6.6. Die Messe II - Das Wort zum Feiertag

Oberpriester Ancellus betrat den langen Gang des Kirchraums. In vollem, weißem Ornat gekleidet, ging er mit würdevollen Schritten die Reihen entlang bis zum Altar. Direkt hinter ihm gingen die drei Kantonate von Allerlanden: Stephan von Golddorf, Andreas von Wohlegrot und Balthasar von Angelheim.
Während die vier Männer sich dem Altar näherten, stimmten die Musiker eine etwas leisere Melodie an. Nahezu im gleichen Moment erhob sich eine ältere Frau von einem Stuhl neben dem Altar und begann ein andächtiges Lied zu singen. Die Grafen und Ritter blieben gebannt stehen und verfolgten das Geschehen. Einige sangen leise mit, was durchaus erwünscht und erlaubt war.
Heinrich sah dem Ganzen nur stumm zu. Auch der Hegeliner sang nicht mit. Aufgrund der Erkenntnisse über die geheim gehaltene Chronik hatten beide nicht gerade gute Gedanken für irgendwelche geistlichen Dinge übrig.

Ancellus schritt derweil um den Altar herum und positionierte sich kerzengerade dahinter. Die drei Kantonate stellten sich rechts von ihm an ihre vorgesehenen Plätze. Links von ihm standen auf mehrere Reihen verteilt die ganzen Priester von Allerlanden, die sich auch von ihren Plätzen erhoben hatten.
Nachdem das Lied verstummt war, erhob Ancellus seine Stimme. Wie in der Messe üblich, wurde zunächst ein Gebet zu Harmon gesprochen. Die meisten Worte waren dabei in der Niedersprache, doch ließ sich der Oberpriester mal wieder nicht nehmen, viele Begriffe auf Harmonisch fallen zu lassen. Heinrich verzog keine Miene und ließ sein demütiges Gesicht aufgesetzt. Am Ende machten alle das Stabeszeichen.

Nach dem Gebet bat Ancellus die Anwesenden Platz zu nehmen und gab das Wort für die Messe aus. Dazu schlug er eine bestimmte Stelle in den heiligen Schriften des Harmonius auf. Als er die gewünschte Passage gefunden hatte, räusperte er sich einmal und sagte dann mit lauter Stimme: „Für diesen annimedies, liebe Brüder und Schwestern, soll uns ein Wort aus den Psalmen dienen. Genauer gesagt aus dem 4. Psalm – dem ‚Dankgebet des Horeus'. Und zwar den 27. Vers dort, in dem es heißt: ‚Tu, mi domine, mihi sentemper auxiliaris, etsi non autem hora ulla, zuo temphoro phacis'."

Der Oberpriester schaute scheinbar entschuldigend durch die Reihen, lächelte kurz und meinte dann etwas sanfter: „Und da mir natürlich bewusst ist, dass in dieser Festgemeinde nur Wenige zugegen sind, die sich aufs Harmonische verstehen, will ich das Wort gerne in der Niedersprache wiederholen: ‚Du, mein Herr, stehst mir ständig bei. Und tust du es auch nicht in jeder Stund, so doch zur rechten Zeit'." Ancellus schaute ehrfürchtig durch die Reihen. „Dieses Wort soll uns allen, aber besonders auch euch, ihr lieben Drelder, ein Trost sein für die zweite Hälfte anni", fuhr er fort.

Die Grafen- und Ritterfamilien schauten nur stumm zurück und ließen die folgenden Worte über sich ergehen. Ancellus erklärte in seiner Predigt zunächst allen noch einmal den historischen Zusammenhang: Wie Horeus, der Verfasser des Psalms, geschlagen und geschunden worden war durch den Angriff der Elder auf sein Dorf. Wie er knapp entkommen konnte, nur um sich dann in der Wüste zu verirren. Wie er nach zwei Tagen kein Wasser mehr hatte und drohte umzukommen. Wie er bereits begann, Harmon zu verfluchen ob seiner Lage. Und wie dann doch Hilfe kam.

„Am dritten Tag nämlich", erklärte Ancellus ihnen gerade, „sah er plötzlich eine Karawane, die unverhofft nahe bei ihm vorüberzog. Er konnte nicht mehr zu ihr hinlaufen, noch konnte er rufen mit seiner vertrockneten Stimme. Also hob er die Hand und winkte wie verrückt – halb liegend, halb knieend – ihnen zu." Der Oberpriester schaute kurz nach unten und ließ eine Pause entstehen. Dann fuhr er fort: „Und dann kam es zu dem Wunder: Horeus wurde bemerkt. Der dux carawani ließ die Kolonne anhalten und schickte zwei Kamelreiter aus, den Verunglückten aufzulesen. Und so kam Horeus am Ende doch noch Hilfe zuteil. Sie halfen ihm auf, verpflegten und versorgten ihn und nahmen ihn mit in die Stadt Varolan, von welcher wir auch in den rebus gestis des großen Harmonius lesen können."

Ancellus machte erneut eine kurze Pause und schaute in die Runde. „Und sobald er sich dort etwas erholt hatte", berichtete er dann weiter, „lobte er den HERRN und dankte ihm über alle Maßen in einem großen Gebet." Der Oberpriester zeigte auf die aufgeschlagene Schriftrolle. „Und dieses Gebet kennen wir heute als den 4. Psalm." Ancellus schmunzelte übertrieben in die Gemeinde. „Und unser heutiges Wort ist die große Erkenntnis, die Horeus damals gelernt hat: Unser Gott und Vater greift gewiss nicht immer sofort ein, wenn uns etwas geschieht, aber er tut es zuo temphoro - zur rechtenZeit."

Ancellus schaute prüfend durch den Kirchraum und erntete von fast allen missmutige und verunsicherte Blicke. Klar – angesichts der Ereignisse in terra Attanorum konnte er verstehen, dass dieses Wort nicht bei jedem ankam... Er sah kurz nach unten, schnaufte laut durch und sammelte sich. Dann blickte er mit etwas kämpferischer Miene auf und sprach mit lauter Stimme weiter: „Denkt ihr denn, ich wüsste nicht, wie es um euer aller Herz bestellt ist? Wie ihr gleich einem Horeus zweifelt an der schützenden Hand des Harmon, nach alldem, was geschehen ist? Wie euer Herz klagt angesichts der erlittenen Verluste?"
Er atmete hörbar aus, stützte sich mit beiden Händen auf den Altar und fuhr etwas leiser fort: „Lieber Graf, liebe Gräfin, liebe Ritter: doch, dies weiß ich sehr wohl." Er schaute bei diesen Worten verschiedene Edelleute direkt an. Dann schien er in sich zu gehen und ergänzte mit gesenktem Blick und treuseliger Stimme: „Ich kenne euren Schmerz. Ich kenne ihn und – lasst mich dies offen sagen – ich teile ihn mit euch."

Er ließ bewusst eine Pause entstehen. Während dies geschah, zog Heinrich eine Augenbraue hoch und schaute mit einer Miene voller Skepsis zum Hegeliner. Dessen erwiderter Blick war ganz ähnlich.
Der Oberpriester schaute wieder in die Gemeinde und fuhr mit belegter Stimme fort: „Denn auch ich war im Land der Attanen und verlor treue Ritter und Glaubensbrüder. Und dennoch – ihr Lieben – dennoch zweifle ich keinen Moment an des Harmon Hilfe." Er hob einen Finger in die Höhe und ergänzte mit etwas energischer Stimme: „Er hat uns dort eine Prüfung auferlegt, keine Frage. Aber er hat sie uns erleiden lassen, weil er wusste, dass wir diese ertragen."
Ancellus nahm den Finger wieder herunter, stellte sich kerzengerade hin und meinte: „So, wie er wusste, dass Horeus die Leiden der Wüste ertragen würde. Die Zeit der Hilfe war noch nicht gekommen."

Heinrich murrte kaum hörbar, auch August stöhnte leise. Damit waren sie beileibe nicht die Einzigen.
Der Oberpriester bemerkte dies. Völlig unerwartet lächelte er plötzlich freundlich. „Doch nun – ihr Lieben – nun ist dieser Moment eingetroffen", sagte er dann versöhnlich. Verwundert schauten sich die Grafen und ihre Familien an. Den Rittern erging es ähnlich. „Was meint der  bloß?", flüsterte Hugo leise zu Andreas. Der konnte bloß hilflos mit den Achseln zucken und den Kopf schütteln.

Ancellus sprach indes sogleich weiter: „Denn ich darf euch heute von einem großen Erfolg berichten, der auch terra omnium zugute kommen wird." Sofort füllten sich die Mienen der versammelten Festgemeinde mit Neugier. Der Oberpriester frohlockte innerlich. Mit freudiger Stimme fuhr er fort: „Während wir erfolglos in terra Attanorum kämpften, wurde andernorts ein großer Sieg wider die Feinde Harmons errungen! Vor drei Tagen nämlich erhielt ich Kenntnis davon, dass dem großen imperator Gaius Marius ein hervorragender Angriff gegen die Carther gelungen ist – jene südlich gelegenen Heiden, welche die harmonitas schon so lange herausfordern." Der Oberpriester machte bewusst eine kurze Pause. Überall sah er nur staunende Gesichter.

„Marius gelang es dabei", berichtete er weiter, „die altehrwürdige Stadt Tychauron einzunehmen, von dessen Reichtum man selbst unter euren Reihen schon viel gehört hat." Ancellus grinste einmal kurz. Mit etwas würdevollerer Miene fuhr er fort: „Diese Perle des Südens steht nun also unter der Hand Harmons. Und unser aller heiliger Vater und König hat entschieden, dass ein Großteil der erbeuteten Reichtümer den Ländern des Nordens gehören sollen. Tja – und deshalb, ihr Lieben", er blickte mit Spannung einmal durch den ganzen Kirchsaal, „darf ich euch heute die frohe Kunde mitteilen, dass eine große Schatztruhe von 60 000 Gulden in den nächsten Tagen an die Grafschaften von terra omnium aufgeteilt wird."
Jetzt ertönte staunendes Gemurmel. Ancellus schwieg bewusst an dieser Stelle und nickte bestätigend möglichst vielen Gesichtern zu.

Heinrich und August sahen sich überrascht an. Damit hatte wirklich keiner gerechnet. August fasste sich als Erster wieder und raunte leise zu seinem Nachbarn: „Ziemlich lobenswert, aber zugleich doch auch ein schönes Ablenkungsmanöver von dem Vorhaben um die Chronik, findet ihr nicht?!" Heinrich brummte nur.

Der Oberpriester ließ die Geräuschkulisse noch ein wenig zu, dann hob er seine linke Hand und bedeutete nach unten winkend, doch bitte wieder ruhiger zu werden. Schließlich war man hier noch in einer Messe.
„Ihr seht also, ihr Lieben: Harmon hat euch keineswegs vergessen", sagte er ernst, sobald es ruhiger wurde. Dann wurde seine Stimme wieder kämpferischer: „Ja – wir hatten diese schwere Schlacht zu ertragen. Ja – wir hatten auch die Verluste hinzunehmen. Aber sind wir nun am Ende, wie viele glaubten? Nein, ihr Lieben, das sind wir nicht! So wie es dem Horeus erging, der nicht mehr glaubte, dass ihm noch Hilfe zuteil wird, ergeht es nun euch: die Hilfe des Allmächtigen kommt schließlich doch! Und sie kommt von ganz woanders her."

Ancellus bewegte sich am Altar einmal hin und her, schaute nach unten und sammelte sich für die nächsten Worte. Dann blickte er wieder durch die Reihen und sagte energisch: „Erkennst du nun – lieber Bruder, liebe Schwester – dass dieses alte Wort des Horeus auch heute noch gilt? Dass Harmon dir und mir doch stets große Hilfe zuteil werden lässt?" Er schnaufte einmal durch, ließ die Worte wirken, Dann fuhr er kämpferisch fort: „Nein – er war nicht an unserer Seite in der Schlacht! Und er hat auch nicht die Verluste gemildert! Dies ließ er uns durchstehen."
Er machte eine kurze Pause und ergänzte schließlich: „Denn es war noch nicht die rechte Zeit. Nun aber, wo die Grafschaften gebeutelt sind, wo es an vielen Dingen fehlt, wo die Trauer groß ist – nun greift ER ein und schenkt uns Hilfe." Ancellus hatte nun feuchte Augen und lächelte mild in die Runde. „Denn er weiß, dass wir viel mehr nicht ertragen könnten. Und deshalb – lieber, Graf, liebe Gräfin, liebe Ritter – deshalb hat er diesen Sieg über die Carther geschehen lassen, damit auch ihr euch daran laben solltet."

Der Oberpriester stellte sich plötzlich etwas lockerer hin, stützte sich mit gefalteten Händen auf den Altar und beugte sich mit großem Lächeln vor. „Und damit keiner von euch denkt, dass ich meine lieben Anvertrauten aus terra omnium nur vertrösten wolle, sei jedem versichert, dass ich höchstselbst diese Schatzkiste mit den 60 000 Gulden mit hierher gebracht habe." Das löste tatsächlich einiges Schmunzeln aus und man spürte, wie sich die Anspannung in der Festgemeinde löste. Heinrich und August konnten nur müde lächeln. Der Priester Gerach hingegen schaute seinen Glaubensherrn mit dankbarem und ergebenem Lächeln an.

Ancellus genoss das aufkeimende Wohlwollen, das ihm entgegenschlug. „Und gleich nach dem festum annimediei sollen diese Taler an alle Grafschaften gerecht aufgeteilt werden." Er nickte vielen zugleich zu und fuhr fort: „Ihr seht also, ihr Lieben, das Wort des Horeus gilt auch heute noch. Er steht uns ständig bei! Und wenn nicht sofort, wenn wir es meinen, so doch zur rechten Zeit. Dies könnt ihr euch immer gewiss sein. Sita!"
Das Wort „Sita" war das Schlusswort einer jeden Predigt. Sogleich antwortete die ganze Gemeinde daraufhin ebenfalls mit einem lauten „Sita!".

Anschließend standen alle auf und sangen gemeinsam ein Lied. Gleich darauf erteilte der Oberpriester die Sündenvergebung. Dazu verließ er den Altar, stellte sich vor ihm der Gemeinde zugewandt hin, hob seine Hände und sagte laut: „In Harmonis nomine vobis culpas vostras nunc absolvo!" Jeder kannte diese Worte, Sie bedeutete die Erlassung der begangenen Sünden. Daher war es üblich, dass sie nur auf Harmonisch ausgesprochen wurden.

Während die Festgemeinde noch reumütig vor ihm stand, ertönte plötzlich ein klingendes Geräusch und man sah am Stirnband des Oberpriesters ein Licht aufblitzen. Dieses wurde immer heller und strahlte blendend in den ganzen Raum. Im nächsten Moment breitete sich von dem Oberpriester eine Lichtwelle aus, die jeden anleuchtete. Sie schien bei jedem auch ein Stück weit ins Innere des Körpers hineinzufließen. Alle bemerkten ein wohltuendes, reinmachendes Gefühl. Währenddessen stand der Oberpriester immer noch mit erhobenen Händen da. Nach einem weiteren Moment verblasste das Licht nach und nach und war dann gänzlich verschwunden. Ancellus ließ seine Arme sinken. Dann sprach er noch an Ort und Stelle ein Schlussgebet, das wiederum mit einem lauten „Sita!" beendet wurde.

Kaum war dies getan, wurde die Stimmung im Kirchsaal gelöster. Ancellus nahm dies milde lächelnd zur Kenntnis. Er schaute zu den Grafenfamilien und meinte laut: „Ich wünsche allen einen gesegneten annimedies! Ich freue mich schon auf das Mittagsmahl mit euch." Kaum hatte er das gesagt, wandte er sich nach links und verließ das Gotteshaus durch einen Seiteneingang. Die Kantonate und Priester, sowie seine ganzen Leibwächter folgten ihm sofort ohne weitere Aufforderung.

Missmutig beobachteten Heinrich und August den Abgang des Glaubensfürsten. Um sie herum waren die Edelleute schon wieder in irgendwelche Gespräche vertieft. Heinrich atmete einmal laut aus. Er sah sich um und erblickte viele wohlwollende Gesichter, die sich auf die errungene Beute für die Grafschaften freute. Alle schienen nach dieser Messe etwas glücklicher zu sein. „Nach diesem Siegesgeschenk werden viele wohl recht zufrieden sein", sagte Heinrich verstimmt zu August. Doch als er den Hegeliner ansah, lächelte der schon wieder in seiner etwas spitzbübischen Art. „Abwarten", meinte er zuversichtlich zu seinem Nachbarn, „die Neuigkeit, die wir haben, wird dies alles in den Schatten stellen." Heinrich brummte lediglich. Na hoffentlich verschätzte sich August damit nicht.

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