1. Anreise
Ort: Finsterbruch (Fiktiv)
Landkreis: Düsterwacht (Fiktiv)
Jahr 2024, kurz vor Halloween
"Wherever you go, go with all your heart"
»Wann sind wir denn endlich da?«, fragte Louisa gelangweilt von der Rückbank des silbernen VW Golfs aus, der bereits seit Stunden unzählige Straßen passierte. Ungeduldig trommelten ihre Fingerspitzen, dabei einem gleich bleibenden Stakkato-Rhythmus folgend, immer wieder gegen eine beschlagene Scheibe auf und ab.
»Laut Navi brauchen wir noch, wenn's hoch kommt, circa fünfzehn Minuten!«, versuchte Victoria das launische Gemüt ihrer besten Freundin im Zaum zu halten, deren Geduldsmaß nicht einmal an einem guten Tag auf einen Fingerhut passen wollte.
Zu Anbeginn ihrer Reise hatte sie es sich selbst auf dem Beifahrerplatz so bequem wie nur möglich gemacht, die Sitzheizung auf die höchste Stufe gedreht und schließlich ihr Haupt gegen die weiche, gepolsterte Kopfstütze gelehnt.
Unaufhörlich drang die wohltuende Wärme durch die dicken Lagen ihrer Kleidung, ja legte sich fast wie ein samtiger Schleier über ihre müden Muskeln nieder. Es war jene Art von angenehmer Hitze, die sich schleichend um den Körper schlängelte, bis einem am Ende sogar das Augenblinzeln schwer fiel.
Mit jeder Minute, die weiter ins Land zog, schien es als würde sich eine sanfte Schwere in ihren Knochen ausbreiten. Ein Gefühl, so süß und schläfrig, das sich wie klebrige Zuckerwatte anfühlte und dabei jeden klaren Gedanken in einen nichtigen Zustand einzuwickeln begann.
Nichtsdestotrotz duellierte die junge Frau ihr schläfriges Bewusstsein, denn wie sie im Hier und Jetzt ein kleines Nickerchen unternähme, dann würde ihr in der darauf folgenden Nacht sicherlich kein Schlaf mehr gewiss sein. Und auf auf diese Möglichkeit konnte sie wahrlich gut verzichten.
Charlotte, die Dritte im Bunde und auserkorene Fahrerin, hielt derweilen das Lenkrad fest im Griff, während sie den Wagen entschlossen durch immer dunkler werdenden Nachmittag bugsierte. Angesichts Louisas ständiger Quengelei verdrehte sie abermals ihre Augen, bevor sich ihr Blick prüfend auf den Rückspiegel richtete.
»Wir sind ja bald da, also kein Grund zur Panik. Und gerade du - Ja, ich spreche mit dir, Louisa! - solltest dich in Geduld üben. Immerhin war es deine glorreiche Idee gewesen, dieses vermaledeite Haus für zwei Wochen zu mieten. Du hättest dich - oder besser gesagt auch uns - ja in ein anderes Anwesen einquartieren können!«
»Ich hasse es, wenn deine Meinung Sinn ergibt!«, grummelte Louisa widerwillig, bevor sie demonstrativ die Arme vor der Brust verschränkte, die Brauen zusammenzog und sich trotzig nach hinten lehnte. »Warum musst du eigentlich immer recht haben? Sollte dir nicht irgendwann einmal langweilig davon werden?«
Victoria, die das Geschehen höchst amüsiert vom Beifahrersitz aus beobachtete, konnte sich derweilen ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen. Unweigerlich fühlte sich die junge Frau beim Louisas Anblick an ein aufmüpfiges Kind erinnert, das trotz verzweifelten Fußstampfens einfach nicht gegen seine strengen Eltern ankam.
Doch bevor sie einen Kommentar ihrerseits über die Lippen bringen konnte, schwafelte Louisa bereits munter weiter.
»Trotzdem sage ich euch, dass dieses Herrenhaus als Kulisse geradezu perfekt ist! Das Aussehen, die Historie, die Atmosphäre... besser geht es kaum! Und das will wirklich was heißen, wenn man bedenkt, dass ich über hundert Spukhäuser für meine Auswahl recherchiert habe!«
Charlotte, die über Louisas ausufernde Euphorie lediglich den Kopf hin und her schütteln konnte, stieß daraufhin ein lautes Seufzen aus, ganz so, als würde das Gewicht der Welt urplötzlich auf ihren schmal gebauten Schultern ruhen.
»Dein Wort in Gottes Gehörgang, meine Liebe. Ich hoffe bloß um deinetwillen, dass sich unser Urlaub in diesem seltsamen Gemäuer nicht als komplette Zeitverschwendung herausstellen wird!«
Mit diesen Worten kehrte rasch eine eigentümliche Stille in den Wagen ein. Es war, als hätten die drei Frauen unmerklich ein Einverständnis geschlossen, ein stilles Abkommen, welches sich sogleich wie eine unsichtbare Trennwand zwischen ihnen herab senkte. Jede von ihnen hing nun ihren ganz eigenen Gedanken nach, während das Auto weiterhin durch die zwielichtige Dämmerung rollte.
Victoria wandte ihren Blick erneut auf das beschlagene Fenster, während sich zur gleichen Zeit eine fast melancholische Nachdenklichkeit in ihren blassen Zügen manifestierte.
Mehrere Ortsschilder, die wie Geisterbilder im flimmernden Scheinwerferlicht auftauchten und plötzlich wieder verschwanden, zogen mit einer geradezu unheimlichen Geschwindigkeit vorbei. Alle Namen der zu durchquerenden Dörfer, kaum lesbar in der Eile der Fahrt, erschienen ihr als verwaschen und bedeutungslos.
Am Himmel brodelte seit jeher ein düsteres Wolkengebräu vor sich hin, triefend schwarz und zähflüssig wie verdickter Teer. Wann immer es einem schummrigen Lichtstrahl gelang, die geballten Mauern zu durchdringen, wurde er nur allzu schnell von der aufkeimenden Nacht wieder mit Haut und Haar verschluckt.
Dagegen ähnelte das am Boden befindliche Landschaftsbild eher einem dürftig zusammen geflickten Teppich, bestehend aus vielen, willkürlich gesetzten Farbtupfer. Ganz so, als hätte hier Mutter Natur mit ihrem geschwungenen Pinsel unebene Striche gezogen. Krude Linien, die am Ende allerdings nichts als Verfall und Trostlosigkeit versprachen.
Immer wieder wechselte sich die hiesige Ortschaft zwischen öden Weiden, schattigen Wäldern und sumpfigen Senken, die selbst aus der Ferne an grüne Schlünde erinnerten, ab. Wahrlich, der späte Oktober hatte mittlerweile überall Einzug gehalten und kleidete mit seiner herbstlichen Garderobe nun die Topographie in ein braunes, durchlässiges Gewand ein.
Einzig der Nebel, dick und schattenhaft, glitt fast unermüdlich über die entlegenen Weiten hinweg.
Wie ein geisterhaftes Leichentuch legte sich der Dunst über die brach liegenden Felder nieder, schob sich wie eine Würgeschlange voran und erstickte dabei jedes Fleckchen Erde mit seinem kalten Griff. Bei dem schauderhaften Anblick fühlte sich die Beobachtende rasch an einen Vorhang erinnerte, der sich zum Schlussakt eines Theaterstücks herab senkte und den klatschenden Zuschauern schon bald keinen Blick mehr hinter die Kulissen gewährte.
Victoria, nun voll in vergangenen Zeiten versunken, dachte unweigerlich über ihre Freundschaft mit Charlotte und Louisa nach. Seit frühester Kindheit kannte sich das Trio, das seit jeher in der gleichen Stadt lebte. Schwanenberg - ein verschlafenes Nest, wo die Zeit seit Jahrzehnten stillstand und das Leben in zahllosen, immergleichen Schleifen ablief.
Für die junge Frau verkörperte dieser Ort eine bittersüße Last, quasi Fluch und Segeln zugleich. Hier, in der Enge der alten Straßen und dem Kreisen der vertrauten Personen, hatte sie wahrhaftig tiefe Wurzeln geschlagen. Doch allein Vorstellung, für immer an Schwanenberg gebunden zu sein, schnürte ihr im buchstäblich die Kehle zu und ließ sie zugleich aufs Übelste aufstoßen.
Immer die selben Gesichter, die ihr morgens und abends begegneten.
Immer die selben Gesprächsthemen, die wie ein endloses Echo zwischen den penibel gepflegten Häuserwänden wider hallten.
Immer die selben neugierigen Nachbarn, die mit Argusaugen das Leben der anderen beobachteten und mitunter auch mit bösen Zungen kommentierten.
Tag ein, Tag aus.
Das konnte schließlich nicht alles sein, was ihr das Leben anbieten konnte, oder?
Eigentlich kann mich glücklich schätzen, ein gutes Leben zu haben. Und gerade dieses Dilemma gestaltet es ebenso so schwer, eine Entscheidung zwischen gehen und bleiben zu treffen...
Missmutig kuschelte sich die Beifahrerin tiefer in den bequemen Sitz hinein, um die finsteren Gedanken, die wie dunkles Unkraut in ihrem Verstand zu wuchern begonnen hatten, schnellstmöglich aufzuhalten.
Nun ist nicht die Zeit, Trübsal zu blasen, ermahnte sich Victoria in Gedanken, schloss kurz die Augen und zwang sich mit aller Kraft zur Ruhe. Doch so sehr sie sich auch Mühe gab, die Sehnsucht nach wilden Abenteuern ließ sich nichtsdestotrotz so einfach aus ihrem Herzen verbannen.
Aus diesem einen Grund hatte die junge Frau wohl auch nicht lange mit der Entscheidung gefackelt, als Louisa sie vor nicht allzu langer Zeit zu einem zweiwöchigen Entspannungsurlaub im Herrenhaus von Dunkelmoor einladen wollte.
Zugegeben, zuerst hatte sie ein gewisses Maß an Skepsis bezüglich Louisas Vorschlag gehegt, doch letztendlich schienen alle Bedenken nichts mehr als Schall und Rauch gewesen. Gerade die schaurige Historie des Anwesens fesselte ihr Interesse sehr und hegte daher den Wunsch, mehr Details über die sagenumwobenen Dunkelheit des Hauses in Erfahrung zu bringen.
Nicht, dass ihr Verstand an übernatürliche Entwicklungen glauben würde. Für Victoria zählte allein die Bedeutung von Logik und Wissenschaft, was allerdings im Umkehrschluss nicht bedeutete, dass sie gut erzählte Gruselbücher nicht entsprechend zu schätzen wusste.
Diese Meinung teilte auch Louisa, die bereits seit mehreren Jahren als Horrorbuchautorin arbeitete und jeder Inspiration, egal welcher haarsträubenden Natur diese auch entsprang, mit Begeisterung hinterher jagte. Im Moment wurde ihre Kameradin jedoch von einer tiefsitzenden Schreibblockade geplagt. Auf ihrer Suche nach Inspiration war Louisa schließlich auf jenes Herrenhaus gestoßen, dessen berüchtigte Hallen seit einer langen Zeit komplett leer standen.
Charlotte, hingegen, schien bloß wegen eines reinen Freundschaftsdienstes mitgekommen. Anfangs hatte sich die junge Krankenschwester stark gegen eine Teilnahme geziert, da sie grundsätzlich alles Gruslige entschieden ablehnte. Im Endeffekt konnte Louisa die Weigernde allerdings nach stundenlangen Diskussionen aber vom Gegenteil überzeugen.
Sich langsam wieder die scheren Gedanken von den Knochen schüttelnd, bemerkte Victoria erst nach einer guten Weile, dass das Auto geradewegs auf eine steinerne Brücke zusteuerte. Eine uralte Konstruktion, deren verwitterte Pfeiler die tiefen Risse der vergangenen Zeit offen zur Schau trugen.
Vor Beginn der Überführung stand ein gelb markiertes Ortsschild, von dessen wettergegerbter Oberfläche folgende Worte hervor stachen:
Willkommen in Finsterbruch!
Landkreis Düsterwacht.
Während die Überquerung der Brücke rasch erfolgte, reckte die junge Erwachsene ihren Hals nach vorne, um einen besseren Ausblick auf den darunter befindlichen Fluss namens Stromschnellen erhaschen zu können.
Im Lichte des finsteren Spätnachmittags schimmerte das rauschende Wasser in all seiner dunklen Pracht. Reißende Wassermassen flossen unterhalb der mächtigen Brückenpfeiler hindurch. Schaukelnde Wellen brandeten gegen die unterstützenden Bauten, sodass weiße Gischt unaufhörlich in die Luft aufstob.
Flink fing der herab sausende Wind die fliegenden Spritzer auf und trug diese gleich darauf zu einem weit entlegenen Ort hinfort. Obgleich das Fenster keinen Spalt weit offen stand, war es Victoria, als konnte sie das Rauschen des Wassers mit eigenen Ohren hören - ein heiseres, dröhnendes Grollen, das sich mitunter wie eine gemurmelte Beschwörung anhörte.
Wenige Minuten später traten allerdings die ersten Häuser in das Sichtfeld der reisenden Freundinnen.
Und es war ein, ehrlich gesagt, trostloses Trauerspiel.
In ihren Grundzügen erinnerte die verlassene Ortschaft an eine Geisterstadt, die ihre besten Tage bereits weit hinter sich gelassen hatte. Ja, nicht einmal eine Ampel zur Regelung des Straßenverkehrs ließ sich hier mehr auffinden. Ohne jede Übertreibung schien diese graue Siedlung vollständig ihres Leben beraubt, ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit.
Victoria hatte vor längerer Zeit in einem Artikel des Schwanenberger Tagblatts gelesen, dass sämtliche Firmen, einst hier tief verwurzelt, längst zu dichter besiedelten Gegenden übergesiedelt waren und somit direkt zum Untergang dieses Ortes beigetragen haben.
Hier und da konnte die junge Frau noch ein paar vereinzelte Ladenzeilen, Krämergeschäfte und Gasthäuser entdecken. Der übrig gebliebene Rest bildete sich hingegen aus kleinen Häuschen, deren mit Ruß verdreckten Fassaden ebenfalls keine Schönheitswettbewerbe mehr gewinnen würden.
Weitere zehn Minuten verstrichen, bevor sich hinter dem nördlichen Ende dieser Einöde ein weitläufiger Wald auftat, gebildet aus einem Meer der unterschiedlichsten Baumarten. Grüne Tannen und Kiefern gediehen hier im Überfluss, während diverse Laubbäume mit ihrem güldenen Blättern zum Glück noch ein paar andere Farben mit ins Spiel brachten.
Normalerweise liebte Victoria den Anblick von wilden Hainen, mochte ihre ruhige Majestät und die kühle, erdige Stille, die sie bargen. Doch dieser eine Forst erschien ihr als vollkommen anders. Er besaß etwas Geheimnisvolles, wodurch sie sich sofort an finstere Geschichten erinnert fühlte, die man sich in nur langen Nächten und bei ausreichend Kerzenschein zu erzählen traute.
Doch gerade als sie ihren düsteren Gedankengang zu Ende führen wollte, folgte das Auto bereits einer unerwarteten Kurve, die schnurstracks aus dem Forst herausführte. Sobald sich die Beifahrerin wieder ein Bild von der neuen Umgebung machen wollte, hielt sie auf der Stelle in ihrer nächsten Bewegung inne.
Denn der einschüchternde Anblick des Herrenhauses von Dunkelmoor verschlug ihr im wahrsten Sinne des Wortes den Atem.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top