8 | Grünwald

Hannah hatte sofort den Kurs geändert, nachdem sie mit Yan den verborgenen Kompass mit dem dazugehörigen Kartenteil zusammengebracht hatte. Sie hatten den Kompass so ausgerichtet, dass die Nadel nach Kartennorden zeigte und den echten Kompass danebengelegt. Als der kaputte Kompass nach oben zeigte, sahen sie auf dem echten Kompass die Richtung, in den die auffällige Markierung am Rand des gefundenen Wegweisers zeigte.

»Das ist Süd-Osten«, stellte Yan überrascht fest. Und wenn wir uns Süd-Osten auf der Karte ansehen, dann...«

»...landen wir auf dem Stück, dass Darrel gehört!« Hannah stöhnte.

»Warte«, meinte Yan zuversichtlich und kramte die Kopie der Karte aus der Tasche. »Es ist vielleicht nicht zu hundert Prozent korrekt, aber ich habe seine Karte ja gesehen. Wenn wir das Stück hier anlegen, kommen wir nach...«

»Grünwald!« Hannah klatschte spontan in die Hände. »Da wollte ich schon immer mal hin!«

»Wirklich?« Diyanne zog die Augenbrauen hoch. »Du willst freiwillig in einen Urwald gehen, der von Riesenspinnen und Trötkröten beherrscht wird? Willst du dich in feuchter Hitze durch dichtes Unterholz schlagen und alte Steinmauern erklimmen, an denen du dir deine Knie wundschlägst?«

Hannah sah ihre Freundin mit nahezu kindlicher Freude an. »Klingt großartig, findest du nicht?« Diyanne schüttelte nur den Kopf. »Wenn du meinst!«

»Wohin mögen sie wohl steuern?« Darrel hatte seinen Kurs ebenfalls geändert und verfolgte nun die Wavedancer, ohne genau zu wissen, welchen Pfad sie einschlug. »Sie müssen etwas wissen, das uns verborgen bleibt«, mutmaßte er und griff erneut zum Fernglas.

»Vielleicht liegt es daran, dass Hannah dich überlistet hat«, bemerkte Ronan beinahe amüsiert. »Sie scheint dich besser zu kennen als du sie.«

Darrel schnaubte verärgert. »Sie kennt mich nicht«, murmelte er trotzig. Doch tief in seinem Inneren musste er zugeben, dass sie ihn tatsächlich ausgetrickst hatte. Der Blick, den sie ihm im Haus des Edelmannes zugeworfen hatte, hatte ihn kurzzeitig glauben lassen, sie könnten auf derselben Seite stehen. Aber Hannah war mehr Piratin als er Dieb, und das musste er nun akzeptieren.

Nachdenklich verharrte er am Steuerrad, seine Augen verfolgten das Schiff mit dem imposanten Heck, das sich allmählich am Horizont verlor. Wohin mochten sie segeln? Während Ronan unter Deck verschwunden war, um die fehlenden Kartenteile aus dem Safe zu bergen, lauschte der Kapitän der Sturmwind dem beruhigenden Rhythmus der Wellen. Sie prallten sanft gegen den Bug, spritzten Gischt auf und kühlten sein Gesicht in regelmäßigen, erfrischenden Abständen. Die Sonne, die bereits ihren Zenit überschritten hatte, warf die langen, schattigen Konturen des Schiffes voraus auf das glitzernde Meer. Am fernen Horizont sah man bereits erste funkelnde Sterne an der Kuppel aufleuchten, und Darrel fragte sich, ob sie wohl die Nacht auf hoher See verbringen müssten.

»Hey Darrel, ich glaube, ich habe etwas interessantes entdeckt!« Ronan war aus seiner Kabine zurückgekehrt und hielt Darrel ein Stück der Karte entgegen, dessen See sie seit einigen Meilen befuhren. »Der Kurs der Wavedancer führt nach Grünwald. Das ist eine Dschungelinsel, umgeben von spitzen Felsen und gefährlichen Riffen. Zumindest, wenn man von dieser Seite heransegelt.«

»Was meinst du mit 'wenn man von dieser Seite heransegelt'? Gibt es auf der anderen Seite eine sicherere Anlegestelle?« Darrel nahm die Karte in die Hand und versuchte, Hinweise zu erkennen. Doch er war noch nie in diesem Teil von Domhain gewesen. Zum Glück kannte sich Ronan hier besser aus.

»Auf dieser Seite hier gibt es einen schmalen, aber sonst sicheren Durchlass. Bei unserem Tiefgang sollten wir den auf jeden Fall nutzen, auch wenn es uns etwas Zeit kosten wird«, erklärte Ronan mit dem Finger auf der Karte.

»Wie viel Zeit werden wir dadurch verlieren?«, fragte Darrel. Der Ehrgeiz, Hannah zu besiegen, hatte ihn erneut gepackt, und er wollte jede Chance, die sich bot, nutzen.

»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Ronan, während er nachdenklich seinen Bart streichelte. »Jetzt, da wir das Ziel kennen, könnten wir die Wavedancer überholen und zur gleichen Zeit auf der Insel ankommen. Vorausgesetzt, die Wavedancer plant tatsächlich, sich durch die gefährlichen Riffe zu navigieren. Ein riskantes Unterfangen, wenn du mich fragst. Wenn sie allerdings denselben sicheren Weg wählen, könnten wir den Schatz bergen, während sie noch ankommen.«

»Perfekt!«, rief Darrel voller Vorfreude und rieb sich die Hände. Dann wandte er sich seiner Mannschaft zu und gab einige Befehle. Ein Ruck ging durch das Schiff, und die Segel blähten sich im Wind, als der Kapitän das Tempo erhöhte. Sie mussten der Wavedancer nicht mehr folgen, und die Sturmwind näherte sich dem anderen Schiff rasch. Als sie aneinander vorbeifuhren, sah Darrel zufrieden in Hannahs wütendes Gesicht und tippte grüßend angedeutet seinen Hut.

»Wir sehen uns später, Sturmtochter! Nachdem wir den Schatz gehoben haben!«, lachte er hämisch und richtete seinen Blick wieder nach vorn. Am Horizont konnte er bereits eine Erhebung erkennen, die in den letzten Sonnenstrahlen des Tages glänzte.

»Dieser Schuft!« Hannah musste von ihrem Schiff aus zusehen, wie Darrel und seine Mannschaft an ihnen vorbeizogen und Kurs auf die Insel nahmen.

»Was hast du erwartet?«, fragte Yan wenig mitleidig. »Ronan kennt sich in Domhain aus. Es war abzusehen, dass sie unser Ziel bald erraten würden.«

»Ich bin trotzdem wütend! Wir haben den Kompass und das Ziel gefunden. Sie haben sich nur an uns drangehängt!«, rief Hannah verärgert.

»Das ist wahr«, stimmte Diyanne zu und legte tröstend eine Hand auf Hannahs Schulter. »Aber sie haben nicht den Kompass. Sie wissen also nicht, was wir wissen. Und wenn sie auf der Insel ankommen, haben sie keine Ahnung, wo sie hinmüssen!«

Die Wandlerin hob verschwörerisch ihre Augenbrauen und Hannah konnte nicht anders, als zu lächeln. Nachdem sie ihr Ziel gefunden hatten, war Yan die Rückseite des Kompasses aufgefallen. Hannah hatte zunächst gedacht, sie sei zerkratzt, doch im Licht der untergehenden Sonne hatten sich die Rillen deutlich und kontrastreich abgezeichnet und ein Bild enthüllt, das ihnen den Weg zu ihrem Ziel auf der Insel weisen würde. Und das war ihr kleines Geheimnis.

Es war nachts, als Hannah unerschütterlich am Steuerrad stand, während die beiden Monde ihr silbriges Licht über das Deck der Wavedancer warfen. Das Schiff glitt geräuschlos durch das dunkle Wasser, während sich vor ihnen die gefürchteten Klippen von Grünwald auftürmten. Ein Labyrinth aus spitzen Felsen und heimtückischen Untiefen, das selbst den mutigsten Seefahrer in die Knie zwingen konnte. Doch Hannah fühlte keine Furcht. Sie wusste, dass sie in dieser gefährlichen Nacht nicht allein war.

Hoch oben in der Luft zog Yan, der Vogel mit dem scharfen Blick, seine Kreise. Ihre Augen waren Hannahs Augen, und ihre Pfiffe gaben Hannah die präzisen Signale, die sie benötigte, um das Schiff sicher durch das komplizierte Riff zu steuern.

Mit einer geschickten Handbewegung dirigierte Hannah die Wavedancer durch die engen Passagen zwischen den Klippen. Das Schiff glitt durch schmale Durchlässe, wich gefährlichen Riffspitzen aus und nutzte jede günstige Strömung, die Yan ihr anzeigte. Ihre Hände bewegten sich sicher und präzise am Steuerrad, während sie gleichzeitig klare Befehle an ihre Crew weitergab.

Die Anspannung an Bord war zum Schneiden. Jeder Seemann hielt die Luft an, während die Wavedancer sich beharrlich ihren Weg durch das Riff bahnte. Das Plätschern der Wellen, das Pfeifen des Windes und das Knarren der Segel vereinten sich zu einer gespenstischen Melodie.

Nach einer nervenaufreibenden Fahrt, bei der ein einziger Fehler das Aus hätte bedeuten können, fand die Wavedancer endlich einen sicheren Durchlass durch das Riff. Das Schiff glitt in ruhigere Gewässer, und ein kollektives Aufatmen ging durch die Besatzung. Erschöpft, aber zufrieden, lehnte sich Hannah wieder an das Steuerrad. Mit ihrer eigenen Expertise und Yans Unterstützung hatten sie die gefährlichen Klippen und das Riff erfolgreich hinter sich gelassen.

Nun lag die geheimnisvolle Insel Grünwald vor ihnen, umgeben von der Dunkelheit und dem Versprechen unbekannter Abenteuer.

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