5.4. Notlüge für einen Freund

Heinrich genoss die weite Ansicht, die sich vor ihm so vielfältig auftat. Halb links von ihm konnte er sehr weit entfernt das hügelige Land ausmachen, das einerseits ein Vorbote der hohen Steilküste im Norden war, andererseits auch als Ausläufer des frankobardischen Berglandes gesehen wurde.

Außerhalb des Dorfes löste der Reisetrupp allmählich seine feste Formation auf. Einzig Jean de Beauville ritt weiterhin als Einzelner mitten auf dem Weg, mit jeweils zwei Rittern vor und hinter sich. Dahinter trabten die Pferde der dreldenischen Grafen nebeneinander her. Heinrich hatte sich zwar gewundert, dass der Hegeliner nicht neben seinem Vetter reiten wollte, aber er freute sich natürlich auch über Augusts Gesellschaft. Überdies hatte er ja schon bemerkt, dass der Graf von Hegelin aus irgendeinem Grund heute nicht gut auf die Frankobarden zu sprechen war. Heinrich besaß aber ein zu ruhiges Gemüt, um sich lange darüber den Kopf zu zerbrechen. Zur rechten Zeit würde August ihm schon mitteilen, was ihn so beschäftigte.

Hinter den Grafen ritten die übrigen Ritter bunt durcheinander zusammen. Mal waren sie zu zweit nebeneinander, mal zu dritt. Wäre der Weg noch breiter, würden die jungen Draufgänger wohl sogar zu viert und fünfen nebeneinander voranstürmen.
Die Ritter führten dabei auch kleinere Gespräche, wobei man versuchte, die Sprachschwierigkeiten zu überwinden. Hugo hatte sich ein wenig mit dem Ritter Louis angefreundet, der am Vortag das Reh im Wald geschossen hatte. Sie waren ungefähr im selben Alter. Mit Gebärden und Gesten versuchte Jeder dem Anderen etwas mitzuteilen. Dies ging besser, als Hugo dachte. So erfuhr er unter anderem, dass Louis aus einer ganz kleinen Grafschaft im Süden des Herzogtums Champagne stammte, einer kleinen Grafschaft mit dem schönen Namen Gablé.

Nach einiger Zeit kam die Nuntiatur von Bernstein und eine Kreuzung in Sicht. Direkt vor der Nuntiatur bog ein schmalerer Weg nach Westen ab. Er führte weit bis in die Grafschaft Hegelin hinein, wo er dann auf die große West-Ost-Straße mündete. So nannten die Drelder die große Verbindungsstraße im Norden, die einmal quer durch die nördlichen Grafschaften Allerlandens verlief und über die man sowohl nach Frankobardien im Westen, als auch nach Pruzen im Osten gelangen konnte.

Die Reiter hielten direkt bei der Abbiegung an und man verabschiedete sich von den Bernsteinern, die es von dort nicht mehr weit bis zu ihrer Burg hatten. Überraschenderweise verkündete August von Hegelin, dass er noch nicht gedenke, gleich nach Hegelin zurückzukehren, sondern dass er zunächst den Grafen Bernstein auf seine Burg begleiten wolle. Heinrich wunderte sich anfangs, allerdings verflog das schneller als bei den übrigen Begleitern. Ihm wurde sogleich klar, dass der Hegeliner ihn wegen der Sache sprechen wollte, die ihn umtrieb.

Auf die Frage Jean de Beauvilles, warum er denn dort so dringend mit hinreisen wollte, druckste der Hegeliner zunächst herum. Dann schaute er Heinrich kurz an und meinte: „Der Graf von Bernstein wollte mir schon lange ein paar Neuerungen an seiner Burg zeigen, die für mich von Interesse sein könnten. Außerdem,,,", er schaute Heinrich nochmals an, „ich weiß nicht ob ich es sagen sollte, Bernstein..."

Heinrich verstand sofort. „Außerdem schulde ich der Grafschaft Hegelin noch etwas Geld", gab er kleinlaut von sich, wobei er die ihn anschauenden Mienen möglichst peinlich berührt und treuherzig ansah. „Dies möchte ich dem Grafen endlich wiedergeben, wo er doch schon in der Nähe weilt."

Die Reitergesellschaft verstand sofort und hatte keine weiteren Fragen. Alle schauten Heinrich mitfühlend an.
Dieser schmunzelte insgeheim. Es war ihm klar gewesen, dass eine solche Lüge sofort angenommen werden würde. Schließlich war Geld unter den gegebenen Umständen die allergrößte Mangelware zurzeit. Es war sehr glaubhaft, dass ein Graf eine bestehende Schuld in diesen Zeiten so schnell wie möglich beanspruchen würde. Sogar gleich nach der Rückkehr. Aus diesen Gründen war das sofortige Verständnis der Anderen zu erklären.

Der Hegeliner wies dem älteren Ritter Friedbert an, die Führung der Seinigen zu übernehmen. Er selbst wählte zwei Hegeliner Ritter für sich als Begleitung und gab allen zu verstehen, dass er erst am nächsten Morgen nach Hegelin zurückkehren werde. Schließlich war es bald schon wieder Mittag und die Grafen mussten ja auch noch durch die Stadt Bernstein hindurch.

Daraufhin gab es keine weiteren Einwände. Jean de Beauville und die Frankobarden verabschiedeten sich würdevoll vom Hegeliner Grafen, der dies aber gelassen und gefühlskalt entgegennahm. Anschließend strebten Heinrich und August in schnellerem Tempo auf die Stadt Bernstein zu, deren ersten Häuser bereits in Sicht kamen.

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