Das Stadtfest

"Hey, mach nicht so schnell!", schimpfe ich lachend mit meiner Freundin, die meine Taschen nicht gerade zaghaft in den Kofferraum schmeißt. Sie hetzt mich schon den ganzen Tag, als ob ihr Leben von diesem Fest abhängen würde.

"Dann trödle nicht rum! Hopp, hopp, wir müssen los, Luna."

"Sag mal, Mel, hat dich heute eine Biene gestochen, oder wieso flippst du so aus?", frage ich und versuche meine kleine Tochter in Ruhe in den Kindersitz zu bekommen. Gott sei Dank bekommt die kleine Kayla schlafend nichts mit.

"Das ist das Fest des Jahres, Luna! Alle werden da sein und wir müssen noch drei Stunden fahren."

"Mit -alle- meinst du natürlich Carlo, deinen unwiderstehlichen Urlaubsflirt." Ich weiß genau, was sie so in die alte Heimat zieht. Seitdem wir beide wegen dem Studium weggezogen sind, sind wir mindestens ein Mal im Jahr zum Stadtfest dort. Da Melissa alleinstehend war, machten wir ein Freundinnen-Wochenende daraus und mein Mann Noah blieb Zuhause. Letztes Jahr war ich nicht da. Kayla war erst geboren und ich hatte viel um die Ohren, doch Melissa hatte den Sommer ihres Lebens. So auch, wie das Jahr zuvor.

"Hey, ich bin eine erwachsene Frau, ich werde wegen einer flüchtigen Bekanntschaft doch nicht schon wieder ein ganzes Jahr warten und hoffen, ihn wieder zu treffen. Aus dem Alter bin ich raus!" Schmollend gibt sie sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.

"Hhm, klar. Du bist ja auch mit deinen dreißig Jahren total erwachsen. So erwachsen, dass du dich seit zwei Jahren nicht traust ihm zu sagen, was du wirklich fühlst." Ich setze mich auf den Beifahrersitz und Melissa steigt auch ein.

"Oh, Luna. Wenn du wüsstest! Aber er hat mir klar und deutlich gesagt, dass er nichts Festes will. Und vor allem wohnen wir so weit entfernt. Das wird nie was!" Sie startet seufzend den Motor und somit beginnt unser jährlicher Trip.

"Oh, Mel. Wenn du wüsstest!", denke ich und mein Herz macht einen Sprung bei der Erinnerung an das letzte Mal, als ich da war, während ich aus dem Fenster starre. Die Bäume und Häuser huschen an uns vorbei und der frische sommerlicher Wind weht mir dabei ins Gesicht.

*****

"Danke, Mum", sage ich und nehme meine kleine Kayla zu mir, nachdem meine Mum sie gefüttert und gewickelt hat, während ich meine Sachen reingebracht und mich frisch gemacht habe.

Diesmal habe ich mich dazu entschieden über das Wochenende bei meinen Eltern zu bleiben. Mit Kleinkind ist es erstens entspannter und zweitens möchte ich nicht mehr in diesen Häuschen am Strand sein. Zu viele Erinnerungen. Zu viele Gefühle! Und meine Eltern haben zugleich eine weitere Möglichkeit Kayla zu sehen.

Ich setze meine wunderschöne Tochter in den Kinderwagen, die fröhlich mit ihrem Teddy spielt, und ich kann nicht aufhören sie anzulächeln. Die großen hellgrünen Augen strahlen durch das Sonnenlicht und klimpern mit den langen Wimpern. Zaghaft streichle ich ihre Wange, um ihre Grübchen zu sehen, und tatsächlich lächelt sie mich fröhlich an. Genau das brauche ich jetzt. Das Lächeln meiner Tochter gibt mir so viel Kraft. So viel Mut. Ich atme tief durch und mache mich mit ihr auf den Weg.

Die etwa eine halbe Stunde Fußmarsch tut mir gut, bringt aber auch das Auf und Ab der Gefühle mit sich. Während die Sonne grell am Himmel scheint, weht der leichte Wind durch mein luftiges Sommerkleid und streichelt zart meine Haut. Meine Gedanken und Gefühle sind durcheinander. Ich weiß, er wird nicht da sein und trotzdem jagt mir die Erinnerung einen Schauer über den ganzen Körper. Mein Magen zieht sich augenblicklich zusammen, als mir die Lichterketten und die bunten Lampions ins Auge fallen.

Ich bin angekommen. Angekommen in der Vergangenheit. Es sieht alles genauso aus, wie damals. Mein Herz klopft so laut, dass ich das Gefühl habe es zu hören, und dieses unerträglich starke Gefühl breitet sich rasend schnell in meiner Bauchgegend aus. Ich muss zu meinen Freunden. Ich sollte mich ablenken, denn ich kann diesen Ort nicht meiden. Ich hätte keine logische Erklärung, wieso ich mein Heimatort, meine Familie und Freunde nicht besuche. Das was passiert ist, ist allein mein Geheimnis! Nein, UNSER Geheimnis. Meins, seins und das der Sterne ...

Nach den dicken Umarmungen meiner Freunde, die sehnsüchtig auf uns gewartet haben, machen wir uns zu acht los auf die Entdeckungstour des Festes. Fröhlich stampfen wir durch die Gassen, spielen Dosenwerfen, Fische angeln und alles, was sich so bietet, essen Eis und lachen ganz viel. Ich verdränge ganz bewusst mein Unbehagen.

Melissa kann sich kaum konzentrieren, denn ihre Augen springen hin und her auf der Suche nach ihrem Schwarm. Sie weiß ganz genau, dass er da ist. Aber in diesem Gewimmel ist es schwer jemanden zu finden, den man sucht ...

Als wir am Strand ankommen, setz schon die Dämmerung langsam ein und die Lichterketten und die bunten Lampions, die über den Menschenmassen schwanken, kommen so richtig zur Geltung. Auf dem Sand, direkt vor dem Fluss, ist die Bühne aufgebaut, wo die Band schwungvolle Sommerliche Melodien spielt. Einige Besucher bewegen sich gelassen zu der schönen Musik. An der anderen Seite des Strandes befindet sich eine Bar mit Palmen und ganz vielen Lichtern, umsäumt von Strandliegen und Sitzgruppen, die alle besetzt zu sein scheinen. Meine Freunde finden nichtsdestotrotz ein Plätzchen und holen sich Cocktails. 

"Es war so schön euch wiederzusehen, meine Lieben, aber ich muss langsam los, die kleine Maus gehört ins Bettchen", beschließe ich, als ich auf die Uhr blicke.

Trotz der Einwände meiner Freunde, verabschiede ich mich, in dem ich sie alle ganz fest drücke und laufe nochmal zum Wasser, bevor ich aufbreche. Dieses Feeling kann ich mir nicht entgehen lassen, egal wie weh es innerlich tut.

Alles sieht so wunderschön aus. Ich nehme Kayla aus dem Kinderwagen und laufe mit ihr im Arm durch den weichen Sand zum Fluss. Kurz vor der Stelle, wo das Wasser leichte Wellen auf den Strand schlägt, bleibe ich stehen.

Diese Aussicht kenne ich viel zu gut, und trotzdem raubt es mir den Atem. Der weitläufige Fluss läuft am Horizont zu dem blauen Himmel über. Die untergehende, fast schon zu riesige Sonne spiegelt sich im Wasser und scheint durch die leichten Wellen zu tanzen. Ich atme die leichte, kühle Briese ein und schließe dabei die Augen. Dieser Duft! Duft nach Sommer, Wasser und nach Vergangenheit ...

All die Gefühle, die ich seit Stunden von mir unterdrückt werden, breiten sich in jenem Augenblick in mir aus - und ich lasse es endlich zu. Es sind wunderschöne Gefühle, genau wie damals vor zwei Jahren.

Ich genieße diesen einzigartigen Moment, lausche der Musik und den Wellen, bis ich meine Augen wieder öffne und mich schweren Herzens zum gehen abwende.

"Hey", höre ich.

Ich hebe meinen Blick und bleibe abrupt stehen. Augenblicklich stockt mir der Atem, mein Herz rast in meiner Brust. Am liebsten würde ich davonlaufen und nie wieder in diese Gott verdammte Gegend kommen, aber mein Körper gehorcht mir nicht ...

"Rico ...", hauche ich.

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