7.1. Die große Brücke
Majestetisch strahlten Heinrich und seinem Trupp die geschwungene Weite der Felder entgegen. Sie hatten nicht viel Zeit vertan und waren etwa zwei Stunden nach dem Mittagsmahl von Golddorf aufgebrochen. Alle wichtigen Sachen, die der Graf brauchte, hatte er zuvor dem Karren entnommen, den sein Diener Kunibert mit zum Mediesfest geführt hatte. Die Bündel mit Wechselkleidung und Vorräten prangten nun an den Flanken von Hugos und Andreas' Pferden.
Neben diesen Beiden wurde Heinrich nun begleitet von Friedbert, dem treuen Ritter von Graf August, den dieser ihm für das Abenteuer in Austria überlassen hat, sowie einem Ritter namens Dederich, den Winfried von Gernsheim wie versprochen abgestellt hatte.
Seinen Diener Kunibert hatte Heinrich aber nicht mitgenommen. Der sollte sich ruhig am Mediesfest erfreuen und dann wieder direkt zur Burg Bernstein zurückkehren. Denn die gute Emma sollte schließlich nicht allzu lange allein auf der Burg ausharren. Kunibert hatte diese Anweisung des Grafen natürlich mit einem freudigen Nicken entgegengenommen.
Mit nun insgesamt vier Rittern an seiner Seite, statt nur zweien, fühlte sich Heinrich wesentlich sicherer. Inzwischen waren auch alle Ritter eingeweiht worden. Hugo und Andreas hatten staunende Mienen zur Schau gestellt, als ihr Herr ihnen die Sache mit der Elder-Chronik erzählte. Nachdem sie aber begriffen, dass sie bei diesem entscheidenden Abenteuer an vorderster Front mitwirken sollten, waren sie sogleich begeistert. Hugo sah darin eine gute Möglichkeit, Ruhm zu erwerben, und sein Freund und Weggefährte Andreas war sowieso für jedes Wagnis zu haben.
Zu fünft preschten sie teilweise nebeneinander auf der zwar sandigen aber doch breiten West-Ost-Straße entlang, die in dieser Richtung noch viele hundert Milen weit bis ins Königreich Pruzen hinein verlief. Glücklicherweise mussten sie soweit ja gar nicht.
Nach einiger Zeit kam der große Fluß Eld in Sichtweite. Schon von weiter weg hatten Heinrich und seine Begleiter zwei helle, fast weiße Säulen gesehen, die an einer bestimmten Stelle des Horizonts aufragten. Als sie ein kleines Wäldchen durchquert hatten und eine weitere Biegung passierten, hörten sie bereits das Wasser rauschen. Und zugleich sahen sie auch das besondere Bauwerk, das jeder Drelder aus dem Schulunterricht kannte: über den ziemlich breiten Fluss hatten die Elder einst eine große Brücke aus Stein errichtet.
Sobald man vor diesem Gebilde stand, kam man nicht umhin, es zu bewundern. Direkt am Flussufer setzte der Sandweg aus und wich einer gepflasterten Straße aus hellem, weißen Gestein, die in einem kurvenförmigen Bogen über den Fluss verlief. An der linken und rechten Seite besaß dieser Übergang jeweils einen höher gesetzten Rand aus dem gleichen Gestein, wodurch die ganze Brücke noch breiter und eleganter aussah.
Das Auffälligste aber waren die beiden hohen, fast schon turmartigen Säulen, die genau in der Mitte der Brücke – an deren höchsten Erhebung – links und rechts in die Brückenränder eingearbeitet waren und dem ganzen Gebilde seinen Halt gaben. Sie reichten bis in den Fluss hinein und waren dort mit einem breiten Fuß im Flussbett verankert worden. Nach oben hin ragten sie aber höher auf als die Türme eines Harmonizils, weswegen sie schon von weiter weg zu sehen waren. Am Ende besaßen diese breiten Säulen einen silbernen Knauf.
Was aber ganz besonders Aufmerksamkeit erregte, war das breite Steinrelief, das ziemlich weit oben als Verbindung zwischen den Säulen eingearbeitet war. Es gab der Brücke sein markantes Aussehen und sorgte zudem für einen stabilen Halt der hoch aufragenden Säulen.
Heinrich und seine Begleiter verlangsamten ihren Ritt, als sie nahe vor der Brücke waren. Als sie schließlich direkt vor dem steinernen Anstieg standen, blieben sie sogar eine Zeitlang stehen und bewunderten das große Bauwerk der Elder. Das fast weiße Gestein, das noch edler und glänzender war als Marmor, leuchtete hell und schien das Sonnenlicht auf vielfältige Weise zu brechen und ein Stück weit wieder zu spiegeln.
Dazu die riesigen Ausmaße der Brücke und der Säulen. Denn der Eld war so breit, dass jedem das gegenüberliegende Flussufer wie die andere Seite eines kleinen Sees vorkam. Mit einem Boot brauchte man 20 Ruderschläge, um über den Eld hinüberzukommen. Entsprechend gigantisch hatten die Elder ihre Brücke errichtet. Von dieser Seite des Gebildes konnte man entgegenkommende Reiter nicht mit bloßem Auge ausmachen – das verhinderte der große bogenförmige Verlauf der gepflasterten Brücke, der kurvenförmig bis zur Mitte anstieg und auf der anderen Seite genauso wieder abfiel.
Dazu die gewaltigen runden Säulen, die fast schon so breit wie Leuchttürme wirkten. Stand man direkt vor der Brücke, musste man sehr hoch aufblicken, um ihr oberstes, silbernes Ende zu sehen. Auch das Steinrelief zwischen den Säulen wirkte zwar wie ein schmales, gepflastertes Bild, doch war der Abstand zwischen der oberen und der unteren Kante des Reliefs größer als ein ausgewachsener Mensch.
Heinrich stand leicht links vor der Brücke und betrachtete das Monument. Obwohl er schon ein paar Mal in seinem Leben diese Stelle passiert hatte, bekam er wie immer eine regelrechte Gänsehaut. Auch die anderen Ritter hatten ihre Unterhaltungen eingestellt und bestaunten das Bauwerk. Selbst beim altgedienten Friedbert, der schon so Manches in seinem langen Ritterleben gesehen hatte, war eine deutliche Ehrfurcht in den Gesichtszügen zu erkennen.
Heinrich hob seinen Kopf hoch und bestaunte das Steinrelief. Mitten auf diesem besonderen Zwischenstück strahlte einem das Auge Harmons entgegen, das dort mit andersfarbigen Steinen eingearbeitet worden war. Es hatte die Form eines riesigen Ovals in Rottönen. Auch ein Lid war zu erkennen, denn das Auge war nur halb geöffnet. Im unteren Teil des Ovals sah man weiße Steine, in deren Mitte eine halbrunde Pupille in stechendem Grünton eingearbeitet war. Obwohl das Auge des Gottes immer nur in dieser halbgeöffneten Weise gezeigt wurde, wirkte der Blick wissend und strafend. Über dem Oval des Auges thronte zudem eine Augenbraue in den gleichen Rottönen, die aufgrund ihrer Form einer zackigen Linie dem Auge eine gewisse Strenge verlieh.
Missmutig betrachtete Heinrich das besondere Symbol. Es sollte die Präsenz des Gottes Harmon in dieser Gegend symbolisieren. Auch auf der anderen Seite des Reliefs war ein gleichartiges Gegenstück eingearbeitet worden. Doch Heinrich und auch die anderen Ritter wussten aus den Erzählungen ihrer Väter und Vorväter, dass vor einigen hundert Jahren dort noch ein ganz anderes Symbol gewesen war. Denn die Elder hatten die Brücke natürlich ihrem Gott Dreld gewidmet und daher befand sich ursprünglich auf dem Steinrelief das Bildnis eines Drachenkopfes, der nach links schaute. Das Symbol für den Gott Dreld.
Die Harmonier hatten den Wert der Brücke natürlich erkannt, doch konnten sie die Verehrung für Dreld nicht hinnehmen. Deshalb war der Drachenkopf nach einiger Zeit aus dem Relief herausgeklopft und durch das Auge Harmons ersetzt worden.
Die Ritter bestaunten noch einen Moment lang die Brücke.
Heinrich ließ sie gewähren. Eine kurze Rast konnte dem Trupp nicht schaden.
Schließlich trabte er los, sah die anderen einmal der Reihe nach an und nickte nur Richtung andere Seite. Kurz darauf setzten alle Pferde einen Fuß auf den gewaltigen Übergang. Elegantes Getrappel ertönte, als die Hufe der Tiere über die gepflasterte Anhöhe schritten.
Die Ritter betrachteten den steinernen Übergang und staunten über die Baukunst der Elder. Erst von dichtem war zu erkennen, dass die Brücke tatsächlich aus vielen einzelnen gepflasterten Steinen bestand. Diese waren aber so dicht und so perfekt aneinander gesetzt worden, dass man die feinen Rillen zwischen den Steinen erst sah, wenn man sie direkt passierte. Die Harmonier versuchten seit Jahrhunderten diese perfekte Bauweise nachzuahmen, hatten es aber bislang nicht geschafft. Ihre gepflasterten Straßen waren nie ganz eben, besaßen kleinere Lücken und Unzulänglichkeiten. Der gepflasterte Weg über die Elder-Brücke war aber so perfekt gerade und eben, dass eine Kutsche ohne irgendein Geruckel regelrecht hinübergleiten konnte.
Auch Heinrich und seinen Begleitern fiel auf, wie gut es sich auf der Brücke ritt. Zu fünft schritten sie vorwärts und erreichten gerade den höchsten Punkt zwischen den beiden Säulen. Sie konnten auch problemlos nebeneinander reiten, ohne sich zu behindern. Dennoch sahen die Reiter von weiter weg ein wenig verloren auf dem großen Gebilde aus. Der gepflasterte Weg war so breit, dass vier Kutschen nebeneinander hinüberfahren konnten, ohne sich zu berühren.
Die fünf Reiter trabten langsam auf die andere Seite und genossen die Aussicht. Der Eld rauschte gemütlich unter ihnen entlang und schien in beide Richtungen unendlich lang zu sein. Jenseits der Säulen schaute Heinrich nach links und sah dem davonströmenden Wasser hinterher. Es floss in direkt nördlicher Richtung davon, wo es dann viele Milen entfernt auf den Greifenstein aufschlagen würde, dem großen, zerklüfteten Felsengebilde, das direkt in der Mündung des Elds stand und an dem sich der Fluss ins Meer zerteilte. Nach diesem Greifenstein war auch die Grafschaft von Philipp und Julius benannt, die sich rings um diesen Ort herum zu beiden Seiten des Eld erstreckte.
Heinrich dachte an die beiden Zwillinge, die er auch gerne auf seiner Reise dabeigehabt hätte. Sicherlich würden sie auf dem Ritterturnier eine gute Figur machen und vielleicht sogar den aufgeblasenen Golddorfer besiegen. Dieser Gedanke brachte Heinrich zum Schmunzeln.
Nach einigen weiteren Huflängen langte der Trupp auf der anderen Seite der Elder-Brücke an. Damit betraten sie nun nicht nur die Grafschaft Helmsdorf, sondern auch den östlichen Teil Allerlandens, in dem das Königreich Pruzen großen Einfluss besaß.
Ohne anzuhalten ritten sie weiter. Nacheinander drehten sich alle noch einmal um und warfen einen letzten Blick auf das besondere Bauwerk. Argwöhnisch schaute Hugo auf zum Auge Harmons, durch das er sich beobachtet fühlte.
Schließlich erhöhte Heinrich das Tempo und der Trupp preschte dem Ort Helmsdorf entgegen, der schon in der Ferne zu sehen war.
Das Auge Harmons auf dem Steinrelief schien den Wegreitenden unwillig hinterher zu starren.
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