Stella (vor Auswahlturnier)

„Als nächstes kommt die Nummer 11: Vannessa Müller und Frieda Hanselmann auf Rhapsodie! Es hält sich bitte bereit: die Nummer 12: Stella Friese und Johanna Overbeck auf Merlin!", tönte die Stimme des Ansagers durch das Gestüt Rosenwinkel in Erfurt.

„Kommt, Mädels, ihr müsst euch jetzt noch dehnen!", rief unsere Trainerin Katrin. Jojo und ich kamen angelaufen, Merlin hinter uns. Er war wirklich gut erzogen und kam (fast) immer, wenn man ihn rief, was vielleicht aber auch etwas mit den Leckerlies zu tun hatte, die wir ihm immer gaben. Auch jetzt hielt Katrin ihm ein Leckerlie unter die Nase, das er sofort verspeiste und sein Maul dann an Jojos Trainingsjacke abwischte, die über Katrins linken Arm lag. „Iiiih, Merlin!", rief Jojo und nahm die beiden Jacken, reichte mir meine und zog sich dann ihre über. Den Pferdesabber-Fleck sah man fast gar nicht. „Zum Glück hat er nur deine Jacke vollgesabbert und nicht dein' Voltianzug", meinte Katrin trocken. „Haha", antwortete Jojo. Katrin lachte, aber weder Jojo noch mir war nach Lachen zu Mute.

Dazu waren wir beide zu aufgeregt, wegen dem Wettkampf. Nicht, dass wir nicht schon auf vielen anderen, wichtigeren Wettkämpfen, auch mit deutlich mehr Publikum, waren, aber die 15 bestplatzierten Paare in diesem Wettkampf durften in ein Trainingscamp in England gehen und dort von einigen Teilnehmern oder ehemaligen Teilnehmern der Weltmeisterschaft trainiert werden. Das Trainingscamp würde in den Herbstferien und in der Schulwoche danach stattfinden, die Teilnehmer bekamen dann eine Beurlaubung. Wir hatten das letzte Jahr auf diesen Wettkampf hintrainiert und hatten, laut Katrin, schon Chancen unter die Top 15 zu kommen, sonst hätte sie uns nicht angemeldet.

„Komm jetzt Stella, steh da nicht so doof rum, sondern dehn dich!", rief Jojo. Ich setzte mich zu ihr auf meine Yogamatte auf den Boden und begann mich zu dehnen. Deshalb auf eine Yogamatte, dass unsere Voltigieranzüge nicht dreckig wurden. Die waren nämlich erstens schwer zu waschen und zweitens sah es einfach bescheuert au, wenn sie dreckig waren. Vor allem wenn die Sand am Hintern hatten.

Warm gemacht hatten wir uns schon und auch Merlin war aufgewärmt. Jojo und ich waren auch schon ein paar einfache Übungen auf ihm geturnt. Unsere komplette Kür hatten wir gestern abend um halb zehn schon auf der Original-Fläche gemacht, oder besser gesagt, versucht. Es hatte in einer totalen Katastrophe geendet, weil einfach nichts so funktioniert hat, wie es sollte. Aber Jojo und ich waren irgendwie schon gewohnt, dass bei der Generalprobe nichts funktionierte und somit nicht extra beunruhigt.

Anders als bei unserer ersten Teilnahme an der Deutschen Meisterschaft vor vier Jahren. Da war Jojo gleich am Anfang vom Training runtergefallen und hatte sich am Ellenbogen leicht verletzt, weil der Boden von der Trainingsfläche total hubbelig war, und Merlin deshalb gestolpert war. Da waren wir dann mit den Nerven total am Ende. Vor allem, weil es unser erstes Mal bei der Deutschen Meisterschaft war und da ist halt alles noch mal viel größer als bei der Württembergischen zum Beispiel, die bei U13 davor kommt. Wir sind dann trotzdem gestartet und Jojos Ellenbogen hat danach so weh getan, dass sie zwei Wochen Sportverbot hatte. Zum Glück turnt Jojo sowieso oben, weil sie leichter ist als ich, und musste mich deswegen nicht halten. Ich hab schon verstanden, warum sie den Wettkampf nicht abbrechen wollte und irgendwie auch wieder nicht. Es muss echt wehgetan haben! Aber Jojo war schon immer viel ergeiziger als ich; auch in der Schule, weswegen sie meist bessere Noten hat.

Seit der, sagen wir, etwas missglückten Deutschen Meisterschaft waren wir aber jedes Jahr dort und so langsam kam eine gewisse Wettkampf-Routine auf. Jojo und ich hatten zusammen bei Anna-Sophie mit dem Voltigieren begonnen als wir fünf Jahre alt waren, davor waren wir im Kinderturnen. Vor jetzt ziemlich genau fünf Jahren kam dann Katrin in unseren Verein und hat Jojo und mich im Doppel trainiert. Damals war Katrin 16 und wir beide neun. Mit neun haben wir dann auch mit Wettkämpfen angefangen, Anna-Sophie hatte das nie gewollt. Gleich in unserem zweiten Wettkampf-Jahr sind wir dann zur Deutschen Meisterschaft gekommen, im ersten Jahr „nur" zu der Württembergischen. Was auch schon voll gut ist. Niemand hat da geglaubt, dass es unser erstes Wettkampf-Jahr ist. Klar, bei Anna-Sophie haben wir auch immer unseren Eltern vorgeturnt und sind so an Publikum gewöhnt, aber ein richtiger Wettkampf ist doch nochmal etwas anderes. Ich erinnere mich noch an das erste Mal, das wir allen Eltern aus der Gruppe vorgeturnt sind; alle haben sich fast in die Hosen gemacht.

„So, Mädels, das reicht jetzt auch, Jojo du musst nicht den Sand vom Boden essen. Ihr habt euch vorhin schon gedehnt, außerdem seid ihr gleich dran", weckte Katrin mich aus meinen Erinnerungen, „und Jojo, wieso ist da Sand an deiner Hose?", fragte sie danach weiter. Katrin sagt zwar immer, dass sie nicht aufgeregt ist, aber an ihrer Art viele kurze Sätze ohne Verbindung aneinander zu hängen merkt man, dass sie aufgeregt ist. „Upsi", war Jojos einziger Kommentar, dan klopfte sie ihr rechtes Hosenbein ab. Ich half ihr ihren türkisenen Voltigieranzug vom Sand zu befreien.

Wir trugen beide die gleichen Anzüge, die an den Beinen türkis waren und dann nach oben weiß wurden. Aber nicht in so einem Übergang sondern​ in so „Flammen". Zu Jojos roten Haaren sah das mega cool aus, bei meinen blonden Haaren aber eher langweilig. Merlin hatte passend dazu eine weiße Decke, einen türkisen Voltigiergurt und eine türkise Trense, was bei seinem grauen Fell mit weißen Punkten einen guten, aber nicht zu kräftigen Farbklecks gab. Auch um jeden von seinen Dutten in der Mähne und am Ende von seinem Zopf im Schweif war ein türkises Band.

„Stella, hast du noch Haarspray?", fragte Jojo nervös. Eigentlich hielt bei ihr alles, aber falls sich irgendwo auch nur ein mini bisschen aus ihrem Dutt löste gab das Punktabzug. „Nee, sorry, das ist noch im Auto", antwortete ich. Aber Katrin grinste und zog etwas aus ihrer Handtasche. „Hier Jojo, nimm doch das hier." „Oh, cool, du hast des mitgenommen?", fragte Jojo, erwartete aber keine Antwort. Rhetorische Frage eben. Ich war aber zu abgelenkt um etwas zu erwidern.

Ich nahm das Haarspray entgegen, löste die türkise Plastikblüte aus Jojos Dutt, sprühte ihn und den Rest von ihren Haaren noch mal gründlich ein und steckte dann die Blüte wieder fest. Dann bekam Jojo die Spraydose, damit sie meinen Dutt nochmal festsprühte. Unsere Dutte waren alle drei (auch der von Katrin) mit einem Duttkissen vergrößert.

„Kommt ihr?", fragte Katrin und ging vor. „Man sieht und merkt ihr überhaupt nicht an, dass sie schon 21 ist", sprach Jojo in dem Moment das aus, was ich dachte. Ich nickte nur. Sie trug einen schlichten weißen Voltigieranzug und passend eine weiße Blüte im Haar. Das Weiß hob sich gut von ihrer gebräunten Haut ab. So weit sah sie aus wie 21. Aber vom Gesicht und sonst her sah sie aus wie 16, höchstens!

„Kommt ihr jetzt?", fragte Katrin wieder, „Ihr seid gleich dran!", Ich nahm dankbar Jojos Hand und wir liefen los. In dem Moment sagte der Ansager:

„Das war die Nummer 11: Vannessa Müller und Frieda Hanselmann auf Rhapsodie! Jetzt kommt Nummer 12: Stella Friese und Johanna Overbeck auf Merlin! Es hält sich bitte bereit: die Nummer 13: Aleyna Sumsa und Gina Kramer auf Archibald!"

„Jojo! Verdammt noch mal, ich heiß Jojo!", schimpfte Jojo. Sie hasste es, Johanna genannt zu werden. Wieso, wusste niemand.

„Jojo, beruhig dich, ihr müsst los. Toi, toi, toi, ihr schafft das, ihr seid super duper gut!", versuchte Katrin uns zu beruhigen. Jojo übergab ihr Merlin, die die Longe in seine Trense einhakte.

Wir betraten die Halle und das Publikum klatschte. Jojo griff nach meiner Hand. Wir verbeugten uns. Jetzt ging es um alles! Katrin lief in die Mitte der Halle, ließ Merlin erst ein Stück im Schritt laufen und gab ihm dann mit der Peitsche einen Wink zum Angaloppieren. Als Merlin noch eine viertel Runde von der Ecke entfernt war, in der wir standen, lief ich los und rannte dann drei Galoppsprünge neben ihm, mit ihm im Takt. 1, 2, 3, zählte ich und dann sprang ich auf seinen Rücken.

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