Einige Zeit später ließ sich dann endlich auch Oberpriester Ancellus in der Halle sehen. Die meiste Zeit über hatte er mit den beiden Kantonaten von Golddorf und Wohlegrot auf der Balustrade gestanden und geplaudert. Dieser Bereich schien auch nur für die hohen Vertreter Harmons vorbehalten zu sein, wie Heinrich argwöhnte.
Quintus Claudius Ancellus stellte sich fast mittig in der Empfangshalle hin und schaute durch die Runde. Viele der anwesenden Grafen hatte er schon begrüßt. Wer noch nicht das Vergnügen hatte, durfte aber nicht erwarten, dass der hohe Herr zu ihm kam. Die Etikette verlangte, dass die bisher noch nicht begrüßten Grafen von sich aus vor den Oberpriester traten.
Heinrich wusste darum und verzog eine Miene. Er stellte sein Weinglas auf den Stehtisch, schnaufte einmal durch und machte sich auf den langen, langen Weg durch die ganze Halle nach vorne. ‚Dann wollen wir mal...', dachte er bei sich.
Einige Grafen standen bereits vorn und machten ihre Aufwartung beim Oberpriester. Halb schmunzelnd erkannte Heinrich, dass die beiden Grafen vor ihm Philipp und Julius von Greifenstein waren. Artig gingen sie auf die Knie und küssten den Ring des Oberpriesters. Wie bei dieser Art der Begrüßung üblich, wechselte der alte Ancellus noch ein paar Worte mit ihnen. Heinrich meinte herauszuhören, dass er nach dem letzten Auftauchen der Goten fragte. Das war nicht verwunderlich, bedenkt man, dass die Festung Greifenstein direkt an der Küste lag.
Dann war er selbst an der Reihe. Er trat vor den Oberpriester, der ihn erwartungsvoll anschaute. Quintus Ancellus trug eine weiße Robe mit goldig verzierten Mustern oberhalb der Brust, die dort durchgehend den gesamten oberen Teil des Gewandes zierten. Wie bei einem Oberpriester üblich, trug er über die Schultern zudem einen übergroßen blauen Umhang, der ihm über den Rücken fiel und sein edles Aussehen verstärkte. Auf der Rückseite des Umhangs – für Heinrich im Moment nicht sichtbar – prangte das Auge Harmons, so dass der alte Fuchs bereits von weitem als Glaubensherr erkennbar war.
Heinrich ging in die Knie. Der Oberpriester taxierte ihn mit seinen grauen Augen. Er trug bereits fast vollständig weißes Haar, das nur an einigen Stellen noch dunkel durchschimmerte. Ancellus hatte etwas längere, dickere Haare, die er gerade nach hinten gekämmt und mit Wasser ein wenig fixiert hatte. Die akkurat glattgezogenen Strähnen strahlten eine gewisse Stärke und Festigkeit aus. Heinrich ergriff die hin gehaltene Hand mit dem Siegelring des Harmon und küsste ihn. „Eure Heiligkeit", sagte er dabei ergeben als Gruß und senkte sein Haupt.
„Graf Henricus", erwiderte Ancellus mit seiner festen Stimme. Daraufhin durfte sich Heinrich erheben, was er denn auch sogleich tat. Über die Anrede wunderte er sich nicht. Es war bekannt, dass der Oberpriester die Namen der Drelder gern auf Harmonisch aussprach. Das galt auch für andere Bezeichnungen und Begrifflichkeiten.
Kaum stand Heinrich aufrecht, meinte Ancellus: „Wie ich hörte, habt Ihr viele treue Ritter verloren." Während dieser Worte musterte er den Bernsteiner durchdringend.
Dem jungen Grafen lag Vieles auf der Zunge, doch er nickte nur traurig und antwortete: „Ja, leider ist dies geschehen. Ich muss nun sehen, wie ich zu neuen Rittern komme."
Der Oberpriester verstand sehr wohl, warum Heinrich dies letzte sagte. Er schlug ihm leicht auf die Schulter und erwiderte: „Dafür werden Wir alsbald eine Lösung finden – hoc est certe." Er blinzelte ihm zu.
Heinrich nickte nur mit stummer Miene und wandte sich dann zur Seite. „Hoc est certe" gehörte ebenfalls zu den harmonischen Redewendungen, die der Glaubensherr gern von sich gab. Es bedeutete ‚Dies ist gewiss'.
Im nächsten Moment trat auch schon ein anderer Graf zu Ancellus und begrüßte ihn auf Knien. Der Bernsteiner blieb in der Nähe des Ganzen stehen und schaute missmutig zu.
Kurz darauf hatten sich die übrigen Grafen beim Oberpriester vorgestellt. Daraufhin ließ sich Ancellus ein Weinglas geben und klopfte mit seinem Siegelring mehrmals an die Seite, um Aufmerksamkeit zu erregen. Doch das Ganze war eigentlich unnötig. Längst waren die Gespräche verhalten geworden, sobald der Oberpriester sich so deutlich im Raum platziert hatte. Jeder rechnete damit, dass er nach den Begrüßungen etwas ansagen wollte.
Kaum schlug Ancellus das Glas an, wurde es im gesamten Saal nun mucksmäuschenstill. Der alte Glaubensherr ließ die Stille noch einen Moment wirken, schaute konzentriert einmal durch den ganzen Saal, wobei er sich leicht drehte.
Dann stellte er sich noch ein wenig aufrechter hin und erhob seine Stimme: „Geschätzte Grafen und Gräfinnen, werte Edelleute und Ritter! Ich freue mich, dass Sie alle so zahlreich hier in Golddorf eingetroffen sind, um mit Uns gemeinsam das festum annimediei zu begehen. In den letzten Tagen ist der Heiligen Liga Einiges abverlangt worden – imprimis auch den treuen Glaubenskindern von terra omnium. Daher bin ich schon ein wenig stolz, dass – trotz allem, was im attanischen Bergland geschehen – dass trotzdem so viele nobiles der Einladung gefolgt sind."
Er hustete kurz in seine freie Hand. Dann hob er den Kopf wieder, räusperte sich und fuhr fort: „Mir ist bewusst, dass Viele von euch sich fragen, warum Wir nach diesem katastrophalen Feldzug dennoch an den Feierlichkeiten festgehalten. Dies möchte ich heut gern beantworten: weil wir Kinder Harmons sind! Und als solche lassen wir uns von keinem Volk der Welt die Feierlichkeiten unseres Glaubens verleiden." Ancellus' faltiges Gesicht hatte nun einen glühenden Ausdruck. „Mögen die Attanen uns Vieles angetan haben, aber sie werden uns nicht davon abbringen, unseren Gott und Vater zu feiern!"
Ancellus atmete einmal hörbar aus. Dann fuhr er fort: „Und darum habe ich an den Feierlichkeiten festgehalten. Dies ist nicht die Stunde, dass sich die Kinder Harmons verkriechen müssen und nur noch Trauer empfinden sollen. Gerade, weil dies Schreckliche alles geschehen ist – ihr Lieben – soll das festum wie geplant stattfinden. Dadurch zeigen wir Stärke gegenüber allen Feinden. Sie sollen sehen, dass sich ein Kind Harmons durch nichts erschüttern lässt!"
Er blickte ernst in die verschiedenen Gesichter. Niemand wagte etwas zu sagen. Auch nach weiteren Augenschlägen blieb es still. Ancellus erhob daraufhin sein Glas: „Und darauf, werte nobiles, lasst uns nun das Glas erheben. Ich wünsche uns allen gesegnete Feiertage! Prosit." Sprach's und stürzte sich einen großen Schluck Wein den Rachen hinunter. Daraufhin taten es ihm die Grafen, Edelfrauen und Ritter gleich.
Im nächsten Moment war die Anspannung vorüber. Leises Stimmengemurmel setzte ein, dass recht schnell um sich griff. Ancellus reichte das Glas einem seiner Diener. Dabei gab er laut von sich: „Wir sehen uns dann morgen alle bei der Messe." Doch weiter hinten hörte das bereits schon keiner mehr. Dem Oberpriester war das gleich. Er hatte sich gezeigt und gesagt, was ihm wichtig war.
Schneidig wandte er sich um und verließ die große Halle durch eine Seitentür mit zwei großen Flügeln. Heinrich sah ihm hinterher. Erst jetzt fielen ihm dabei die Leibwächter des Glaubensherrn auf, erkennbar an den goldenen Harnischen und den blauen Umhängen. Sie hatten die ganze Zeit direkt links und rechts in der Nähe des Oberpriesters gestanden. Nun wandten sie sich ebenfalls zum Gehen um. An der Flügeltür sah Heinrich den Grafen Gunther von Golddorf stehen, der den Oberpriester mit einer Verbeugung in Empfang nahm und ihn in den hinteren Teil der Kantonei geleitete.
Heinrich zog eine Augenbraue hoch. ‚Lässt sich der Gastgeber auch mal blicken, was?!', dachte er bei sich. Im nächsten Moment merkte er, wie jemand seitlich von hinten herantrat. „Und ich dachte schon, das eben war bereits die Messe", hörte er die sarkastische Stimme des Hegeliner Grafen sagen.
Heinrich schnaubte. „Schön wärs...", erwiderte er lediglich.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top