5.6. Altes Geheimnis, neue Gefahr (I)
Im Kaminzimmer angekommen, ließ er sich in einen der heruntergekommenen Holzstühle am Tisch sinken und nahm einen Schluck Wasser. Der Hegeliner hatte keine Muße zum Sitzen und ging erregt im Raum auf und ab. Heinrich wusste, dass er nach dem rechten Anfang des Gesprächs suchte, und hüllte sich daher in Schweigen.
Kurz darauf fing August an, los zu sprechen, wobei er noch immer auf und ab ging: „Oh diese Hinterhältigen! Geben sich als deine Freunde aus und verschweigen dir diese Ungeheuerlichkeit!" Er schnaufte einmal durch.
Heinrich staunte nicht schlecht über diesen Gefühlsausbruch. Möglichst beruhigend fragte er: „Ihr meint die Frankobarden?"
„Natürlich!", platzte es aus dem Hegeliner heraus. „Da wissen sie die ganze Zeit von dieser großen Sache und sagen natürlich nichts!"
Heinrich erwiderte nichts und nahm noch einen Schluck. Der Graf würde schon von sich aus preisgeben, was er denn meinte.
August hielt plötzlich zu traben an, zeigte aus dem Fenster und meinte an Heinrich gewandt: „Wisst Ihr, nicht einen Moment länger hätte ich es an der Seite dieser listigen Hunde ausgehalten!"
Er fuhr sich mit der Hand durch das vom Herumgehen verwischte Haar, schnaufte und drehte sich kurz von Heinrich weg. Er wirkte jetzt etwas ruhiger, so als habe der Gefühlsausbruch dafür gesorgt, dass er allmählich wieder klar im Kopf wurde.
„Was ist denn passiert?", traute sich Heinrich daher zu fragen, während der Hegeliner ihm den Rücken zuwandte.
August von Hegelin schnaufte nochmals durch, drehte sich dann um und sagte in einer sinnierenden Art: „Eigentlich noch nichts. Aber es wird passieren."
Er kam auf Heinrich zu, jetzt eher langsam als forsch, sah ihn durchdringend an und sagte: „Wenn ich Euch erzähle, was ich gestern Abend gehört habe, werdet ihr genauso aufschrecken."
Heinrich erwiderte seinen Blick fest und machte eine auffordernde Handgeste. „Bitte."
August begann erneut, vor Heinrich auf und ab zu wandern, allerdings viel beherrschter.
„Zufällig konnte ich gestern Abend ein paar Frankobarden belauschen", begann er. „Sie unterhielten sich darüber, dass der König von Azara ihrem König ein besonderes Geschenk anlässlich des Friedensjubiläums mitgebracht hat."
August hielt an und sprach dann direkt gewandt zu Heinrich: „Und jetzt ratet doch mal, was Henri V., dieser Schlingel, für ein besonderes Geschenk mitgebracht hat! He?"
Da Heinrich nur mit den Schultern zucken konnte, sagte der Hegeliner daraufhin ehrfurchtsvoll: „Die Elder-Chronik!"
Heinrich zuckte erschrocken zusammen. „Was? Die Chronik? Unsere Chronik?", hakte er ungläubig nach. August nickte nur, wobei er das Ganze ebenfalls immer noch fassungslos fand.
Heinrich war tatsächlich wie vom Donner gerührt. „Und – und Ihr habt Euch da auch sicher nicht verhört?", vergewisserte er sich mit belegter Stimme.
August schüttelte den Kopf, begann wieder hin und her zu gehen und antwortete dozierend: „Der Begriff fiel zweimal und ich habe ihn genau verstanden. Le chronique d'Eldér. Das ist der frankobardische Name für die Elder-Chronik."
Heinrichs Kopf wurde irgendwie schwer. Fassungslos schüttelte er langsam den Kopf. Es war nicht zu glauben. Jeder Drelder kannte die Geschichte über die Chronik, über dieses besondere Buch, das größte Schriftwerk, bedeutsamer noch als alle Schriften des ersten Heiligen Königs oder des Chronisten Arcteus. Dieses besondere Buch war ihnen – den Dreldern – einst von den Eldern hinterlassen worden, kam in die Hand der Harmonier, die es dann in dem großen Krieg mit den Frankobarden an jene abtreten mussten. Daher galt die Elder-Chronik seither als frankobardisches Nationalheiligtum.
Doch dann kam Azara. In Wut über den Umgang Philippe III. mit ihm, machte er sich einen Riesenspaß daraus, die Chronik aus den königlichen Hallen von Valeria zu entwenden und sie mit gen Westen zu nehmen. Seitdem war die Chronik auf dem Westkontinent verschwunden und niemals hatte auch nur irgendeiner daran gedacht, dass ein azarischer König dieses besondere Meisterwerk freiwillig wieder auf den Kontinenten Galia zurückbringen würde. Und dann auch noch zu den Frankobarden!
Heinrich sah August schwermütig an. Dieser stand jetzt wieder ruhig vor ihm und nickte wissend. „Oh ja, ich denke Ihr versteht auch die Besonderheit, oder? Ein größeres Geschenk hätte Henri V. den Frankobarden gar nicht machen können! Und doch ist das nur die eine Seite, nicht wahr?"
Heinrich sah August fragend an. Dann begriff er. „Ihr meint – das Geheimnis der Elder. Es könnte nun aufgedeckt werden." August nickte nur, wobei ihm angesichts dieser Vorstellung eiskalt wurde.
Denn mit der Elder-Chronik verband sich eine besondere Legende, die im Laufe der Jahrhunderte so oft und unveränderlich erzählt worden war, dass etwas Wahres daran sein musste. Angeblich hatten die Elder irgendwo in ihrem früheren Königreich ein großes Geheimnis hinterlassen. Woraus dies genau bestand, wusste niemand so recht, allerdings soll der Sage nach Derjenige, der diese hinterlassene Gabe erlangt, eine unvorstellbar große Macht bekommen.
In der Chronik steht zwar auch nichts Näheres zum Inhalt dieses Geheimnisses, wohl gibt es aber in ihr irgendwo einen versteckten Hinweis, der preisgibt, wo in Allerlanden diese besondere Hinterlassenschaft verborgen ist. Doch nie hatten weder die Harmonier noch andere den Hinweis gefunden. Viele glaubten, dass das Geheimnis unterhalb des öden Landes verborgen sein musste, doch nach intensiver Suche hatten harmonische Soldaten dort lediglich verschüttete und halbfertige Gänge entdeckt. Der Glaube an die Wahrhaftigkeit des Geheimnisses war allmählich verblasst. Doch mit dem Wiederauftauchen der Chronik auf dem Kontinent würde dieses Thema erneut aufleben.
Genau dies hatte August von Hegelin sofort begriffen, als er davon hörte. Da auch Heinrich die Legende vom eldenischen Geheimnis von klein auf kannte, begriff auch er jetzt die Tragweite dieses wertvollen Geschenkes.
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