022 ✔️

Isak:

Wut beschreibt nicht mal annähernd, was da gerade in mir brodelt.

Es zerreißt mich förmlich, ruhig hier sitzen zu müssen, während dieser Matt neben mir sitzt, sein Anwalt neben ihm und Jake neben mir, während sich der Richter, der sich uns gegenüber hinter seinem Schreibtisch befindet, das Video ansieht, das als Beweismittel für Kens Unschuld ausreichen sollte.

Ich habe absichtlich beantragt, dass das nur im engsten Kreise, mit Ausschluss der Öffentlichkeit eingesehen wird, da ich alleine die Existenz dieses Videos für abscheulich halte und es das mindeste ist, das nur den nötigsten Leuten zu zeigen.

Der Richter schaut es sich komplett an, obwohl er dabei alles andere als angetan und erfreut aussieht, sieht abwechselnd zu Jake, mir, Matt und dessen Anwalt und dem Staatsanwalt, der seine große Klappe seltsamerweise verloren hat, seit das Video läuft. Er ist schockiert und man sieht ihm auch an, wie sehr er sich schämt, weil er nicht hinter Matts Lügen gestiegen ist.

Ich wusste von Anfang an, dass sowohl Matt als auch Ken gelogen haben, was den Sachverhalt angeht, aber ich hatte keine Ahnung, dass die Wahrheit so schrecklich aussehen würde.

Am schlimmsten ist eigentlich die Gewissheit, dass Matt nicht mal die Hauptschuld an diesem Verbrechen trägt, sondern ich. Hätte ich Ken an diesem Abend nicht so behandelt, hätte ich ihn nicht geschlagen und einfach stehen lassen, wäre er niemals gegangen und er hätte auch nicht versucht, sich mit dieser Person zu trösten.

Es ist meine Schuld, nur meine Schuld. Und trotzdem will ich Matt dafür bestrafen. Er ist es, der Ken das gewisse Etwas genommen hat. Dieses Strahlen.

Ich glaube, dass Ken sich trotz allem noch relativ normal verhält, hängt damit zusammen, dass er das Geschehene schlichtweg verdrängt. Er hat es vor allen anderen geleugnet und vor sich selbst. Er ist traumatisiert. Und ich will hier endlich weg, um für ihn da zu sein.

Die letzte Nacht hat Jake bei uns auf dem Sofa verbracht, da ich ihn ja noch brauchte, um zu erklären, woher das neue Beweisstück so plötzlich kommt. Ken ist sogar freiwillig Zuhause geblieben. Er hat behauptet, er hat einfach keine Lust, mit Jake irgendetwas zu machen, aber wir wissen alle, dass er der Situation, der Konfrontation einfach nur ausweichen wollte und das ist auch völlig okay. Ich übernehme das für ihn.

Nachdem das Video endet, nimmt sich Richter Miller erstmal die Brille ab und reibt sich über die Augen, während er tief durchatmet.

Dann schaut er Matt auffordernd an, so als wolle er ihm eine Chance geben, sich zu erklären.

„D-das... ich... Das ist schon total alt und..."

„Es kam gestern bei Herrn Novak mit der Post an, wurde also drei Tage zuvor abgesendet. Zudem sieht man auf dem Video frische Hämatome im Gesicht..." Normalerweise würde ich jetzt des Opfers sagen, aber ich weigere mich, Ken zu Matts Opfer zu machen. „... von Herrn Sivan, die heute noch verheilen."

Der Richter stimmt mir durch ein Nicken zu, stellt das Verfahren ein, erlegt Matt die Verfahrenskosten auf und belehrt ihn dessen, welche Wege Ken jetzt gehen kann, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Da ist nicht nur die Vergewaltigung, sondern auch die Möglichkeit, ihn wegen versuchten Todschlags in einem minderschweren Fall anzuklagen, da man ja nicht wissen kann, ob Matt beabsichtig hat, dass Ken nur bewusstlos wird, oder ob er ihn dadurch umbringen wollte. Außerdem ist fahrlässige Körperverletzung auf jeden Fall ein Punkt, sowie Anklagen wegen der Aufnahme und des weiterversenden des Videos, ebenso wie die Verleumdung durch die Falschanzeige...

Da kommt auf jeden Fall eine Menge auf Matt zu, sofern Ken das möchte. Theoretisch ist es seit einigen Jahren auch für dritte erlaubt, eine Vergewaltigung zur Anzeige zu bringen, aber so gerne ich dieses Schwein auch so lange wie möglich hinter Gitter sperren würde, will ich das nicht ohne Kens Einverständnis machen. Und kann das daher nicht hinter seinem Rücken entscheiden. Wir müssen darüber reden und das wird schon schwer genug werden.

Nach weiteren besprochenen Einzelheiten, werden wir alle entlassen. Man sieht Matt an, wie sauer er ist und sobald wir das Gerichtsgrundstück verlassen haben, geht er auf Jake los.

Bei dem Versuch, die beiden voneinander zu trennen, bekomme ich versehentlich Jakes Faust ab, schaffe es aber dann zusammen mit Matts Anwalt, die beiden voneinander loszubekommen und in unterschiedliche Richtungen abzuführen.

„Scheiße, das tut mir so leid, ich wollte dich echt nicht erwischen!"

Wir haben uns gestern Abend aufs Du geeinigt, da wir ja quasi Verbündete sind und das, obwohl wir uns eigentlich nicht sehr gut verstehen sollten, wenn man bedenkt, welche Vergangenheit er mit Ken hat.

„Ich weiß, mach dir nichts ins Hemd" Ich presse ein Tempo auf meine blutende Lippe und werfe Jake den Autoschlüssel entgegen, da ich jetzt nicht auch noch einen Unfall bauen will.

„Oh Gott, ich wollte schon immer mal so einen coolen Wagen fahren!" Total erfreut setzt er sich rein, was mich die Augen verdrehen lässt.

Der Typ ist 27 und benimmt sich schlimmer als Amy. Bei Ken finde ich das total süß und charmant, aber bei seinem Ex nervt es mich ziemlich.

Wir fahren zurück in die Wohnung, wobei ich sehr froh bin, als er den Motor abstellt, da es an ein Wunder grenzt, dass ich das überlebt habe. Es wäre sicherer gewesen, selbst zu fahren, sogar, wenn ich keine Arme hätte.

„Du fährst nicht oft Auto, kann das sein?", hake ich nach, als wir in die Wohnung hochlaufen.

„Nö, in einer Großstadt wäre es total dumm mit einem Auto zu fahren, ich nehme die öffentlichen Verkehrsmittel oder das Fahrrad..."

„Wie umweltbewusst", stelle ich fest.

„Ja, stimmt's?" Er wirkt echt stolz darauf.

Wir kommen in der Wohnung an, aus der es schon ganz seltsam duftet. Das kann nur eines heißen: Ken hat gekocht.

„Kenny, wir sind wieder daaa!", schreit Jake in die Wohnung, als er seine Schuhe achtlos an die Wand kickt und dann reinläuft.

Seufzend stelle ich seine Schuhe ordentlich ins Regal, meine dazu, hänge meine Jacke und den Schal ab, ehe ich ihm folge.

Er sitzt auf der Küchenablage und strahlt Ken an, der am Herd steht und irgendetwas in einer kleinen Maschine backt, das runde Teigkügelchen produziert, wenn man Teig reingibt.

Da Jake Ken gerade damit volllabert, dass er sein Held ist und wie viel er doch an Muskelmasse aufgebaut hat in den letzten Jahren, halte ich mich zurück und hole mir nur ein paar Eiswürfel, die ich dann in einen Beutel packe, ein Tuch darum wickle und mir das alles dann an die Lippe halte.

Tut ziemlich weh, was wohl daran liegt, dass ich mich von solchen Gewalttätigkeiten immer fernhalte, es also nicht gewohnt bin, Schläge einzustecken oder gar auszuteilen.

„Jake, tu mir doch bitte einen Gefallen" Ken sieht ihn seufzend an.

„Ja, Süßer?"

„Friss die Cake Pops und hör auf zu reden. Ich bekomme Kopfschmerzen von deiner Stimme und deine Aussagen bereichern meinen Intellekt auch nicht gerade"

Schmollend stopft Jake sich eine Hand von diesen Teigkugeln in den Mund, so viele, dass er beim Kauen den Mund nicht zubekommt, was Ken dann zum Kichern bringt. „Du Idiot" Er schlägt ihm auf den Oberschenkel, aber ich finde, dass diese Geste, dass alles davon, irgendwie total vertraut aussieht. So locker und ungezwungen... Etwas, das Ken mit mir wohl nie haben wird.

„Wo ist Isak eigentlich?"

Jake lacht. „Der steht schon die ganze Zeit in der Ecke da. Richtig geheimnisvoll"

Ken dreht sich erstaunt zu mir um, lässt Jake dann links liegen, um zu mir zu kommen, mich zu umarmen und mich dann ziemlich seltsam zu mustern. „Was hast du denn da gemacht?" Er zieht mir den Beutel weg und schaut aus großen Augen auf meine Lippe. „Hat Matt dich geschlagen? Was hat er gemacht? Ich mache diesen Bastard fertig!" Er krempelt sich die Ärmel seines Hoodies hoch und will losstürmen, aber ich halte ihn auf. „Hei hei hei, ganz ruhig, Tigerchen. Matt hat mich nicht geschlagen, sondern Jake und ich habe halt dann was von Jake abbekommen, als ich sie trennen wollte... Außerdem..." Ich beginne zu schmunzeln, egal wie weh es tut. „... musst du nicht meinen edlen Prinzen in goldner Rüstung spielen. Ich kann gut auf mich selbst aufpassen"

„Ja klar, das sieht man", schnaubt er, schüttelt missbilligend den Kopf, schiebt mich dann von sich, um sich wieder an die Arbeit zu machen.

Es dauert nicht mehr lange, da hat er den gesamten Teig verarbeitet und erläutert uns ganz fachmännisch, dass das jetzt erstmal kalt werden muss, bevor er einen Schockoguss und Streusel darübermacht und es wohl richtig gut schmecken soll.

„Ich bin sicher, das wird es", lächelt Jake Ken an, als wir zu dritt ins Wohnzimmer gehen.

Nein, er lächelt ihn nicht nur an, er himmelt ihn an. Und das löst etwas in mir aus, das ich eigentlich noch nie gekannt habe. Eine Art von Wut, die aber von der Angst angetrieben wird, etwas zu verlieren. Ist es das? Die berühmt berüchtigte Eifersucht?

„Wann gehst du eigentlich wieder? Du bist einen Tag hier und schon gehst du mir auf die Eier" Genervt lässt Ken sich aufs Sofa fallen und klopft dann neben sich, während er mich auffordernd anschaut, aber Jake setzt sich schon dorthin, so als habe er es nicht mitbekommen. „Weiß noch nicht. Ich finde es eigentlich ganz schön hier..."

„Musst du nicht arbeiten?" Ken rutscht von Jake weg.

„Nö, hab zwei Wochen frei"

„Oh bitte versprich mir, dass du die nicht hier verbringst." Ohne Jake antworten zu lassen, schaut er mich an. „Schmeiß ihn raus, bevor er sich einnistet, dann werden wir ihn nämlich nie mehr los"

Jake lacht darüber. „Ach komm schon, damals wolltest du mich gar nicht gehen lassen und jetzt kannst du mich nicht schnell genug loswerden?"

„Damals war ich ein dummes Kind und verknallt in dich, jetzt bin ich erwachsen und liebe einen anderen" Ken schaut Jake fest an und klapst ihm dann auf die Wange. „und jetzt rück mir nicht so auf die Pelle, sonst machen deine Eier mal wieder Bekanntschaft mit meiner Hand und zwar nicht auf die angenehme Weise"

„Du bist echt ein fieser kleiner Mistkerl geworden", beschwert Jake sich und rutscht von ihm ab.

„Wir alle entwickeln uns weiter" Ken zuckt bloß mit den Schultern und winkt mich dann zu sich. „Jetzt komm endlich her, du Kämpfer für die Gerechtigkeit"

Eigentlich will er sich damit über meinen Beruf lustig machen, das ist mir klar, aber irgendwie schaut er mich dabei so zuckersüß an, dass es mir wie eine Verehrung vorkommt.

Ich setze mich neben ihn, bin dadurch zwischen ihm und Jake eingepfercht. Jake rutscht weiter von uns ab und mustert dann das Bild, das sich ihm liefert. „Ach so ist das also. Du hast dir einen Sugar Daddy gekrallt"

„Arschloch!" Ken wirft Jake mit voller Wucht die Fernbedienung an die Stirn.

„Aua!", beschwert sich dieser, reibt sich die Stelle mit schmerzverzerrtem Gesicht.

Da meine Lippe nicht mehr wehtut, reiche ich den provisorischen Kühlpack an ihn weiter, was er dankbar entgegennimmt.

Wir verbringen den restlichen Tag zusammen auf dem Sofa. Jake versucht immer wieder ein paar Mal die alten Zeiten mit Ken aufleben zu lassen, indem er in Erinnerungen schwelgt, aber dieser geht nicht darauf ein, sondern tut nichts anders, als immer wieder desinteressiert „Mhm" zu brummen, auf den Bildschirm des Fernsehers zu schauen und dabei seinen Kopf auf meiner Schulter liegen zu lassen.

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