7.2. In Helmsdorf
Als die Sonne bereits bedeutend tiefer stand, langten Heinrich und seine Begleiter in Helmsdorf an. Am Rand des gleichnamigen Ortes stand die Burg Helmsdorf, die Heinrich unvermittelt ansteuerte.
Kaum hatten die Pferde einen Huf in den Burghof gesetzt, kamen auch schon Bedienstete des Grafen an und begrüßten die Ankömmlinge. Schließlich kam auch Graf Lothar und seine Frau Gisela aus dem Burginneren geeilt, denn sie hatten aus dem Fenster das Wappen von Bernstein erkannt. Da sie ihren Sohn Johannes unter den Rittern des Grafen wähnten, wollten sie ihn sogleich freudig begrüßen.
Als sie aber vor dem Bernsteiner standen, bemerkten sie, dass ihr Sohn gar nicht dabei war. „Graf Heinrich", rief Lothar von Helmsdorf, „wo ist Johannes?" Unsicher blickte er die Ritter des Bernsteiners an, von denen er einige nicht kannte. Johannes war immerhin nicht bei den Verlustmeldungen der nuntii aufgezählt worden, daher musste er doch an der Seite des Grafen sein.
Heinrich seufzte einmal, stieg ab und überlegte, wie er die Sache am Besten ansprach. Doch bevor er was sagen konnte, ertönte plötzlich eine junge Frauenstimme vom Burgeingang. „Andreas!", rief eine blonde Dame, die dort stand, und rannte sogleich auf den angesprochenen Ritter zu.
„Johanna", rief Andreas freudig, stieg eilig ab und öffnete seine Arme weit. Im nächsten Moment rauschte die Dame in sie hinein und umarmte Andreas fest.
Hugo schmunzelte.
Während sich die Beiden herzten, kam der Graf von Helmsdorf auf seine Frage zurück und erkundigte sich nach seinem Sohn.
Daraufhin erhob Heinrich seinen Blick und sah den Helmsdorfer lange an. Dann begann er, mit einer ruhigen und festen Stimme etwas zu erzählen. Heinrich verzog keine Miene, während die Worte aus seinem Munde kamen, die er sich zuvor zurechtgelegt hatte. Bei den Eltern seines Ritters konnte er aber erkennen, wie dessen fragende Mienen sich immer mehr mit Schrecken füllten.
Schließlich stand Lothar von Helmsdorf mit offenem Mund und schmerzvollem Blick da. Gräfin Gisela brach plötzlich in Tränen aus und verbarg ihr Gesicht an der Schulter ihres Mannes. Heinrich sagte seine letzten Worte und neigte dann traurig sein Haupt. Der Helmsdorfer wirkte versteinert und hatte Tränen in den Augen, während seine Frau ihn umarmte und an seiner Schulter schluchzte. In ähnlicher Weise hatte auch Johanna ihren Kopf an Andreas' Schulter verborgen. Auch die Dienerschaft wirkte wie gelähmt und stand unsicher um den Grafen und den Ankömmlingen herum.
So blieben alle eine Weile stehen. Heinrich schwieg anstandsvoll und sagte nichts mehr. Auch kein Anderer wagte das.
___
Eine Stunde später saßen alle zusammen im großen Hauptraum um den Esstisch versammelt. Lothar und Gisela von Helmsdorf hatten sich wieder etwas gefasst, wenngleich man ihren Gesichtern die traurige Enttäuschung ansah. Inzwischen hatte die Dienerschaft der Burg das Abendessen herbeigebracht: Brote, Schinken, eingepökeltes Salzfleisch und einige Früchte. Dazu gab es einen großen Krug Met, den der Helmsdorfer von einem prussischen Händler erwerben konnte.
Lothar saß angespannt da und bekam kaum einen Bissen herunter. Mit leerem Blick schaute er geradeaus und dachte an seinen Sohn Johannes.
Heinrich bemerkte das und meinte: „Ihr könnt wirklich stolz auf ihn sein." Als der Helmsdorfer ihn ansah, nickte er leicht zuversichtlich. „Es war eine Ehre, ihn als Ritter an meiner Seite zu haben", ergänzte er und warf den Eltern einen anerkennenden Blick zu.
Gisela von Helmsdorf setzte ein wehmütiges Lächeln auf. Graf Lothar nickte und wischte sich dabei eine Träne aus dem Auge.
Heinrich räusperte sich und fuhr ruhig fort: „Und ich bin mir sicher, dass er auch bei dieser gewagten Unternehmung sofort bereit gewesen wäre, alles zu geben." In Gisela's und Lothars traurigem Blick gesellte sich ein gewisser Stolz. Inzwischen hatte Heinrich ihnen berichtet, aus welchen Gründen sie noch nach Helmsdorf gekommen waren. Die Mitteilung, dass die Elder-Chronik aufgetaucht war, erstaunte auch die Helmsdorfer Familie. Diese Neuigkeit war so unfassbar, dass sie ein wenig den Verlust über Johannes mildern konnte. Und dann war da ja noch die bevorstehende Hochzeit zwischen Johanna und Andreas...
„Tja, das ist wirklich unglaublich", gab Lothar von Helmsdorf von sich. „Dass sich welche von uns mal nach Austria schleichen müssten, um diese Chronik zu stehlen." Er schaute Heinrich durchdringend an. „Es ist ziemlich gewagt", meinte er nur mit vielsagendem Blick. „Aber ich kann Euch und die anderen Grafen gut verstehen", fuhr er sogleich fort. „Das können wir nicht einfach so hinnehmen. Und Ihr habt recht: auch Johannes hätte es so gesehen und Euch ohne zu zögern geholfen."
Gisela schaute die Gäste am Tisch an. „Hat denn keiner von Euch eigentlich Furcht bei der Sache? Das ist doch alles wahrhaft aufregend."
Die Ritter schauten verlegen nach unten. Hugo schmunzelte.
„Furcht", erwiderte Heinrich darauf seufzend, „können wir uns in diesen Zeiten einfach nicht leisten." Er sah Gisela von Helmsdorf müde an und zog seinen Mund schief.
Die Gräfin schaute zu ihrem Mann und meinte: „Ach – es ist ja auch eigentlich ziemlich spannend. Das wäre ja wirklich was, wenn das Geheimnis von Allerlanden gelöst würde."
Lothar wog seinen Kopf hin und her: „Na ja – erstmal müssen sie die Chronik kriegen." Er sah zu Heinrich. „Das wird nicht einfach", meinte er schlicht. „Und da Ihr jede Hilfe gebrauchen könnt, steht es für mich außer Frage, dass ich Euch helfe. Was immer Ihr braucht – zählt auf mich."
Heinrich lächelte leicht und nickte ihm dankbar zu.
„Gern kann ich Euch noch einen oder zwei Ritter mitgeben", schlug der Helmsdorfer sogleich vor.
Heinrich winkte sanft ab. „Lasst nur", sagte er wohlwollend, „der Trupp soll ja nicht zu groß werden. Mir scheint es ratsamer, noch ein paar Bogenschützen vom Eldthaler zu ergattern. Außerdem wird Richard Dalsmann sich uns noch im Eldthal anschließen."
„Ach ja – richtig", erwiderte Lothar von Helmsdorf und strich sich nachdenklich einmal durch den lockigen Vollbart. Dann blickte er Heinrich vielsagend an und ergänzte: „Ich kann Euch nur raten, beim Gespräch mit dem Eldthaler immer sehr souverän aufzutreten. Höflichkeit und Respekt sollte man zeigen – ja – aber in der Sache müsst Ihr total überzeugend sein, sonst hält er Euch für einen Schwächling."
Heinrich brummte und dachte sich seinen Teil. Die Worte waren nicht gerade ermunternd.
„Keine Bange, Bernstein", sagte der Helmsdorfer daraufhin wohlwollend, „ich denke, Ihr seid jemand, der diesen Spagat hinbekommt." Er schaute freundlicher und schlug Heinrich kameradschaftlich auf die Schulter.
„Es ist dann vielleicht auch gar nicht so verkehrt, dass Ihr mit wenig Begleitern ins Eldthal reist", meinte Gisela dazu. „Der Eldthaler würde sich sicherlich bedrängt fühlen, wenn so viele Leute und mehrere Grafen bei ihm aufschlügen."
Heinrich nickte ihr zustimmend zu.
„Abgesehen davon", warf Lothar ein, „traut er den anderen älteren Grafen nicht so recht." Er schaute Heinrich einen Moment an, dann fügte er hinzu: „Aber mit mir hat er ein gutes Verhältnis. Richtet ihm daher einen besonderen Gruß aus und teilt ihm mit, dass ich auf jeden Fall hinter der Sache stehe. Das könnte helfen."
„Danke, das werde ich tun", erwiderte Heinrich und lächelte zaghaft.
Der Helmsdorfer seufzte einmal und dachte an die anderen Grafen. „So – und der Gotenfelser will also tatsächlich Lukan ausfindig machen, ja?", warf er ein.
Der Bernsteiner nickte. „Er war sich sicher, dass sich eine Spur zu ihm finden lässt."
„Hhm", schnaubte Graf Lothar, „wollen wir hoffen, dass er die Sache auch ernst nimmt."
Heinrich dachte sich seinen Teil und sagte nichts dazu. Offensichtlich misstraute nicht nur der Eldthaler einigen Grafen...
„Also mit Lukan wäre das ja wirklich möglich", meinte Gisela und schaute ein wenig aufgeregt. „Das mit dem Geheimnis meine ich."
Dagegen wusste keiner was einzuwenden. Aber Heinrich war es lieber, jetzt erstmal daran zu denken, die Chronik zu erlangen. Über alles Weitere brauchten sie erst nachdenken, wenn sie das Schriftstück der Elder tatsächlich in Besitz genommen hatten. Er tauschte einen Blick mit dem Helmsdorfer und erkannte an dessen Gesichtszügen, dass er das ähnlich sah.
„Ähh – Vater, Mutter", ergriff Johanna nun das Wort, „wenn ich mal etwas sagen dürfte: was ist denn nun mit der Hochzeit? Wollten wir nicht auch darüber sprechen?"
Alle Blicke wanderten zum anderen Ende des Tisches, an dem die Grafentochter an der Seite von Andreas saß und mit ihm Händchen unter dem Tisch hielt.
„Nun ja...", gab der Helmsdorfer gedehnt von sich, „das müsste ja tatsächlich noch besprochen werden. Was meint Ihr dazu, Bernstein?"
Heinrich sah Lothar und Gisela kurz an. Aus einem Impuls heraus, lehnte er sich plötzlich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und setzte eine fröhliche Miene auf. „Ach, wisst Ihr, Fräulein Johanna", sagte er dann schmunzelnd, „das können Euer Vater und ich eigentlich auch noch morgen besprechen."
Dem Helmsdorfer und seiner Frau entfuhr daraufhin ein kurzes Lachen – das erste an diesem Tag. Lediglich Johanna zog einen schiefen Mund und wirkte leicht verärgert.
Heinrich nahm es ungerührt zur Kenntnis und grinste sie und auch seinen Ritter Andreas mit verschränkten Armen gelassen an.
___
Für Lothar und Gisela von Helmsdorf stand es außer Frage, dass der Graf von Bernstein und seine Begleiter über Nacht bleiben. Noch während des Abendessens hatte Gräfin Gisela ein paar Mägde angewiesen, einige Zimmer entsprechend herzurichten.
Heinrich nahm dieses Angebot dankend an. Aufgrund des überraschenden Umstandes, dass sie der Oberpriester direkt am Jahresmittetag hatte aufbrechen lassen, waren sie gut in der Zeit, um nach Austria zu kommen. Die Ankunft im Tal der Elder war sowieso erst für den nächsten Tag geplant gewesen.
Zum Unglück von Johanna und Andreas hatten die Mägde sehr darauf geachtet, dass der Ritter möglichst weit weg vom Zimmer seiner Verlobten untergebracht war. Wenigstens durfte er seiner Liebsten noch im Beisein eines Knechtes eine gute Nacht wünschen. Mehr als ein paar Küsschen war für das angehende Paar aber nicht herauszuholen. Andreas nahm es gelassen und freute sich lieber auf den Morgen, an dem er noch einmal mit Johanna frühstücken durfte.
Am nächsten Morgen standen die Helmsdorfer im Burghof Spalier, als Graf Heinrich mit seinen Rittern aufbrach.
Lothar von Helmsdorf hatte es sich nicht nehmen lassen, dem Grafen einen neuen Helm zu besorgen, ebenso auch einigen Rittern. Dank der Schmiede des Ortes, in der schon immer vor allem Helme hergestellt wurden, gab es immer genug Vorrat an diesem Rüstzeug. Und die Helme des Ortes wurden praktisch auf dem ganzen Kontinent verkauft und waren für ihre einwandfreie Robustheit bekannt.
So kam selbst der altgediente Ritter Friedbert aus Hegelin nach Jahren endlich mal wieder zu einem neuen Helm. Er freute sich aufrecht über diese Gabe und bedankte sich mit den Worten: „Dann brauche ich ja Graf August damit nicht mehr behelligen."
Gleich darauf saß er auf und die Ritter Dederich und Hugo taten es ihm nach. Heinrich sattelte erst noch sein Pferd und wechselte ein paar Worte mit Gisela und Lothar.
Etwas abseits von allen stand Andreas und hielt Johanna im Arm. „Dann bis auf bald", sagte Johanna und schmunzelte möglichst hoffnungsvoll. Sie versuchte, die aufkommenden Tränen zu verdrängen.
„Ja", sagte Andreas nur und nickte fest. „Es wird schon gutgehen", tröstete er seine Braut. „Du weißt ja: mich kriegt nichts so schnell auf den Boden." Er lächelte und küsste Johanna lang und sinnig auf den Mund.
Das zauberte auch der Grafentochter ein Schmunzeln ins Gesicht. Sie nickte mehrmals und vermochte es dadurch, den Sehnsuchtsschmerz nicht zu groß werden zu lassen. Das Letzte, was Andreas gerade brauchte, war eine heulende Verlobte, die es ihm schwer machte, loszureiten.
Andreas streichelte ihr aufmunternd über die Schulter. „Spätestens im September bin ich wieder hier", meinte er schmunzelnd.
Johanna küsste ihn daraufhin noch einmal auf die Stirn. Beiden stand die Freude auf die bevorstehende Hochzeit ins Gesicht geschrieben. Denn wie versprochen, hatten Graf Heinrich und ihr Vater beim Frühstück darüber geredet. Durch das Abenteuer um die Elder-Chronik war eine recht baldige Hochzeit zwar nicht möglich. Doch auch am Beginn des Oktobers war das Wetter in Allerlanden noch einigermaßen angenehm und so hatten die Grafen beschlossen, dass die Hochzeit am 1. Oktober stattfinden sollte. Dies war zugleich der erste Harmontag des Monats Oktober und damit noch fast genau neun Wochen entfernt. Die Helmsdorfer versprachen, alles bis dahin für dieses Ereignis auszurichten und das Aufgebot zu bestellen. Gleichzeitig würde der Helmsdorfer den Oberpriester und den Kantonat von Golddorf informieren, der die Trauung durchführen würde.
Heinrich war darüber sehr dankbar, konnte er sich damit ungestört der geplanten Unternehmung widmen. Auch würde der Oberpriester eine Information wegen der Hochzeit erhalten, was seine Reisepläne gut verschleierte. Denn dem alten Ancellus hatte er ja die Vereinbarung einer Hochzeit als Grund für seine sofortige Reise nach Helmsdorf mit genannt. Der alte Fuchs wartete daher natürlich auch auf die Nachricht über einen Hochzeitstermin. Und genau den würde ihm der Helmsdorfer nun brieflich mitteilen. Tja – und wohin Graf Heinrich dann als Nächstes reiste, war ja schließlich seine Sache...
Als Heinrich endlich aufsaß, löste sich auch Andreas von Johanna und stieg geschmeidig auf sein Pferd. Der Graf von Bernstein neigte leicht sein Haupt und hob eine Hand zum Gruß. Er war froh, in dem Helmsdorfer einen Verbündeten gefunden zu haben, bei dem man nötigenfalls auch mit der Chronik unterkommen konnte.
Lothar, Gisela und Johanna, die nun an die Seite ihrer Eltern getreten war, hoben ebenfalls die Hand zum Abschied. Dann rief Heinrich einmal laut „Ho!" und gleich darauf preschte der kleine Trupp los.
Andreas wandte sich als Letzter um und warf Johanna noch schnell einen Handkuss zu.
Kurz darauf war der Reitertrupp verschwunden und die Helmsdorfer wandten sich langsam um und betraten ohne ein Wort zu sagen die Burg.
Einzig Johanna seufzte wehmütig.
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