6.5. Die Messe I - Andacht und flüsternde Gespräche

Gerach schritt die große Hauptstraße langsam entlang und genoss die frühe Morgenluft. Er war auf dem Weg zum Harmonizil von Golddorf, wie viele Priester an diesem Morgen. Dort wollte der Oberpriester noch vor der Messe eine gemeinsame Andacht mit allen Glaubensvorstehern abhalten. Dies war am annimedies so üblich.

Nach ein paar Augenblicken erreichte er den Marktplatz. Gemächlich überquerte er ihn und bog in die weiter hinten gelegene Straße des Platzes ein, gegenüber der Seite, wo das große Gebäude der Kantonei stand. Nach ein paar kleineren Häusern, die mit Fachwerkbalken und spitzen Dächern verziert waren, tauchte linkerhand ein kleiner Platz auf. Umrahmt von wundervollen Blumenbeeten, die nur von verschnörkelten Wegen durchbrochen wurden, stand dort ein länglicher prächtiger Bau aus hellem Gestein, der ein gleichmäßig schräges Dach besaß und am Ende einen quadratischen Turm.
Gerach atmete durch. Es war lange her, dass er diesen Platz gesehen hatte. Hier könnte er sich sofort vorstellen, als Priester tätig zu sein. Der Ort strahlte einfach Ruhe und Einfachheit aus, denn hinter dem Platz befanden sich auch keine Häuser. Stattdessen hatte der Kantonat von Golddorf dort vor Jahren einen kleinen Wald anlegen lassen, eine Art Schonung. Dadurch wirkte der prächtige Glaubensort gar nicht so städtisch, sondern schien eins mit der Natur zu sein.

Gerach blieb stehen und genoss den Anblick des Harmonizils, dessen Garten, sowie den des Waldes dahinter. Im gleichen Moment vernahm er das Vogelzwitschern, das die Friedlichkeit des Ortes bestens unterstrich. Er trat an den verschnörkelten Eisenzaun heran, der den Platz einmal komplett umrandete. Er ging den Zaun entlang bis zur Pforte, die etwas höher war als der Zaun und die an der Oberseite eine halbrunde Form besaß.
Quietschend ging die Tür auf und Gerach trat hindurch. „Ah – der junge Gerach", hörte er in diesem Moment eine Stimme vor sich. Er blickte hoch und sah Priester Einhard direkt an der Ecke des Gebäudes stehen. Sein Gesicht nahm einen verwunderten Ausdruck an. Vor lauter Verträumtheit hatte er Einhard gar nicht auf dem Hof des Harmonizils bemerkt.
Im nächsten Moment hatte Gerach sich wieder gefasst. „Priester Einhard", sagte er schmunzelnd, trat auf ihn zu, nahm dessen ausgestreckte Rechte mit beiden Händen in Beschlag und schüttelte sie. „Wie schön, Euch wiederzusehen."

„Das gebe ich gern zurück, junger Freund", meinte Einhard lächelnd. Dabei fielen Gerach die vielen Leberflecken in seinem von Falten durchzogenem Gesicht auf. Auch die hellen Haare, die Einhard noch auf dem Kopf trug, schienen wieder weniger geworden zu sein, sträubten sich aber immer noch sichtbar dagegen, glatt und gerade auf dem Haupt ihres Besitzers liegen zu bleiben. Das Einzige, was an Einhard aber nie zu altern schien, waren seine dunkelbraunen Augen, die freundlich und genügsam mit der Wachsamkeit und Wissbegierde eines Jugendlichen schauten.
„Kommen Sie", meinte er und bedeutete Gerach neben ihm Richtung Haupteingang zu wandeln. Gern trat Gerach an seine Seite. Gemeinsam schritten sie den mit Kies angelegten Weg an der Längsseite des Gebäudes entlang. Die kleinen Sandsteine knirschten unter ihren Festtagsschuhen. Beide sagten zunächst nichts, genossen stattdessen den Anblick der herrlichen Blumenbeete zu ihrer linken Seite.

Nach ein paar Schritten meinte Einhard: „Übrigens – die Sache mit Eurem Brief über die Golem war eigentlich nicht vonnöten."
Gerach blickte ihn erst von der Seite an, nickte aber dann verständnisvoll. „Der Oberpriester hatte das schon erfahren, oder?"
Einhard nickte und schmunzelte gütig. „Von seinem Amtskollegen Galbanius Ricardus in Austria. Die Oberpriester schicken sich doch oft einige ihrer Wächter als Boten hin und her."
„Verstehe", meinte Gerach. „Das hab ich mir fast schon gedacht."

Jetzt sah Einhard ihn von der Seite an. „Ach – macht Euch nichts daraus. Es war trotzdem gut gemeint von Euch, gleich eine Meldung aufzusetzen. Und denkt nicht, ich habe Euren Brief ignoriert. Ich habe ihn dennoch weitergeleitet an den Kantonat – wie es sich gehört."
Gerach suchte seinen Blick und lächelte ihn dankbar an. Der altehrwürdige Priester lächelte zurück. „So ist das nun mal im Dienste Harmons", sagte er dann, „lieber einmal etwas zu oft machen, als zu wenig. Und die Sache ist ja wirklich haarsträubend."
„Das kann wohl sagen...", erwiderte Gerach düster.

Im nächsten Augenblick erreichten sie die Rückseite des hohen Turms, wo sich das Eingangsportal des Harmonizils befand. Dort stand ein Mann mittleren Alters mit schulterlangen, braunen Haaren und einem blassen Gesicht. Gerach erkannte in ihm den Priester Hortensius aus Öden. „Ah – guten Morgen, Hortensius", rief Einhard ihm freudig entgegen.
„Ich grüße Euch", sagte Hortensius beschwingt, gab Einhard die Hand und deutete eine Verbeugung an. Dann begrüßte er Gerach auf die gleiche Weise. „Ich war schon früh auf und habe eigens auf Sie beide gewartet."
„Schön", meinte Einhard schlicht. Dann betraten alle drei Priester der Grafschaft Bernstein gemeinsam das Harmonizil.

Das Innere des Hauses strahlte eine große Ruhe aus. Gerach war beeindruckt von der Größe des Altarraumes. In den ersten Bänken sahen die Drei einige Priester sitzen. Anscheinend war manch einer noch früher aufgestanden als sie selbst.
Vorne am Altar stand Oberpriester Ancellus in einem schlichten schwarzen Gewand. Die Ankömmlinge sahen nur seinen Rücken. Ancellus zündete gerade die Kerzen des Altars an. Schließlich wandte sich der Glaubensherr um. Sogleich nahm seine Miene einen freudigen Ausdruck an, als er die drei Priester aus der Grafschaft Bernstein erblickte. Im nächsten Augenblick trat er ein paar Schritte in die Mitte des Raumes und stellte sich zur Begrüßung hin.

Die Priester wussten dies Zeichen zu deuten. Einer nach dem Anderen trat behutsam an ihn heran, ging auf die Knie, küsste den Siegelring an seiner Hand und hauchte ein ehrfürchtiges „Heiliger Vater". Wie bei den Grafen wechselte Ancellus mit jedem ein paar Worte. Zuerst war Einhard an der Reihe, dann Hortensius und schließlich Gerach. Als er an Ancellus herantrat, schien dieser ihn neugierig mit seinen grauen Augen zu mustern.
„Ah – Geracus", gab er sogar beschwingt von sich, noch bevor der Mann aus Gesken ihn erreicht hatte. Gerach senkte sein Haupt, ging auf die Knie, küsste sogleich den Siegelring und sagte leise: „Heiliger Vater."

Der Oberpriester bedeutete ihm aufzustehen und fragte gleich darauf: „Nun, mein junger Gemeindevorsteher, wie ist es Euch in den ersten Wochen ergangen?"
Gerach hustete verlegen und meinte schließlich: „Ganz gut, Eure Heiligkeit. Die Predigten könnten noch länger sein... Aber – ich arbeite daran, Eure Heiligkeit." Er lächelte schief.
Ancellus schlug dem jüngsten Priester seines Amtsbereichs fest auf die Schulter, so dass Gerach fast einen Schreck bekam. „Das wird schon werden, junger Freund", sagte er dabei überzeugt und deutete ein Schmunzeln an.

Im nächsten Moment betraten weitere Priester das Harmonizil. Ancellus erblickte sie und sagte dann zu allen in dem Raum gewandt: „Wie es aussieht, können wir bald anfangen."

___


Zwei Stunden später war das Glaubenshaus gut gefüllt. Nach und nach waren alle Grafen und Ritter gekommen, hatten einmal kurz vor dem Altar gekniet, vollzogen das Stabeszeichen Harmons und setzten sich auf einen Platz in der Bank.
Die Grafenfamilien saßen dabei mit ihren Kindern in den ersten Bankreihen, sowohl links wie rechts. In der dritten Reihe saßen die verwitweten Grafen und frühere Gräfinnen, die inzwischen verwitwet waren. Hier saßen August und Heinrich, die sich natürlich nebeneinander gesetzt hatten. Der Graf von Bernstein hatte seinen Freund und Nachbarn kurz darauf gleich gefragt, wie es mit dem Geheimtreffen aussah. „Oh ja – sie kommen", flüsterte August freudig, „sie kommen alle! Ich hatte es Euch ja gesagt..." Er sah Heinrich an, kniff ein Auge zu und schmunzelte.

Daraufhin wollte der Bernsteiner wissen, wie er es denn vermocht hatte, die Grafen zu dem Treffen zu bringen. Der Hegeliner grinste verschmitzt. „Nun ich habe jedem Einzelnen nur folgenden Zettel gegeben", meinte er und zeigte Heinrich ein kleineres Stück Papier. Darauf stand gut lesbar: ‚Es ist eine Übeltat gegen Ihr Gut und Besitz geplant! Ihr Lehnsherr will Sie enteignen! Kommen Sie um 11 Uhr ins Gasthaus „Zum Goldenen Schwein" in das dritte Zimmer des Obergeschosses. Dann sollen Sie alles erfahren. Ein Freund'

Heinrich konnte tatsächlich nur schwer ein Lächeln unterdrücken. Die Drelder waren natürlich ihren Lehnsherren ergeben, aber über den Weg traute ihnen keiner. Daher würde jeder eine solche Behauptung sofort glauben oder zumindest umgehend erfahren wollen, ob etwas Wahres daran ist. „Nicht schlecht", meinte er und nickte dem Hegeliner anerkennend zu.
„Ich weiß", flüsterte der grinsend. „Richard Dalsmann wird übrigens auch kommen. Bei ihm hab ich auf dem Zettel angedeutet, dass man ihm die Pferdezucht wegnehmen will. Ihr hättet sein Gesicht sehen sollen, nachdem er den Zettel gelesen hatte..." August lächelte und kniff vergnügt die Augen leicht zusammen. Heinrich schmunzelte nur und schüttelte ein wenig den Kopf. Der Hegeliner vermochte es immer wieder, eine Aufgabe mit etwas Vergnüglichem zu würzen.

Dann blieben beide Grafen schweigend und warteten auf den Beginn der Messe. Jeden Augenblick würde es losgehen, wusste Heinrich. Er sah sich nochmal in dem großen Glaubensraum um. Auf der anderen Seite erblickte er Philipp und Julius von Greifenstein. Da die Beiden noch unverheiratet waren, saßen sie ebenfalls in der dritten Reihe. Vor ihnen saß Reinhard von Dalsheim mit Frau und Kindern, daneben der Falkensteiner mit seiner Familie. Ganz vorne in der ersten Reihe saß Gunther von Golddorf direkt am Gang. Der Gastgeber hatte natürlich den besten Platz. Seine Frau und die erwachsenen Söhne saßen gleich neben ihm.

Heinrich drehte seinen Kopf zur Seite und sah zu den hinteren Bankreihen. Auf der rechten Seite weiter hinten saßen die Ritter. Er suchte seine beiden Gefolgsleute. Schließlich erblickte er Hugo und Andreas, gleich neben Augusts Ritter Friedbert, der direkt am Gang saß. Inmitten der Ritter sah Heinrich plötzlich einen blonden, geflochtenen Haarkranz herausstechen. Er schaute genauer hin. Tatsächlich – Natalie Dalsmann saß da. Neben ihrem Mann. Die Beiden gehörten ja eigentlich auch zur Ritterschaft. Ihm war, als nickte Natalie ihm zu. Sicherheitshalber nickte er zurück und hob leicht die Hand.

Im nächsten Moment ertönten Musikgeräusche. Trompeten- und Flötenspieler betraten den Raum und ließen eine andächtige Melodie erklingen. Sofort erhoben sich alle von den Plätzen. ‚Und los geht's...', dachte Heinrich, während er widerwillig aufstand.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top