17 | Der Schatz
Die Schildkröte empfing sie fast freundlich und ließ es zu, dass das kleine Beiboot mit den Abenteurern an ihrer Seite festmachte. Ihr Rücken war über und über mit Seepocken und Korallen bedeckt und am höchsten Punkt ihres Panzers, schimmerte ein goldenes Kreuz in der Nachmittagssonne. »Ein Kreuz markiert den Schatz«, raunte Ronan und rieb sich die Hände. »Auf geht's, Piraten!«
Als sie die Korallenberge auf dem Rücken der Schildkröte nach kurzer Zeit erklommen hatten, blickten sie neben dem Kreuz, das an der Spitze einer Pocke festgeschraubt war, in einen tiefen Schacht, der sich so weit hinunter erstreckte, dass der Boden nicht erkennbar war. An den Rändern der rechteckigen Grube sahen sie starke Seile, die sich tief hinab in die Dunkelheit schlängelten und mit eisernen Ringen am Boden der Korallen verankert waren. Das Bild vor ihren Augen warf unerwartete Rätsel auf und die vier Abenteurer starrten ratlos in die Tiefe.
»Was soll das sein?«, fragte Hannah, ihre Augen durchbohrten die Dunkelheit des Schachtes.
»Sieht nach einer weiteren Aufgabe aus«, mutmaßte Yan, während sie die Umgebung aufmerksam inspizierte.
»Da sind vier Seile, die alle in diese Grube führen. Vielleicht müssen wir das richtige Seil finden, an dem der Schatz befestigt ist«, schlug Ronan vor, während er die Seile näher betrachtete.
Darrel streckte schon die Hand aus, um eines der Seile zu greifen, aber Hannah hielt ihn zurück. »Nicht anfassen! Es könnte eine Falle sein!«, warnte sie ihn mit ernster Miene.
»Vielleicht müssen wir auch gemeinsam an den Seilen ziehen. Es sind vier und vielleicht sind sie da unten um einen Gegenstand gebunden, der so schwer ist, dass man ihn allein nicht heben kann«, spekulierte Yan.
»Ich könnte das bestimmt«, grinste Ronan selbstbewusst und Yan kicherte.
»Natürlich könntest du, mein Schatz«, neckte sie ihn, und ein Küsschen landete auf Ronans Arm. Dann streckte sich Yan auf die Zehenspitzen, um ihrem Liebsten näher zu kommen, und er beugte sich zu ihr hinunter.
»Gibst du mir noch einen auf den Mund?«, brummte Ronan tief, und ein angenehmer Schauer überlief Yan, als sie ihn küsste. Währenddessen wandte sich Hannah an Darrel, ihre Augen voller Entschlossenheit.
»Die beiden würden nicht mal merken, wenn wir den Schatz allein heben und abhauen würden«, flüsterte Hannah verschwörerisch. Darrel war zunächst geschockt über ihre Aussage, doch dann sah er, wie Hannah amüsiert grinste.
»Das habe ich gehört«, ließ Yan verlauten, und Hannah lachte. »Keine Sorge, ich habe verstanden, dass es besser ist, zusammenzuarbeiten. Aber wenn ich euch so sehe, wie ihr rumturtelt...«
»Ich finde es eigentlich schön, wie vertraut und liebevoll die beiden sind«, sagte Darrel ernst.
»Darrel, du Charmbolzen!« Lachend stieß Hannah dem Dieb in den Oberarm. »Du würdest sicher nicht fragen, ob jemand dich küssen würde! Du würdest es dir einfach nehmen, oder?«
Darrel schien enttäuscht. »So siehst du mich also?«
»Ein bisschen«, gab Hannah kleinlaut zu.
»Dann muss ich dir wohl das Gegenteil beweisen«, sagte Darrel entschlossen.
»Du musst mir...«, begann Hannah, doch sie wusste nicht so recht, was sie darauf erwidern sollte. Ein angenehmes Kribbeln durchströmte sie, als sie an den Morgen dachte, als Darrel sie auf die Stirn geküsst hatte, als er gedacht hatte, dass sie noch schlief. Zumindest glaubte sie immer mehr daran, dass Darrel ihre Wassersäule aus dem Traum gewesen war.
»Ich glaube, wir sollten es gemeinsam versuchen«, unterbrach Ronan ihre aufkeimenden Gedanken. ‚Zum Glück', dachte Hannah, wer weiß, was sonst noch passiert wäre. Sie und Darrel... Das wäre ja wirklich ungeheuerlich.
»Ich nehme dieses hier«, verkündete Yan und Hannah versuchte sich zu konzentrieren. Doch als sie Darrel gegenüber das Seil greifen sah und wie er sie fast schüchtern anlächelte, fiel es ihr schwer, nicht an ihn zu denken.
»Auf 'Drei'!«, verkündete Ronan, und Hannah packte das Seil, das ihr am nächsten war. Entschlossen hielt sie es fest. Die anderen taten das Gleiche und die Seile spannten sich.
Während Ronan zählte, warf Hannah erneut einen Blick auf Darrel, der sie ebenfalls interessiert musterte. Sein Blick traf den ihren und plötzlich schien die Luft zwischen ihnen zu knistern. Hatte sie jemals zuvor bemerkt, wie seine Augen so intensiv funkelten? Oder die sanften Grübchen, die sich beim Lächeln um seine Mundwinkel bildeten? Die feinen Sommersprossen um seine Nase erschienen ihr plötzlich wie kleine Sterne in einer dunklen Nacht.
Warum war ihr ausgerechnet jetzt danach, ihn anzusehen? War es die allgemeine Spannung vor der Entdeckung des Schatzes, die in der Luft lag, ihre Sinne schärfte und ihr Herz schneller schlagen ließ? Oder war es die Erkenntnis, dass hinter Darrels abenteuerlichem Äußeren ein warmherziges und faszinierendes Wesen verborgen lag, das sie jetzt erst richtig wahrnahm?
»Drei!«, rief Ronan, und Hannah zuckte kurz zusammen, ehe sie zusammen mit den anderen an den Seilen zog. Der Widerstand war anfangs groß, doch dann nahm er ab und Stück für Stück holten sie ans Tageslicht, was sich in den Tiefen des Schachtes lange Zeit verborgen hatte.
Langsam, aber sicher wurde die Schwere des Gegenstands spürbar, als sie ihn näher an die Oberfläche zogen. Mit jedem Zug enthüllte sich mehr von dem, was sie gefunden hatten. Schließlich brach die Schatztruhe aus der Dunkelheit des Schachtes hervor, ihr Holz von den Jahren gezeichnet, doch noch immer strahlte sie einen Hauch von vergangener Pracht aus. Die Kanten waren mit filigranen Schnitzereien verziert, und der Deckel wurde mit messingbeschlagenen Bögen zusammengehalten.
Als Ronan die Truhe schließlich auf den Boden ablegte und die Seile löste, konnte man das Knarren der alten Scharniere hören, als würde die Truhe selbst die Geheimnisse, die sie barg, freigeben wollen. Ein rostiges Schloss verriegelte die Schatzkiste, doch sie hatten vermutlich genau den passenden Schlüssel parat.
»Ich mach das!«, sagten Hannah und Darrel gleichzeitig und sahen sich dann lachend an.
»Es ist mir nicht so wichtig, zuerst zu erfahren, was drin ist«, meinte Darrel großzügig und trat einen Schritt zurück. Mach du sie auf!«
»Na komm, du darfst die Truhe zuerst öffnen!« Hannah grinste gönnerisch und übergab Darrel den Schlüssel, den er ihr vorher gegeben hatte.
»Ich glaube, ich habe gerade eine Wette mit mir selbst verloren«, meinte Darrel plötzlich lachend. Hannah hob eine Augenbraue.
»Wieso?«, fragte Hannah, sichtlich irritiert über den plötzlichen Sinneswandel.
»Ich habe gewettet, deine Antwort auf mein Angebot wäre vielleicht: ‚Das habe ich von dir nicht erwartet' oder ‚Wer bist du und was hast du mit Darrel gemacht'. Aber du bist ja direkt generös heute«, schmunzelte er.
»Ich wusste ja nicht, dass du solch schwere Wörter kennst!« Hannah grinste vergnügt und legte Darrel den Schlüssel in die ausgestreckte Hand.
»Und ich nicht, dass ich ein solches Wort einmal bei dir benutzen würde!«, meinte Darrel und zwinkerte Hannah zu, als er den Schlüssel in das Schloss steckte.
»Gewöhne dich besser nicht daran. Du hast mich an einem guten Tag erwischt.«
»Komm, wir drehen den Schlüssel gemeinsam!«, schlug Darrel vor.
»Wer bist du und was hast du mit Darrel gemacht?«, fragte Hannah nun doch, aber ein Schimmer von Amüsiertheit lag in ihrer Stimme.
Darrel lachte. »Nephrim sei Dank, die Piratenbraut Miss Morgan ist wieder da.« Seine Augen funkelten, als er sie neckte, und sie den Schlüssel endlich gemeinsam herumdrehten.
Der Anblick des Schatzes überwältigte sie. Wie gebannt starrte Hannah auf das, was sich in der Kiste befand. Yan begann ungeniert zu jubeln und Ronan schlang die Arme um seine Freundin, um sie hochzuheben und herumzuwirbeln.
Nur Darrel sah nicht auf die Schätze in der Truhe, sondern nur in Hannahs leuchtende Augen. Sie strahlten im Licht der Sonne und auf ihren Wangen lag ein bezaubernder Schimmer, den Darrel am liebsten berühren wollte. Hannah spürte, dass Darrel sie ansah und drehte ihren Kopf. »Wir teilen natürlich alles gerecht auf!«, sagte sie schnell, um sicherzustellen, dass sie nun keine Rivalen mehr waren. Doch Darrel schüttelte den Kopf.
»Ich habe bereits alles, was ich brauche. Und wenn du und die anderen mich auf der Sturmwind weiter begleiten wollen, brauche ich diesen Schatz nicht zu besitzen, solange wir immer genug zum Überleben haben.«
Hannah legte den Kopf schief. »Du weißt doch, dass Ronan und Diyanne sich nun ein Häuschen suchen könnten?«, wand sie ein. Doch Darrel lachte nur. »Schau dir Ronan doch an! Der wird das Abenteuer nicht so schnell aufgeben. Aber selbst, wenn sie sich eine Zeitlang zurückziehen«, sagte er und ließ eine Pause, bevor er flüsternd weitersprach: »Würdest du mich begleiten? Als meine Kapitänin?«
Hannah blinzelte überrascht. Hatte er sie gerade gebeten, sein Schiff zu führen? »Meinst du das ernst?«, fragte sie unsicher nach. Er nickte.
»Natürlich nur gegen eine angemessene Bezahlung.«
»Aye! Ich wusste, die Sache hat einen Haken!«
»Einen Enterhaken!«, witzelte Darren.
»Besser als eine Hakenhand«, sagte Hannah ernst.
»Bekomme ich nun einen Kuss oder nicht?« Darrel kam Hannah nun sehr nah und Hannah spürte, wie ihr Herz aufgeregt zu pochen begann. Sie hatte Darrel bereits in ihr Herz geschlossen, als sie seine Güte und Freundlichkeit in Serenity Bay gesehen hatte. Jemand, der sich so um andere sorgte und dabei nicht auf eine Gegenleistung aus war, musste ein guter Mensch sein.
»Darf ich dein Schiff auch dann steuern, wenn ich dich nicht küssen möchte?«, fragte sie, obwohl sie gerne seine Lippen auf ihren gespürt hätte. Darrel überlegte nur kurz.
»Natürlich, meine Liebe. Du bist die Sturmtochter. Wer könnte die Sturmwind besser führen als du?« In Hannah breitete sich eine ungeahnte Freude aus. Sie wusste nun, dass sie nicht mehr mit Darell kämpfen musste. Sie musste sich ihm nur noch hingeben.
»Okay!«, hauchte sie und legte ihre Hände um seinen warmen Hals. »Ich werde deine Kapitänin sein!«
»Und ich deine Schiffsratte«, grinste Darrel.
Als die Sonne dem Horizont entgegensank und das Wasser der türkisblauen See mit einem glitzernden Schimmer überzog, ging die Geschichte der vier Abenteuer fürs Erste zu Ende. Mit ihren persönlichen Schätzen im Arm sahen sie der Sonne entgegen, bereit für alles, was das Meer für sie bereithielt. Denn für Piraten wie sie, gab es immer eine neue Geschichte zu erzählen. Und diese Geschichte war noch lange nicht zu
Ende.
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