Das Haar
Es war der 8. August, um 11.14 Uhr, als der Kommissar an seinem dienstfreien Tag das städtische Freibad betrat.
Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht ahnen, dass am Folgetag, dem 9. August, um genau 14.36 Uhr ebendort die Bäckereifachverkäuferin Janine B. tot in der Damendusche aufgefunden werden würde. Dass beide Ereignisse auf das Engste miteinander verbunden waren, sollten weder der Kommissar, noch Janine B. jemals erfahren.
Nachdem der Kommissar die braunweiß karierte Decke auf dem Rasen ausgebreitet und sich der Kleidung über der Badehose entledigt hatte, legte er sich mit einer neu erworbenen Biografie über Napoleon Bonaparte auf den Bauch und begann zu lesen. Die Schwimmbaduhr zeigte 11.35 Uhr.
Um 12.22 Uhr begann dem Kommissar die Mittagssonne zuzusetzen. Er nahm einen Schluck aus der mitgebrachten Wasserflasche, begab sich anschließend zum blau schillernden Schwimmerbecken und sprang, ohne sich vorher unter der Dusche abgekühlt zu haben, kopfüber hinein.
Nach fünf Unterwasserzügen tauchte er auf und schwamm zum gegenüberliegenden Beckenrand. Hier blieb er auf einem kleinen Absatz stehen und fuhr sich mehrmals mit beiden Händen durch das kurz geschnittene, kräftige dunkle Haar, da das Chlorwasser seine Kopfhaut stets zum Jucken brachte. Dabei lösten sich, für niemanden sichtbar, sieben Haare, die zusammen mit einigen Wassertropfen in das Becken fielen.
Es war 12.36 Uhr als sich der Kommissar wieder vom Beckenrand abstieß, die Bahn zurück schwamm um anschließend tropfnass zurück zu seiner Decke zu gehen.
Unter den Bewegungen der zahlreichen Schwimmgäste wurden die sieben Haare schnell im Wasser verteilt. Eins von ihnen spülte um 13.20 Uhr ein kräftiger Wasserstrahl, verursacht durch zwei Halbstarke, die unerlaubt vom Beckenrand gesprungen waren, durch das weiße Kunststoffgitter in die Umwälzanlage.
Um 13.43 Uhr holte sich der Kommissar am Kiosk eine Portion Pommes Frites und eine Cola. Dabei kam er an den zwei Jungs vorbei, die sich der Bademeister gerade zur Brust nahm.
Gegen 15.03 Uhr wurde das Haar auf der anderen Seite des Beckens, zusammen mit dem gereinigten Chlorwasser wieder ausgespuckt. Auf Grund seiner Kürze und Härte hatte es den Reinigungsfilter an einer Stelle durchstechen können. Eine 14-jährige Schülerin nahm es unwissend an ihrer linken Wade klebend mit aus dem Wasser. Während sie zumSprungturm ging um den braun gebrannten Jungs bei ihren Kunststücken zuzugucken, trocknete sie sich nur flüchtig den Oberkörper ab, sodass das Haar sie bis zur Sitzbank begleitete.
Es war 15.29 Uhr.
Der Kommissar blickte von seinem Buch auf, dachte flüchtig an all die menschliche Niedertracht, mit der er sich in den letzten drei Wochen hatte herumschlagen müssen und beneidete die turmspringenden Jungs, die die Mädchen mit so viel Leichtigkeit in ihren Bann zogen.
Eine Wespe sorgte dafür, dass das Haar um 15.47 Uhr seinen Platz verließ. Durch eine hektisch wedelnde Hand wurde es von dem getrockneten Bein gewischt und lag nun zwischen den Blättern der angrenzendenHeckenrosenpflanzung. Hier es blieb es, während der Rücken des Kommissars verbrannte, dieser sich über den Despoten Napoleon ärgerte, die zwei Jungs noch einmal vom Beckenrand sprangen und die Schülerin ihrem Schwarm auf dem Turm begeistert zujubelte.
Das Haar blieb in der Hecke, auch während der Nacht.
Ein mitternächtlicher Sturzregen spülte es weit in die Hecke hinein, während die Gattin des Kommissars das volle, kräftige Haar ihres Mannes mit den Händen durchfuhr, um sich anschließend müde an ihn zu schmiegen.
Am folgenden Tag, dem 9. August um 13.20 Uhr, breitete Janine B. nach einer vierwöchigen, sehr erholsamen Asthmakur, mit langsamen Bewegungen ihre Decke auf der Wiese des städtischen Freibades aus, schob die eingewickelten Käsebrote in den Schatten der Badetasche und kontrollierte wiederholt das Vorhandensein der zwei Dosen Asthmaspray.
Um 13.30 Uhr stieg sie ins Schwimmerbecken und legte bis 14.00 Uhr fünf Bahnen zurück. Beim Abtrocknen fielen ihr die Springer auf dem Zehnmeterbrett ins Auge, und sie beschloss spontan ihnen, mit einem Käsebrot in der Hand, zuzusehen.
Am Himmel hatten sich inzwischen dunkle Wolken gebildet, es kam ein leichter Wind auf. Um 14.13 Uhr fegten die ersten Böen auch über den Rosenheckenstrauch, in dem das Haar vom Vortag verborgen lag. Eine Luftverwirbelung zog es gegen 14.14 Uhr aus seinem Versteck, eine weitere Böe trug es auf Janine B.'s noch feuchte rechte Hand, von wo aus es dreiundvierzig Sekunden später auf die angebissene Stelle des Käsebrotes fiel.
Um 14.18 Uhr biss Janine B. erneut in ihr Brot, bereits dreißig Sekunden später saß ihr das Haar quer in der Luftröhre und rührte sich nicht mehr vom Fleck. Voller Panik rannte sie zu ihrem Platz, um das Spray zu holen.
Um 14.22 musste sie sich eingestehen, dass sie keinen der bekannten Anfälle hatte, das Medikament ihr dieses Mal nicht helfen würde.
„Spülen, Ausspülen ...", dachte sie nur.
„Frisches Wasser ..."
Keuchend, krächzend, hustend lief sie in Richtung Damendusche, die sie um 14.25 Uhr erreichte. Sie öffnete den Duschhahn um sich wiederund wieder den Mund mit Wasser voll laufen zu lassen, zu gurgeln, zu spucken, sich den Finger in den Hals zu stecken, nur um am Ende doch realisieren zu müssen, dass ihr all das nicht helfen würde.
Niemand betrat bis 14.37 Uhr den Duschraum, um ihr zu helfen, niemand bemerkte ihren Todeskampf.
Die junge Frau mit dem quietsch-rosa Badeanzug, die sie schließlich fand, schrie als sie sie erblickte. Sie war felsenfest davon überzeugt den blau angelaufenen Körper einer Erwürgten gefunden zu haben.
Um 15.02 Uhr erhielt der Kommissar einen Anruf aus dem Revier. Er solle umgehend zum städtischen Freibad hinausfahren, dort gäbe es ein Mordopfer.
Der Kommissar seufzte. Viel lieber wäre er bei diesem Prachtwetter schwimmen gegangen.
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