegbaren und Nachts, wenn Noah endlich geschlafen hat und meine Mum vor Schmerzen keine Kraft mehr hatte zu schreien, hab ich mich in den Schlaf geheult. Als Noah richtig begriffen hat, dass Dad ihr nicht nur wehtut, sondern das auch alles andere als normal und richtig ist, hat er eingegriffen. Er muss da acht gewesen sein oder so. Erst, als Dad auch ihm wehgetan hat, zur Strafe, weil er sich in „Erwachsenenangelegenheiten" eingemischt hat, hab ich eingegriffen. Jetzt stell dir vor, was passiert, wenn sich so ein 13-jähirger gegen einen erwachsenen Mann stellt. Gar nichts. Nichts anderes hab ich ausrichten können, als ebenfalls einzustecken. Wir haben lange versucht, Mum zu helfen, aber obwohl sie nie darüber geredet hat, was da passiert, hat sie uns eines Tages gebeten, aufzuhören. Wir haben es getan, es war das Beste für alle, Mum wusste das, Noah ebenso und ich auch. Aber... ich konnte das einfach nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Es war mir einfach zu viel. Ich fand, wenn Mum Schmerzen haben musste, dann sollte ich das auch. Dad bestrafte Mum und ich bestrafte mich selbst. Es hat nie jemand mitbekommen. Dad war damit beschäftigt, Mum zu schlagen oder sich zu betrinken und ich hab immer darauf geachtet, dass Noah schon schläft. Ich will nicht sagen, ich hätte es genossen, mir wehzutun, aber irgendwie... Irgendwie hat es geholfen. Es war besser als tatenlos herum zu liegen und vor mich hinzujammern. Ich hab mich stark gefühlt bei jedem Schnitt, ohne zu wissen, wie schwach ich eigentlich in diesem Moment war. Ich hab nicht verstanden, dass man sich sowas nicht antun sollte. Das einzige, was ich wusste, war, dass ich es verdient habe zu leiden, also hab ich dafür gesorgt. Mir war nie bewusst, wie krank es eigentlich war, dass es mir dadurch besser ging. Innerlich war ich irgendwie stolz darauf, auf jeden Schnitt, jeden unterdrückten Schmerzensschrei. Ich dachte, ich wäre stark, weil ich das ausgehalten habe. Dabei war es meine Schwäche, mir das anzutun. Durch reinen Zufall hat meine Mum es mal bemerkt, als ich den Verband gewechselt habe, den ich immer unter den Pullis getragen habe, falls er zufällig mal hochrutscht. Sie hat sich an diesem Morgen selbst verarzten wollen und findet ihren Sohn vor, der sich die vollkommen zerschnittenen Arme verbindet. Ich war so 16, als das passiert ist. Mum war komplett fassungslos und erst wegen ihrer Reaktion habe ich begriffen, was für Ausmaße das angenommen hat. Ich habe mich geschämt, als die angefangen hat, von Psychologen und Depressionen zu sprechen... Ich habe mich geweigert, Hilfe anzunehmen. Meine Eltern haben mich gezwungen, die Antidepressiva zu nehmen, sie dachten, ich wäre suizidal und haben gedroht, mich einweisen zu lassen. Erst als Noah in Tränen zusammen gebrochen ist, weil er mitbekommen hat, wie es um mich steht, hab ich angefangen, die Pillen zu nehmen. Nicht für mich, sondern für ihn. Aber es ging mir wirklich besser dadurch und Irgendwie hat Dad auch aufgehört Mum zu misshandeln und es wurde alles so... normal. Bis zu dem Unfall... Meine Mum tot, mein Dad im Koma, mit Voraussicht auf den Tod, mein Bruder am Arsch der Welt, weil ich mich nicht um ihn kümmern konnte, mein Studium verloren, meine Karriere in den Sand gesetzt und meine Beziehung ruiniert. Auf die Idee gekommen, wieder Antidepressiva zu schlucken, bin ich gar nicht erst. Ich wusste, dass es nichts bringt. Und dann hab ich die Wirkung von Schmerzmitteln und Alkohol entdeckt, Drogen und all dieses Zeug. Das war mein Urteil"


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top