6.10. Der endgültige Plan entsteht

Die Grafen schauten noch einen Moment verwundert.
August lächelte, drehte sich um zu dem Tisch hinter ihm und machte mit einer Hand allen ein Zeichen, das unmissverständlich anzeigte, dass sie sich alle um ihn herum an dem Tisch versammeln sollten.
Heinrich, der ebenfalls nahe bei dem Tisch stand, drehte sich daraufhin als Erster um, immer noch den Hegeliner bewundernd anschauen. Auch er hatte nichts von der Karte gewusst. Nur kurz darauf setzten sich auch die anderen Grafen in Bewegung und traten links und rechts vom Tisch an August und Heinrich herein.

Winfried von Gernsheim brach als Erster das staunende Schweigen. „Ihr habt eine Karte von Austria?", fragte er verwundert. August, der derweil die Karte komplett ausrollte, suchte schmunzelnd den Blick mit dem Gernsheimer, der rechts neben ihm am Tisch auftauchte. Direkt daneben gesellte sich der Gotenfelser, der ihn ebenfalls erwartungsvoll anschaute. Rechts von ihm, und damit schon am äußersten Rand dieser Seite des Tisches stellten sich die Greifensteiner Zwillinge hin.
„Als Mitglied einer Herzogsfamilie hat man gewisse Vorteile", erwiderte August wissend, „doch die Karte zeigt nicht nur Austria, sondern ein Großteil des gesamten Kontinents."
Heinrich bemerkte neben sich eine Bewegung und erblickte Gerhard von Falkenstein, der sich linkerhand neben ihm an die Tischseite stellte. An seiner Seite traten die beiden Dalsheimer herzu. Richard Dalsmann schaute sogleich auf die Karte und zog staunend eine Augenbraue hoch.

Im nächsten Moment erkannten alle, was auf der Karte zu sehen war. Den gesamten linken Teil nahm ein Ausschnitt von Frankobardien ein – und zwar den östlichen Teil mit den Herzogtümern Charlemagne, Beauville, Lavergne und Troillés. Am oberen linken Rand war sogar die Hauptstadt Valeria mit zu sehen, wie Heinrich bemerkte.
Rechterhand war der Großteil Allerlandens abgebildet, einschließlich der gesamten Küste und allen zahlreichen Inseln. Nur die ganz östlichen Grafschaften an der Grenze zu Pruzen fehlten. Der Eld und das Eldthal aber, das komplette öde Land und die gesamte Ostlandstraße bis hinunter nach Falkenstein und Austria waren mit vorhanden.
Das Königreich Austria selbst war ebenfalls vollständig auf der Karte zu sehen. An einigen Stellen am unteren Ende sah man sogar noch einen Teil der großen Grenzbefestigung zum Heiligen Königreich von Harmon – jene große Maueranlage, die von den Harmoniern murus maximus genannt wurde.

Heinrich sah zum unteren linken Rand und stellte fest, dass auch das Parzival-Gebirge im Süden Frankobardiens zu sehen war und damit verbunden auch ein nördlicher Teil der Vereinigten Stadtstaaten von Iberia. Am oberen Rand der Karte sah man hingegen noch einen breiten Streifen des Nordmeeres, das nördlich von Frankobardien und Allerlanden unentwegt seine Gischt an die Steilküste und die Kreidefelsen spülte. August tat ganz recht daran, wenn er ein wenig stolz wegen dieser Karte auftrat: eine derart detaillierte Darstellung von Allerlanden, noch dazu mit ganz Austria und einem Großteil Frankobardiens, fand man sonst höchstens in den Archiven eines harmonischen Gelehrtenkollegiums.

„Eine sehr wertvolle Karte", murmelte Gustav von Gotenfels lobend. Er sah von dem Dokument auf und blickte August fragend an. „Ihr habt Sie von Eurer Mutter?"
Der Hegeliner blinzelte kurz wehmütig. „Kann man so sagen – ja", erwiderte er knapp, „wobei das nicht das Original ist. Das befindet sich in Beauville", erklärte er, schon wieder etwas beschwingter und vielsagend in die Runde blickend.
„Wie dem auch sei," sagte er als Nächstes betonend, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen, „die Elder-Chronik soll am morgigen Tag von Valeria aus ihre Reise nach Austria antreten. Das geht eigentlich nur auf einem Wege", setzte er an und brachte seine linke Hand auf der Karte in Position, „und zwar, indem sie zunächst die via Francobardia nach Süden nehmen, bis ins Gebiet von Troillés hinein." August fuhr mit seinem Finger die Strecke nach. „Dort zweigt der Hauptweg nach Austria ab, über den sie dann auf diesen Weg kommen." Er zeigte auf eine eingezeichnete Straße in Austria, die von West nach Ost bis ins Gebiet der Attanen verlief. „Diese Straße ist unser Ziel", meinte der Hegeliner selbstsicher.

Als er bemerkte, dass alle etwas verwundert schauten, erklärte er weiter: „Diese sogenannte Amalienstraße kreuzt die via Austria, die von Süden aus dem Heiligen Königreich kommt – und zwar hier." August zeigte die betreffende Stelle. Den Finger auf den Punkt verharrend, suchte er den Blick mit den Umstehenden. „Für mich ist es daher äußerst wahrscheinlich, dass sich eine harmonische Gesandtschaft aus dem Süden in der Nähe dieses Straßenkreuzes mit den Frankobarden treffen würde."
Die Grafen brummten – einige zustimmend, andere misstrauisch.

Der Hegeliner bemerkte das, legte einmal seinen Kopf kurz schief und plauderte weiter. „Natürlich werden sie sich nicht auffällig in aller Öffentlichkeit an einer Kreuzung treffen", warf er halb amüsiert ein, „das wäre auch unzweckmäßig. Für eine Abschrift der Chronik braucht man ja einen ruhigen Ort." August grinste seinen Mitgrafen an. „So – und nun schauen Sie alle doch mal bitte direkt auf die Karte", ermunterte er die Umstehenden. „Wenn man sich die Amalienstraße nämlich genau anschaut, gibt es dort nur zwei Niederlassungen, die dafür in Frage kämen", erklärte er sogleich.
Als alle anderen die Köpfe reckten und genauer auf die besagte Straße blickten, zeigte August auf einen bestimmten Punkt westlich des Straßenkreuzes. „Nämlich einmal hier, diese Klosterbibliothek, und zum anderen hier weiter im Osten die Kantonei von Niederfingen." Er zeigte auf den zweiten Punkt, der etwas weiter östlich der Straßenkreuzung von Amalienstraße und der via Austria lag.

„Hhm", brummte Gustav von Gotenfels daraufhin, „die Kantonei von Niederfingen wird es wohl am wahrscheinlichsten sein. Dort gibt es nicht nur viele Räume, wo man ungestört irgendeine Angelegenheit erledigen könnte, sondern die Chronik wäre dann auch in einer gesicherten Umgebung." Die anderen Grafen tauschten Blicke und murmelten vielsagend.
„Dann würde man dort aber auch schlecht an die Chronik rankommen", argwöhnte der Gernsheimer und sprach damit das aus, was Vielen gerade durch den Kopf ging. „Oder das einer von uns dort hineinkommt."

August senkte den Blick und lächelte in sich hinein. Dann schaute er in die Runde und meinte frohen Mutes: „Wie ich schon sagte: die Amalienstraße ist unser Ziel – nicht die Kantonei und auch nicht die Klosterbibliothek. Wenn wir uns rechtzeitig auf dieser Straße postieren, können wir den Trupp überfallen, bevor er irgendeinen Treffpunkt erreicht."
Heinrich nickte. Allmählich verstand er, worauf August hinaus wollte. Er musterte die Umstehenden und bemerkte, dass auch den anderen Grafen die Sache klar wurde.

„Wir müssten nur gleich morgen ins Eldtal aufbrechen", erklärte August weiter. Dabei hob er nun seinen rechten Arm und zeigte mit einem Finger auf Golddorf. „Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zum Eld", sagte er und fuhr mit dem Finger bis zu der großen Brücke, die auf der Karte eigens eingezeichnet war. Sie war Teil der breiten West-Ost-Straße, die August und Heinrich ins Eldtal nehmen wollten. Die besondere Brücke war auch die einzige Möglichkeit, vom westlichen Teil Allerlandens zu Pferde in den östlichen Teil zu kommen. Außerdem markierte sie die Grenze zwischen den Grafschaften Golddorf und Helmsdorf.

„Im Nu sind wir über die Brücke", fuhr August inzwischen fort, „und folgen der West-Ost-Straße über Helmsdorf zu den eldenischen Wiesen." Er grinste die umstehenden Grafen an. „Zur Mittagsstunde sitzen wir schon beim Eldthaler zu Tische und verhandeln über die Pässe und den Begleitschutz durch Bogenschützen", fügte er amüsiert hinzu.
Der Gernsheimer brummte misstrauisch. „Und wie wollt Ihr den Oberpriester überzeugen, dass er Euch schon morgen abreisen lässt?", fragte er bohrend.
August blickte zu Heinrich, der einmal kurz nickte und dann antwortete: „Ich habe mit dem Helmsdorfer eine wichtige Angelegenheit zu besprechen." Als alle ihn fragend ansahen, berichtete Heinrich vom traurigen Tod seines Ritters Johannes von Helmsdorf und dass er den Oberpriester auch erklären wollte, den dringenden Besuch mit Absprachen für die Hochzeit zwischen seinem Ritter Andreas und der Tochter des Helmsdorfers, Johanna, zu verbinden. „Wenn ich Ancellus heute Mittag höflich darum bitte, wird er mir wohl zustimmen", versuchte Heinrich die Aussicht seines Vorhabens zu versichern.
Dennoch schauten nicht alle überzeugt. „Na hoffentlich habt Ihr Recht", meinte der Gotenfelser mit vielsagendem Blick.

Als sie dann den Hegeliner fragten, unter welchem Vorwand er sich vorzeitig dem Fest entziehen wollte, winkte der nur ab und meinte: „Das lasst mal meine Sorge sein. Ich finde schon einen Weg."
Bevor einer was dazu sagen konnte, setzte er die Erklärungen zum Plan fort: „Wenn wir im Eldtal sind, werden wir auf jede Fall eine Nacht dort bleiben. Am nächsten Tag müsstet Ihr dann, Dalsmann, mit den Pferden aufbrechen und uns nachreisen." Er nickte Richard Dalsmann zu, der das Nicken kurz erwiderte. „Selbst wenn Ihr erst zur Mittagsstunde wegkommt, schafft Ihr es noch bis zum Abend ins Eldtal. Wir werden Euch auf jeden Fall erwarten."
August überlegte kurz und ergänzte: „Mit den Dalsheimer Pferden könnten wir sogar noch eine Nacht im Eldtal bleiben. Wenn wir dann recht früh am dritten Tag nach Falkenstein weiterreisen, schaffen wir es noch am selben Tag bis nach Austria." Er fuhr mit dem Finger auf der sogenannten Ostlandstraße östlich vom öden Land entlang durch die Falkensteiner Felder bis nach Austria. „Dort im Fürstentum Amalien endet die Ostlandstraße direkt an der Amalienstraße – und zwar hier bei Grantingen." Er zeigte auf den entsprechenden Ort, von dem aus es auch nicht mehr weit bis zu den Ausläufern des attanischen Berglandes war. „Damit sind wir nur noch 30 Milen von Niederfingen entfernt und etwa 40 bis zur Kreuzung mit der via Austria." Er deutete kurz auf die besagten Stellen. „Wir müssten uns dann aufteilen, in der Nähe der vermutlichen Treffpunkte auf die Lauer legen und auf eine entsprechende Kutsche aus Frankobardien warten."

Die Grafen brummten zustimmend. Das klang alles eigentlich gut durchführbar. Durch einen Blick auf die Karte war auch sofort erkennbar, dass der Weg für den frankobardischen Trupp deutlich länger war. Allein der Weg von Valeria bis zur Abzweigung in Troillés war etwa so lang wie die ganze Ostlandstraße. Vermutlich hatte der Trupp der Drelder sogar noch einen ganzen Tag Zeit, bis der Karren mit der Chronik die Amalienstraße erreichte. Solange es wirklich klappte, dass sie morgen abreisten...

„Und wenn Ihr das Schmuckstück dann habt", hakte Winfried von Gernsheim nach, „kehrt Ihr über die Ostlandstraße nach Falkenstein zurück und verbergt die Chronik dann wo?"
„Das müssen wir sehen", erwiderte August knapp und zuckte mit den Achseln, „der Bernsteiner und ich werden auf jeden Fall den Eldthaler dazu befragen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass er dafür zu haben sein wird, das Buch in seine Obhut zu nehmen." Die anderen Grafen nickten. Das Eldtal mit seinen vielen Katakomben und versteckten Gängen bot im Grunde eine nahezu unendliche Anzahl von Möglichkeiten für ein Geheimversteck.
„Ich könnte mir auch andere Orte vorstellen," fügte August hinzu, „wie zum Beispiel den Falkensteiner Forst, die Wehranlage im öden Land oder auch bei Euch Greifensteinern im Norden." Er schaute jeden Angesprochenen wohlwollend an.

„Na ja," meinte der Gernsheimer skeptisch, „wir werden wohl sowieso nicht umhinkommen, die Verstecke der Chronik mehrfach zu wechseln." Heinrich und August sahen ihn fragend an.
Winfried von Gernsheim suchte den Blick zu allen Anwesenden. „Versteht mich richtig: sicherlich kann man den Überfall so aussehen lassen, dass Austrianer dahinter stecken. Das wird aber nichts daran ändern, dass man irgendwann überall anfangen wird, nach der Chronik zu suchen. Auch in Allerlanden. Je länger das Schriftstück unauffindbar bleibt, umso mehr misstrauische Blicke werden sich auf unsere Ländereien richten. Und die Frankobarden werden als Erste laut darauf drängen, ganz Allerlanden zu durchsuchen."
Die Anwesenden schnaubten wissend. So ungern man das zugeben wollte: der Gernsheimer hatte einen entscheidenden Punkt angesprochen.

„Warum eigentlich nur verbergen?", warf Gustav von Gotenfels plötzlich in die bleierne Stimmung ein.
„Was meint Ihr?", fragte August staunend.
Der Gotenfelser sammelte sich, schaute alle der Reihe nach an und sagte langsam: „Ich meine: wenn wir die Chronik tatsächlich in unseren Besitz bringen, sollten wir auch versuchen, das Geheimnis zu lösen."
Jetzt fielen den Umstehenden fast die Augen raus. Auch Heinrich schaute erschrocken, glaubte sich verhört zu haben. 

Kurz darauf belächelten die Grafen den Gotenfelser. „Na klar – warum nicht", amüsierte sich Gerhard von Falkenstein und strich sich mit einer Hand über den Schnurrbart. „Wenn's weiter nichts ist", gab Richard von Dalsheim belustigt von sich. „Unsinn", zischte der Gernsheimer lediglich und bedachte den neben ihm stehenden Gotenfelser mit einem tadelnden Kopfschütteln.
August schüttelte ebenfalls den Kopf und meinte: „Dazu müssten wir das Buch erst einmal lesen können oder habt Ihr das vergessen. Und in ganz Allerlanden gibt es niemanden, der das vermag – jedenfalls niemanden, den wir trauen könnten." Die übrigen Grafen murmelten zustimmend.

„Das stimmt nicht ganz", erwiderte der Gotenfelser laut. "Wir alle kennen sehr wohl einen, der uns weiterhelfen könnte." Sogleich stellten alle Grafen das Murmeln und amüsierte Grinsen ein und schauten ihn erstaunt an.
Gustav von Gotenfels sah von einem zum anderen und sagte bedächtig: „Ich rede von Lukan."
Kaum hörten die anderen diesen Namen, lösten sie sich aus ihrer angespannten Haltung und stöhnten leicht verzweifelt auf.
"Ja gut - Lukan...", sagte August ironisch betonend und rollte mit den Augen.
"Achso. Na gut, aber...", brummte auch der Falkensteiner vielsagend und sah den Gotenfelser skeptisch an.
Der Gernsheimer rollte nur mit den Augen und schüttelte unentwegt immer wieder langsam seinen Kopf hin und her.

Heinrich hatte erst die Stirn gerunzelt, dann ahnte er, von wem die Rede war. "Meint ihr etwa den berühmten, alten Gelehrten?" Falls ja, sprach der Gotenfelser von einem Verschollenen.
"Natürlich hat er IHN gemeint", schnarrte August daraufhin los. "Es gab schließlich nur einen in Allerlanden, der sich Lukan nannte." Der Hegeliner sprach ganz bewusst in der Vergangenheitsform. "Aber wir können ihn wohl kaum in den Plan einbeziehen." Die Grafen nickten zustimmend. 
Doch Gustav von Gotenfels ließ sich nicht so schnell von dem Gedanken abbringen. "Ihr meint, weil er als verschollen gilt?", fragte er stichelnd nach. "Das heißt noch lange nicht, dass er nicht mehr unter den Lebenden weilt."

Die Umstehenden murrten skeptisch. Auch Heinrich erinnerte sich an die Erzählung seines Vaters, in denen es hieß, dass dieser Lukan schon ziemlich alt gewesen war, als er vor einigen Jahren spurlos verschwand.
"Wenn er noch leben sollte, wäre er doch schon längst irgendwo wieder aufgetaucht", argwöhnte August und erhielt zustimmendes Gemurmel.
Der Gotenfelser schnaubte und bewegte sich einmal hin und her. Er senkte den Blick, schien etwas zu überlegen. Dann sah er jeden scharf an und meinte: "Ihr habt Recht, er mag vielleicht verschwunden sein. Aber wenn wir uns schon an die Unmöglichkeit wagen, die Elder-Chronik einem bewaffneten Trupp in Austria zu entwenden, können wir auch genauso gut versuchen, den einzigen zu finden, der mit dieser Chronik etwas anzufangen vermag. Bedenkt, um was es hier geht!"

Die anderen staunten nicht schlecht. Gustav von Gotenfels hatte es geschafft, den Umfang des Vorhabens und die Größe seiner Bedeutung in einem Satz unterzubringen.
"Hhm", schnaubte August, nun etwas wohlwollender. Auch die anderen wirkten verunsichert.
Daraufhin ergriff der Gotenfelser erneut das Wort: "Jedenfalls könnte ich eine Untersuchung dazu anberaumen. Wie Ihr alle wisst, ist Lukan zuletzt in Gotenfels gesehen worden - genauer gesagt in Wohlegrot."
"Und Ihr meint, dass Ihr jetzt noch eine Spur finden könnt?", hakte der Graf von Dalsheim nach.
"Unsinn", schnaubte der Gernsheimer und tauschte mit jedem kurz einen Blick des Misstrauens. "Bisher ist schließlich auch nichts gefunden worden."
"Bisher ist auch noch nie richtig nach ihm gesucht worden", entgegnete Graf Gustav entschieden, um alle weiter auf seiner Seite zu halten.
"Hhm", brummte der Gernsheimer abwehrend und blieb erst einmal still.
Der Gotenfelser redete indes weiter:"Der Oberpriester hatte mir das seinerzeit untersagt, aber wenn wir schon hinter seinem Rücken die Chronik rauben..." Er zuckte mit leicht spöttischem Blick mit den Achseln.

"Na ja - der Gedanke hat was...", meinte der Falkensteiner und kratzte sich mit einer Hand nachdenklich am Kinn. Auch einige andere bekamen einen grübelnden Gesichtsausdruck. Lukan hatte in ganz Allerlanden und darüber hinaus eine gewisse Berühmtheit erlangt, aufgrund seiner tiefgreifenden Kenntnisse in der Heilkunst und der Zauberbeschwörung. Als einziger Drelder war er im Alter von nicht einmal 40 Jahren vom Harmonatskollegium sogar zum Gelehrten berufen worden. In dieser Funktion reiste er viel umher und führte bis zu seinem Verschwinden Forschungsaufträge für das Kollegium aus. Sollte jemand mit diesen Fähigkeiten die Elder-Chronik in die Finger bekommen, wäre ihm zuzutrauen, dem scheinbar unauffindbaren Geheimnis auf die Spur zu kommen. Dies wurde allmählich auch den anderen Grafen gerade bewusst.

Der Gotenfelser bemerkte allerdings, dass August und der Gernsheimer ihm weiterhin skeptische Blicke zuwarfen. Daraufhin sah er diese Beiden besonders eindringlich an und sagte mit erhobenen, gespreizten Fingern: "Die Sache liegt eigentlich klar auf der Hand: wenn wir die Chronik auf Jahre verstecken müssen und das nicht, ohne die Orte zu wechseln, sollten wir in der gleichen Zeit auch versuchen, Lukan zu finden, um an das Geheimnis zu kommen. Denn so wie kein Anderer es erlangen kann, weil wir die Chronik verbergen, so können wir umgekehrt auch als einzige an das Geheimnis kommen - eben weil wir die Chronik haben. Und mit Lukan an unserer Seite hätten wir durchaus eine echte Chance auf Erfolg." Er schmunzelte leicht und schaute den Hegeliner und den Gernsheimer wohlwollend an.

August schnaubte und bewegte sich ein wenig auf der Stelle hin und her. Dann suchte er Heinrichs Blick und fragte: "Was meint Ihr, Bernstein."
Heinrich erwiderte seinen Blick fest, schaute kurz zum Gotenfelser und suchte dann den Blick zu allen Anderen. "Ich denke, es ist ein Versuch wert", sagte er dann möglichst ruhig. "Wenn Graf Gustav meint, es könnten sich Hinweise zu Lukan finden lassen, kann er das doch gerne in Angriff nehmen." Er nickte dem Gotenfelser zu, der ihn interessiert musterte.
Heinrich schluckte einmal und fuhr dann etwas ernster fort: "Eins muss schließlich bedacht werden: auch nach Jahren der Suche könnte man die Elder-Chronik letztlich bei uns aufspüren. Wenn wir dann nicht alles versucht haben, sie zu verteidigen - selbst mit der großen Unmöglichkeit, das Geheimnis aufzudecken - haben wir die schweren Strafen, die sie uns dann aufbürden, auch verdient."

Der Gernsheimer schaute Heinrich halb versteinert an, so als wusste er innerlich, dass er eigentlich zustimmen musste. Augusts Miene drückte eine gewisse Bewunderung aus. Der Gotenfelser nickte anerkennend.
Nach einigem Zögern war schließlich keiner mehr dagegen, das Vorhaben in Austria mit der Suche nach Lukan zu verbinden.
Daraufhin wurden alle Aufgaben nochmal abgesprochen: August und Heinrich würden morgen mit ihrem verstärkten Trupp ins Eldthal aufbrechen, wohin ihnen Richard Dalsmann einen Tag später folgen würde. Alle Grafen waren sich dabei einig, den Eldthaler nicht nur um Pässe und Bogenschützen zu bitten, sondern ihn auch dafür zu gewinnen, das Eldthal als bestes Versteck für die Chronik bereitzustellen. Aufgrund seiner Empfindungen für Karl Johann Kreutz wäre er sicher dazu bereit, glaubten eigentlich alle.

In Austria sollte der Trupp sich dann eventuell aufteilen, um an verschiedenen Punkten der Amalienstraße die erwartete Kutsche überfallen zu können. Hier würde des Hegeliners Karte helfen, die er natürlich um jeden Preis mitzunehmen gedachte.
Der Falkensteiner wollte zudem Heinrich und August nach dem Raub der Chronik abfangen und an ein ruhiges Plätzchen führen. Er wies noch einmal auf die Gefährlichkeit von Kreutz hin, der von Pruzen kommend sicherlich als Erstes Falkenstein ansteuern würde. Damit könnte er zeitgleich mit Augusts und Heinrichs Rittertrupp nach ihrer Rückkehr aus Austria dort eintreffen. Daher würde es bestimmt nicht schaden, erstmal ein paar Tage unterzutauchen, so die Meinung von Graf Gerhard.

Schließlich versprach der Gotenfelser zeitgleich zu dem Ganzen bereits mit der Spurensuche nach Lukan zu beginnen. Vor allem die Gegend um Wohlegrot, als auch der Ort selbst, sollten als Erstes in Augenschein genommen werden.
Gustav von Gotenfels bot zudem an, den Graf von Billungen, seinen Nachbarn, ebenfalls für das Vorhaben zu gewinnen. August und Heinrich hatten ihn ja als vertrauenswürdig eingeschätzt, was auch die anderen Grafen teilten. Im gleichen Atemzug teilte Heinrich mit, dass er gedenke, den Helmsdorfer einzuweihen, wenn er bei ihm Rast hielt. Auch dagegen hatte niemand etwas einzuwenden.
Als geeigneter Ort zum Kontakthalten und zur Mitteilung untereinander, erkannten die Grafen recht schnell, dass das Eldthal hierfür ebenfalls die beste Wahl zu sein schien. Aufgrund des hohen Amtes des Eldthalers war es schließlich fast schon Gewohnheit, dass ziemlich viele Boten und Briefe an diesem ehrwürdigen Ort ein- und ausgingen.

Da inzwischen die Mittagsstunde schon nahe herangekommen war, kamen die Versammelten alsbald zu einem Ende und gingen vor dem Gasthaus auseinander, um auf verschiedenen Wegen zu dem anstehenden Mittagsmahl mit Oberpriester Ancellus zu schreiten.

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