5.8. Altes Geheimnis, neue Gefahr (III)
August hielt in der Ausführung seiner Gedanken inne. Er wirkte ein Stück weit beruhigter - jetzt, wo er alles, was ihn umtrieb, ausgesprochen hatte. Er blieb wieder stehen, musterte den sitzenden Grafen und fragte dann in ruhigerem Tonfall: „Was denkt Ihr nun, Bernstein?"
Daraufhin blickte Heinrich zu ihm auf und meinte unruhig: „Ich denke, dass es ziemlich schwierig sein dürfte, ein solches Kleinod nach einem Überfall irgendwo heimlich zu verbergen, findet Ihr nicht?"
Der Hegeliner wollte schon etwas dazu erwidern, doch der Bernsteiner setzte nach: „Und selbst wenn ich mich dazu durchringen würde, bei einem solchen Wagnis mitzumachen - wie sollen wir dann aber überhaupt erst nach Austria gelangen? Die Pässe vom Attanenfeldzug werden ab dem annimedies doch verfallen sein!"
August ließ die Einwände des Bernsteiners auf sich wirken und begann wieder langsam im Raum auf und ab zu schreiten. Er nickte sinnierend, wirkte aber überhaupt nicht ratlos. „Das sind zwei wichtige Aspekte, die Ihr da ansprecht, Bernstein", begann er dann erneut zu reden, „und ich glaube zu beiden gibt es Lösungen."
Als Heinrich ihn daraufhin fragend ansah, sprach August wieder in derselben energischen Art wie vorher weiter: „Also erstmal zu dem möglichen Versteck. Da gibt's in Allerlanden viele Möglichkeiten, aber ich denke, Ihr meintet das weniger des Ortes wegen, oder?"
„Natürlich!", brauste Heinrich jetzt auf. „Wir werden wohl gar nicht erst dazu kommen, die Chronik zu verbergen, weil austrianische und frankobardische Ritter hinter uns her sein werden! Vielleicht sogar harmonische!"
August schien auf diesen Einwand gewappnet zu sein. Er machte eine ausladende Handbewegung und meinte in einem Ton von gespielter Unschuld: „Aber woher sollte denn jemand wissen, dass es Drelder waren, die die Chronik gestohlen haben? In Austria treiben sich genug Landstreicher herum, die jede Art von Reisegesellschaft überfallen. Wir bräuchten nur einfache Kleidung zu tragen und keinerlei Wappen mitführen. Und wenn wir anschließend die Chronik irgendwo in Allerlanden gut verbergen, könnte uns keiner nachweisen, dass wir ihre Besitzer sind." Der Hegeliner Graf grinste verschmitzt.
Heinrich staunte nicht schlecht ob dieser Erklärung. Eine Verschleierung der eigenen Identität wäre tatsächlich eine Möglichkeit, allerdings galt dies auch als ein ungeheures Verbrechen, das nach den Gesetzen der Harmonier schwer bestraft wurde. Erst recht, wenn ein Graf sich zu derlei hinreißen ließ.
August von Hegelin sprach indessen bereits weiter: „Und was die Grenzpässe betrifft: Es stimmt natürlich: die Pässe vom Feldzug könnte man dafür nicht mehr missbrauchen. Aber wir beide kennen Jemanden, dem es ein Leichtes sein wird, uns neue Pässe auszustellen." Er blieb wieder stehen und sah den Bernsteiner forsch an.
Heinrich runzelte erst die Stirn, dann begriff er. „Ihr meint den Eldthaler!", erkannte er erstaunt. Der Graf aus dem berühmten Eldthal bekleidete ein hohes Amt im Königreich Austria.
Als August nickte, warf Heinrich ein: „Aber warum sollte der uns helfen?"
„Oho – das ist eine gute Frage, nicht wahr?", erwiderte der Hegeliner ironisch. „Wir werden ihn natürlich einweihen müssen, das steht fest. Und glaubt mir, der Eldthaler wird uns dann ganz bestimmt helfen wollen. Er hat nämlich einen guten Grund in eigener Sache, der Chronik habhaft zu werden."
Der Hegeliner lächelte erneut, während Heinrich nicht so recht verstand.
„Ihr kennt den Disput mit seinem Vetter nicht?", erkundigte sich August daraufhin.
„Ihr meint seinen Streit mit Kreutz? Doch natürlich, der ist mir bekannt", ließ der Bernsteiner verlauten. „Es geht um die eldenischen Wiesen nördlich vom Eldthal", ergänzte er. „Die Eldthaler haben sie sich einverleibt, doch Kreutz zufolge gehören sie seiner Familie."
August nickt bestätigend.
„Allerdings verstehe ich nicht, was die Elder-Chronik damit zu tun hat", gab Heinrich zu. „Werden Kreutz' Anschuldigungen etwa darin bestätigt?"
August wog seinen Kopf hin und her. „So könnte man es sagen, ja. Aber nicht in der eigentlichen Chronik, sondern in dem Buch, das am Ende der Chronik beigefügt wurde."
Heinrich konnte über diese Anmerkung des Hegeliners nur die Stirn runzeln.
August wunderte sich, dass sein Gegenüber die Andeutung nicht verstand. „Wie – Ihr wisst gar nichts von dem beigefügten Buch in der Chronik?" Da Heinrich dazu schwieg, erklärte August: „Der harmonische Chronist Arcteus hat damals seinen Bericht über den harmonisch-eldenischen Krieg der Elder-Chronik beigefügt, nachdem die Harmonier sich das wertvolle Schriftstück angeeignet hatten. Diese Aufzeichnung ist einzig nur dort hinterlegt. Deswegen ist die Chronik auch für die Harmonier ein wichtiges Heiligtum."
Heinrichs Miene erhellte sich ein wenig. Er ahnte schon, worauf der Hegeliner hinauswollte.
Wie dem auch sei", fuhr August fort und begann wieder im Raum umherzuwandern, „im letzten Teil dieser Erzählung schildert Arcteus, wie die Harmonier das eldenische Land nach dem gewonnenen Krieg neu verteilen: die Sippe Angelunds erhält den Nordwesten, Caldon und seine Familie den Nordosten, das Geschlecht von Dals den Süden - und so weiter und so weiter..."
Er blickte zum Bernsteiner, vergewisserte sich, dass dieser ihm gedanklich folgte und holte dann weiter aus: „Jedenfalls war sich Kreutz, der alte Stierkopf, nun stets sicher, dass in der Chronik daher auch geschrieben stehen muss, dass sein Vorfahr Antz damals die eldenischen Wiesen übertragen bekam. Seit Jahren versucht er nun ständig irgendwo Edelleute und Hochbegüterte zu gewinnen, um eine Einsichtserlaubnis in die Chronik zu erhalten. Einmal wollte er sogar die Harmonier dazu bewegen, eine Gesandtschaft nach Azara zu schicken, das muss man sich mal vorstellen!" Der Hegeliner kam ins Grinsen, wenn er an diese Anekdote dachte.
„Doch keiner der harmonischen Senatoren und Fürsten hatte für Kreutz' Anliegen etwas übrig, geschweige denn, dass sie seinetwegen nach Azara reisten, um für ein paar Stunden in der Chronik zu lesen."
Schmunzelnd schüttelte August den Kopf, wenn er daran zurückdachte. Was hatte sich Karl Johann Kreutz dabei auch nur gedacht, sich direkt an die harmonische Obrigkeit zu wenden? Er, der Drelder, der noch nicht mal als richtiger Edelmann galt.
Jetzt schaltete sich auch Heinrich in die Überlegungen des Hegeliners ein. „Ich verstehe allmählich, worauf Ihr hinaus wollt, Hegelin", offenbarte er seinem Gegenüber, „wenn die Chronik erst auf dem Kontinent weilt, wird Kreutz noch stärker versuchen, eine Einsicht zu erwirken. Und dass muss dem Eldthaler missfallen."
„Genau so ist es!", bestätigte August schwungvoll und kam vor dem Bernsteiner zum Stehen. „Und deshalb wird der Eldthaler auch sicher die Idee unterstützen, die Chronik abzufangen und sie zu verbergen", erklärte er Heinrich. „Ansonsten läuft er Gefahr, dass Kreutz früher oder später Einblick in die Chronik nimmt. Und dann müsste er die eldenischen Wiesen abtreten."
„So gibt es also tatsächlich einen Beweis in der Chronik, dass die Wiesen Kreutz gehören?", hakte Heinrich nach.
„Natürlich! Das ist es ja! Allerdings würde der alte Ancellus erst nach Vorlage des beweisenden Dokuments die eldenischen Wiesen an Kreutz übertragen. Deswegen wird uns der Eldthaler ja auch bestimmt helfen." August überlegte kurz und ergänzte: „Eventuell wird er sich sogar bereit erklären, die Chronik bei sich zu verbergen! Im Eldthal gibt's schließlich genug Gelegenheiten für Verstecke."
Heinrich kam nicht umhin, dieser Überlegung beizupflichten. Die Burg des Eldthals war auf den Grundfesten der früheren eldenischen Hauptstadt Eldenar errichtet worden. Unterhalb der Burg ließen sich daher immer noch viele alte Gänge und verschüttete Räume aus längst vergessenen Zeiten finden.
„Aber wird der Eldthaler denn überhaupt auf dem Medies-Fest sein?", wandte Heinrich ein. „Soweit ich es bisher verstanden habe, ist er doch aufgrund seines austrianischen Amtes von solchen Feierlichkeiten entbunden."
August nickte. „Vermutlich ist er nicht dort, das ist richtig. Aber auch das habe ich mir schon überlegt." Während dieser Worte bemerkte Heinrich, wie unendlich müde der Hegeliner aussah. Seine Stimme hatte aber nichts von ihrer energischen, angriffslustigen Art verloren: „Die ganze Sache sieht wohl so aus, dass wir vom Medies-Fest aus zunächst ins Eldthal reisen müssten."
August begann trotz Müdigkeit erneut umherzuwandern und entfaltete vor Heinrich seinen Plan: „Dort werden wir den Eldthaler auf Kreutz aufmerksam machen, woraufhin er uns sicherlich ohne Zögern austrianische Pässe ausstellen wird. Vielleicht gibt er uns sogar ein paar seiner Bogenschützen mit – das wäre ideal!" Der Hegeliner nickte scheinbar zu sich selbst als Bestätigung. „Anschließend reisen wir über die Ostlandstraße zur Grafschaft Falkenstein und passieren dort die austrianische Grenze."
Heinrich beobachtete ihn aufmerksam und stellte dann fest: „Ihr scheint Euch die Sache schon ziemlich gut überlegt zu haben."
August blieb stehen, lächelte Heinrich schmerzvoll an und zuckte mit den Schultern. „Nun ja, wenn man die ganze Nacht wach ist, hat man viel Zeit zum Nachdenken."
Der Graf von Bernstein schaute sein Gegenüber bewundernd an. Es war erstaunlich, wieviel Energie und Tatkraft der Hegeliner trotz des verlorenen Feldzuges im Rücken an den Tag legen konnte.
Aber je mehr er darüber nachdachte, verstand er Augusts Sorge immer besser. Hier handelte es sich um nichts weniger als ein großangelegtes Täuschungsmanöver der Harmonier! Und was hatten die Drelder nicht schon alles aushalten müssen dank der Bevormundung durch die Harmonier und den anderen Königreichen.
Außerdem hatte die ganze Angelegenheit weitreichende Folgen. Die Elder-Chronik, das größte Heiligtum der vergangenen Welt drohte, in die Hand Harmons zu fallen. Das ging einfach zu weit! Das durfte nicht passieren!
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