6.7. Unterwegs in den Wäldern

Marus Celerior kniete noch einen Moment vor dem schlichten Altar. Dann richtete er sich auf und ging zu dem Priestergehilfen, der in diesem Ort namens Waldesheim die Messe zum annimedies gehalten hatte.
Er stellte sich vor ihm hin und suchte nach den richtigen Worten. Allerdings vermochte er es nicht wirklich, in der Niedersprache zu reden. „Dank...tibi...sago...", brachte er schließlich mühsam hervor.
Der Priestergehilfe nickte nur ergeben. Er konnte sich schon denken, was der Securio meinte.
Wie zufällig trat plötzlich Serpentius heran und meinte zum Priestergehilfen: „Mein Herr möchte sich nur bedanken. Für die gute Messe."
Der Gehilfe staunte nicht schlecht, hatte dieser blonde Jüngling doch eine bemerkenswert gute Aussprache für einen Harmonier. „Oh – das ist... das ist... ach, lassen Sie nur", stammelte der Priestergehilfe unbeholfen. Nicht nur für ihn war es ungewöhnlich, dass echte Harmonier seiner Messe beiwohnten.

Celerior nickte einmal dazu, dann wandte er sich um und machte seinen Männern ein Handzeichen, dass er aufzubrechen gedachte. Daraufhin gesellten sich auch die anderen Soldaten zu ihm und Serpentius und die anderen Männer verließen gemeinsam das Harmonizil.
Draußen standen noch allerhand Bewohner von Waldesheim und unterhielten sich nach der erlebten Messe miteinander. Nicht wenige redeten dabei auch über die seltsamen Gäste aus dem Süden, die dem Feiertag beigewohnt hatten.
Kaum verließen die acht Harmonier das Harmonizil, stockten plötzlich die Gespräche. Alle schauten ehrfürchtig und auch misstrauisch auf den bewaffneten Trupp. Mit ihren vergoldeten Rüstungen und den roten Umhängen passten sie einfach nicht ins Bild dieser Landschaft. Es kam auch nicht oft vor, dass Harmonier durch Allerlanden streiften. Das letzte Mal ist nun sieben Jahre her – damals, als die Goten die Grafschaften so zahlreich überfallen hatten...

Marcus Celerior kümmerte es wenig, was die Bewohner dieses Ortes dachten. Gedanklich war er schon bei einem neuen Plan. Schnurstracks ließ er seine Männer aufsitzen und ritt einen Wimpernschlag später auch schon wieder zum Ortsende hinaus. Dank seines besonderen Reiseprivilegs hatte er inzwischen auch einen neuen Gaul vom Vormann des Ortes erhalten.
Am Ortsausgang ließ er den Trupp anhalten. „Ich denke, wir wissen alle, wohin Goelius als Nächstes gehen wird", warf er in die Runde und prüfte in den Gesichtern, ob jeder verstand, worauf er hinaus wollte.
„Sie denken also wirklich, dass der Mann im Schilf Goelius war?", wagte Serpentius zu fragen.
Celeriors Kopf ruckte sofort zu ihm herum und warf ihm einen stechenden Blick zu. „Bei den Höllenpforten des Barridos – ja!"
Serpentius senkte seinen Kopf leicht, hielt seinem Blick aber stand. 

Der Securio schaute alle anderen der Reihe nach an und meinte: „Von der Beschreibung her war eindeutig er das. Aber wie es scheint, hat sich eine Edura erdreistet, sich ihm anzuschließen." Er knurrte missmutig. „Was das bedeutet, haben wir ja im Schilf erlebt", fuhr er verärgert fort. „Doch sei es drum – wenn sie durch den Wald gehen, wäre das nächstmögliche Versteck die Hütte im Wald bei Gescanius. Und dazu müssen sie – na?!" Mit hochgezogener Augenbraue musterte er seine Soldaten.

„Über den Ursus", brummte Gaurion schließlich.
„Genau", erwiderte Marcus Celerior wissend. „Und glücklicherweise gibt es in der Nähe nur einen Übergang über den Fluss." Wieder prüfte er die Gesichter, doch waren die Meisten noch nie in diesem Teil von terra omnium gewesen.
Da keiner antwortete, erklärte der Securio schließlich, was er meinte: „Wenn wir dem Hauptweg nach Norden folgen, kommen wir zu der einzigen Brücke über den Ursus. Kurz bevor man in den Ort Gescanius kommt. Und dort werden wir ihnen auflauern, denn an anderer Stelle über den Fluss kommen zu wollen, wäre ziemlich lebensgefährlich."
Marcus Celerior grinste wissend. Mochte Goelius ihm auch bei der Wehranlage entkommen sein – für ihn lag es wie ein offenes Buch zutage, was er jetzt nur vorhaben konnte.
Da seine Männer keine weiteren Fragen zum neuen Plan hatten, setzte der Trupp gleich darauf seine Reise nach Norden fort.

___

Schweigend streiften die Flüchtigen durch den Wald. Elvira betrachtete ihren Herrn mitfühlend von der Seite. Der gelehrte Mann stierte verärgert auf den Boden und achtete nur auf seine Schritte. Sie wusste genau, was ihm durch den Kopf ging. Er hatte richtig vorausgeahnt, dass das Heilige Königreich nach ihm suchen würde. Wegen der Sache, die bei den Attanen geschehen ist. Daher war es sehr ärgerlich, dass sie nun aufgeflogen waren.
Ihr Meister hatte nämlich den Plan gehabt, sich solange im Schilf zu verstecken, bis die Harmonier ohne eine Spur wieder abgezogen wären. Danach hätten sie in aller Ruhe zu den alten Katakomben zurückkehren und sich weiter dort aufhalten können. Denn die Harmonier hätten sie überall woanders gesucht, aber nicht mehr dort. Doch jetzt war das vertan. Jetzt waren sie erneut auf der Flucht.
Elvira zog den Gurt ihrer Tragetasche enger und streifte weiter schweigend an der Seite ihres Meisters durch das Gras, das hier im Wald auf dem Moosboden wuchs. Sie hoffte, dass die Harmonier sie nicht erneut fanden.

Nach einer Weile machten sie eine Pause. Der alte Gelehrte war noch zu erschöpft von dem Davonhasten durchs Schilf. An einem hochgewachsenen Eichenbaum ordnete er eine Rast an. Daraufhin hielt Elvira an, nahm ihr Bündel ab und holte eine große dunkelblaue Decke daraus hervor, auf der genug Platz für sie beide war.
Während ihr Meister sich zum Dösen auf seiner Seite der Decke lang hingelegt hatte, begann Elvira erneut mit der besonderen Knetmasse zu arbeiten und formte größere Kugeln. Nach einer Weile erwachte der alte Gelehrte und bekam das mit. Er blinzelte mürrisch, doch eigentlich konnte er ihr nicht mehr böse darüber sein, dass sie eine Mäalström-Masse angefertigt hatte. Dadurch, dass sie nun gejagt wurden, konnte das noch eine gute Hilfe sein.
Er richtete sich auf und sagte versöhnlich: „Ah – du formst uns ein paar Zaubersteine."
Elvira blickte kurz auf, sah ihren Meister vielsagend lächeln und grinste. „Wie schon gesagt, Herr, wir müssen uns doch schützen können."

Der Gelehrte nickte nur friedlich. Dann wurde sein Blick plötzlich fester und er meinte entschlossen: „Dann form uns bitte auch einen Stein für Windzauber."
Elvira zog eine Braue hoch. „Inwiefern soll uns das helfen? Ich dachte, wenn ich Feuer- und Blitzzauber anlege..."
„Jaaa – das ist auch nicht verkehrt, meine Liebe", warf ihr Meister ein, „aber Windzauber brauchen wir auch bald." Er sah sie tiefgründig an und lächelte. Da Elvira nicht verstand, worauf er hinaus wollte, sprach er nach ein paar Augenblicken sogleich weiter: „Demnächst wird doch der Ursus unseren Weg kreuzen – der Bärenbach. Den können wir aber unmöglich über die Brücke bei Gesken überqueren. Die Harmonier werden genau das erwarten. Wenn wir aber Windzauber besitzen..."
Elvira's Gesicht hellte sich erkennend auf. „...können wir den Ursus an jeder anderer Stelle überqueren, indem wir hinüber fliegen", beendete sie den Gedanken ihres Lehrers. „Das ist genial, Meister", lächelte sie bewundernd. „Dann mache ich vom Rest der Masse diesen Stein."
Der alte Mann neigte seinen Kopf zur Seite und zwinkerte ihr wissend zu. Beide wussten, dass die Kluft des Bärenbachs nicht so einfach zu überspringen war, da die andere Seite des Baches, die zur Grafschaft Bernstein gehörte, auf einer höheren Ebene lag, als auf dieser Seite. Warum das eigentlich so war, wusste niemand. Doch mit einem Windzauber war das Überqueren einer solchen Hürde kein Problem.

Eifrig formte Elvira alle Steine fertig und machte sich an den Zauberstein für Windzauber. Der Gelehrte hatte inzwischen ein kleines Büchlein hervorgezogen und schlug etwas nach. Plötzlich hörten beide Geraschel und Knurren. Elvira sog erschrocken die Luft ein und sah sich um. Ihr setzte fast das Herz aus. Wölfe! An drei Seiten ihres Lagerplatzes hatten sich fünf Wölfe herangeschlichen und beäugten sie knurrend. Auch der Gelehrte bekam dies schließlich mit und erschrak laut.
Elvira zitterte, bewegte ihre Hände aber dennoch langsam nach rechts, zu einem der Steine. „Nicht bewegen, Meister...", flüsterte sie. Ihr Herr hätte das sowieso nicht vermocht. Die Wölfe knurrten gefährlich und fletschten die Zähne. Jeden Moment würden sie auf einen Schlag losspringen. 

Elvira nahm den speziellen Stein vorsichtig auf. Doch kaum hatte sie ihn fest umschlossen, sprang sie plötzlich entschlossen auf. Dabei strich sie mit den Händen mehrfach über den Stein. Schon fühlten sich drei der Wölfe provoziert und wollten auf sie springen, als der Stein im selben Moment anfing zu leuchten und einen summenden Ton von sich gab. Die Wölfe hielten für einen Moment inne. Das Knurren nahm sogar ab. Halb erstarrt registrierte der Gelehrte, was seine Schülerin vorhatte.
Der Stein in Elvira's Hand leuchtete nun dunkelblau und wirkte fast wie eine Wolke. Elvira schaute die Wölfe mit festem Blick an. Im nächsten Moment ließ sie den Stein los und bündelte ihre Gedanken auf ihn. Der dunkelblau leuchtende Zauberstein schwebte daraufhin in die Höhe, ein Stück weit über ihren Kopf. Gleich darauf sah man viele kleine Blitze um den Stein herumzischen. 

Elvira taxierte die Wölfe ganz genau. Schon meinte sie, eine gewisse Unsicherheit in ihrer Haltung zu merken. Sie würde das nicht abwarten. Sie schloss für einen Moment ihre Augen und hob die Hände in die Höhe. Dann ruckte sie mit dem Kopf plötzlich zu einem der Wölfe in der Mitte, starrte ihn stechend an und machte eine Handbewegung. Daraufhin passierte alles ganz schnell: der Stein wurde zu einer immer heller werdenden Kugel aus Blitzen, flog einen Halbkreis genau über den Wolf, den Elvira anstarrte, und gleich darauf sauste ein Blitz aus der Kugel auf den Wolf nieder.
Es krachte einmal kurz laut und blitzte vor den Augen, dann lag der Wolf versengt auf der Seite. Zeitgleich sprangen die anderen Wölfe panisch davon und stoben in alle Richtungen auseinander. 

Elvira atmete auf und ließ die Hände langsam sinken. Im selben Moment verschwanden die Blitze um die Kugel und auch das Leuchten nahm ab. Gleich darauf war es wieder nur ein Stein, der ebenso wie Elvira's Hände langsam nach unten sank.
Der Gelehrte nickte anerkennend. „Ich muss sagen, doch ziemlich froh zu sein, dass du nicht auf mich gehört hast, was die Mäalström-Masse betrifft."
Seine Schülerin musste erstmal durchatmen. „Puuh", meinte sie dann nervös, „ich bin nur froh, dass ich diesen Stein schon fertig hatte." 

Dann ging sie ein paar Schritte nach vorn und klaubte den Zauberstein wieder auf, der nun im Gras lag. Wie erwartet, war er nun etwas kleiner. Doch vier oder fünf weitere Blitze könnte man bestimmt noch mit ihm erwecken.
Elvira's Blick ging zu dem Wolf, dessen Leben im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Schlag ausgelöscht worden war. Er hatte noch nicht einmal mehr jaulen können. Viel gespürt dürfte er sicherlich auch nicht haben.
Ihr Meister beobachtete sie ein wenig stolz. Schmunzelnd sagte er: „Nun ja – wenigstens wissen wir nun, was uns heute als Mittagsmahl dienen wird."
Elvira drehte sich um und lächelte ebenfalls. „Aber nur, wenn ihr das Ding ausnehmt, Herr."
Ihr Meister neigte als Antwort lediglich sein Haupt zu einer Verbeugung und lächelte nur.

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