Eine Weile später. Heinrich und August saßen einträchtig nebeneinander an dem kargen Holztisch und ließen nicht nur die Mahlzeit sacken, sondern auch das ungeheure Vorhaben, das sich wie ein Dritter greifbar zwischen ihnen im Kaminzimmer aufhielt.
Die beiden Grafen saßen fast gleichsam mit ausgestreckten Beinen und nach hinten angelehnt auf den einfachen Holzstühlen und ließen die letzten Bissen hinuntersacken. Beider Gemüter hatten sich schon wieder einigermaßen beruhigt.
„Tja", meinte schließlich der Hegeliner etwas gedehnt. Damit versuchte er, das Gespräch erneut anzuregen.
Heinrich brummte kurz, als eine Art Antwort. Dann gab er sich einen Ruck und sagte langsam: „Wir werden auf jeden Fall die anderen Grafen einweihen müssen."
August horchte auf, wandte sich seinem Nachbarn zu und fragte erwartungsvoll: „So seid Ihr gewillt, bei dieser Unternehmung mitzumachen?"
Heinrich hielt ihn noch etwas hin und nahm in aller Ruhe einen Schluck Wasser aus dem hölzernen Becher, den Emma ihm hingestellt hatte. Während dieses Moments legte er sich seine Worte wohl zurecht und meinte: „Ich denke, es bleibt mir nichts Anderes übrig, Hegelin. Wie schon gesagt, ist das Ganze gewagt. Doch ich stimme Euch zu: die Chronik darf nicht in die Hand der Harmonier fallen."
Der Hegeliner seufzte erfreut auf, doch Heinrich ließ ihm keine Chance auf eine Antwort, sondern redete weiter. „Wenn ich aber bei derlei Abenteuerlichkeiten mitmache, möchte ich Eines klarstellen: mir geht es dabei nicht um die Harmonier. Es geht mir um die Chronik. Sie gehört hierher."
Heinrich schnaufte einmal durch. Dann fuhr er fort: "Nicht nach Frankobardien. Nicht nach Harmonia. Uns hatten die Elder die Chronik überlassen. Wenn es etwas gibt, das von der Verbindung zwischen uns und ihnen zeugt, dann ist es dieses Buch."
Der Bernsteiner drehte seinen Kopf zur Seite, blickte seinen Nachbarn nun entschlossen an und meinte: "Und deshalb, Hegelin, nur deshalb, werde ich Euch dabei unterstützen, es zu bekommen. Nicht, damit die Harmonier es nicht erlangen. Sondern, damit wir es endlich zurückerlangen. Weil dieses Buch einfach kein Anderer außer uns haben sollte."
Heinrich sah wieder nach vorn und atmete hörbar aus. Der Hegeliner hatte ihn bei seinen Worten nur bewundernd angeschaut und zustimmend genickt. Viele Edelleute dachten in etwa so, wie es Heinrich ausgedrückt hatte. Doch kam es nicht oft vor, dass sein jüngerer Freund und Nachbar sein Innerstes öffnete und so deutliche Worte sprach, daher nahm August das Gesagte seines Gegenübers dankbar an und ließ es auf sich wirken.
Erst nach einigen weiteren Augenblicken meinte er: "Dass ihr so denkt, kann ich nur gutheißen, Bernstein. Und auch unter den anderen Grafen werden wir derart Gleichgesinnte finden, will ich meinen."
"Hhm", brummte Heinrich und schien in Gedanken die Reihen der Grafen durchzugehen. "Aber die Auswahl will überlegt sein", fügte er schließlich hinzu.
August nickte zustimmend. Die meisten Grafschaften waren nur auf ihr eigenes Wohl aus. Diesen Familien war jedes Mittel recht, um sich bei ihren Lehnsherren beliebt zu machen und einzuschmeicheln. Als er und Heinrich daher für einen Moment nachdachten und dabei gleichermaßen starr vor sich hin schauten, sahen sie beide nahezu die gleichen Personen vor sich im Geiste auftauchen, mit denen ein solches Wagnis, wie sie es planten, nicht zu machen sei.
Immerhin ging es hier um nichts Geringeres als um den Diebstahl der Elder-Chronik. Da nicht nur die Harmonier dieses Buch gern in die Finger bekommen würden, sondern auch die angrenzenden Nachbarländer, gäbe es genug Grafen, die ihrem Lehnsherrn ohne zu zögern dieses Schriftstück in die Hände spielen würden, nur um vielversprechende Vorteile zu ergaunern.
Recht schnell wurde den beiden Weggefährten daher klar, dass sie bei der Auswahl von Verbündeten vorsichtig sein mussten und dass diese Auswahl eher bescheiden ausfallen dürfte.
Gerade als die Grafen sich gedanklich sortiert hatten und einander Vorschläge machen wollten, betrat Emma, die gutmütige und treue Dienerin, das Zimmer und fragte unvermittelt: "Braucht Ihr noch etwas Essen oder Trinken, Herr?"
Heinrich und August ruckten beide fast erschrocken mit dem Kopf herum und blickten Emma erstaunt an. Dann aber schüttelte Heinrich den Kopf und meinte: "Nein danke, Emma. Du kannst dich gern zur Ruhe begeben."
Daraufhin verneigte sich die altehrwürdige Amme und verließ den Raum genauso zügig, wie sie ihn betreten hatte.
Durch den Auftritt der Amme aber war der Moment des Schweigens und Nachdenkens nun endgültig vorüber.
"Also, Bernstein", meinte August als Erster, "wen, glaubt Ihr, könnte man für diese Ungeheuerlichkeit noch gewinnen."
"Den Helmsdorfer", erwiderte Heinrich selbstsicher, "ich kenne ihn gut. Er muss dank des Oberpriesters die meisten Abgaben leisten und beschwert sich allewege über die Hochmütigkeit der Pruzen und Frankobarden."
"Ja das sehe ich auch so", stimmte der Hegeliner mit leichtem Nicken zu. "Auch der Gotenfelser wird uns unterstützen", fuhr er fort. "Seine Landsleute haben am Häufigsten unter den Überfällen der Goten zu leiden und die Grafenfamilie hat schon oft keinen Hehl aus der Verärgerung über die nachlässige Unterstützung des Oberpriesters gemacht."
Heinrich bewegte Augusts Gedanken im Kopf herum und stimmte ihm stillschweigend zu. "Was ist mit Euren Nachbarn, Angelsheim und Angelsfeld?", fragte er dann.
August schüttelte entschieden sein Haupt. "Die halten es zu sehr mit Frankobardien", erklärte er seine Geste. "Sie hoffen immer noch auf einen Sonderstatus in Allerlanden und glauben ernsthaft, dass sie den durch die Frankobarden bekommen könnten. Andere wiederum sprechen sich sogar offen für eine Angliederung an Frankobardien aus." Der Hegeliner verdrehte leicht die Augen und meinte dann sarkastisch: "Als ob die Harmonier dies zulassen würden."
Er machte eine kurze Gedankenpause und meinte weiter: "Überhaupt, denke ich, sollten wir uns an die Grafschaften halten, die nicht an der Grenze liegen. Dort werden wir eher Gleichgesinnte finden. Wie etwa den Helmsdorfer, zum Beispiel."
"Hhm", meinte Heinrich, "da ist was dran." Er überlegte kurz. "Dann wird sich wohl auch der Billunger der Sache angetan zeigen", meinte er schließlich.
"Oh ja - die Billunger haben ja ebenso unter den Gotenangriffen zu leiden, wie die Gotenfelser", stimmte August zu.
Heinrich nickte wissend. Die Grafschaft Billungen lag im Nordosten von Allerlanden direkt an der gotischen Meerbucht und befand sich quasi in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Goten.
"Auch auf die Greifensteiner sollten wir getrost zählen", sagte August als Nächstes.
"Philipp und Julius?", fragte Heinrich nach. Er hatte von den beiden Zwillingen im Norden gehört, hatte sie aber bisher nicht persönlich kennenlernen können. Als eineiige Zwillingssöhne war ihnen zu gleichen Teilen die Regentschaft über die Grafschaft Greifenstein übertragen worden.
August nickte. "Ja, genau die. Ihre Grafschaft liegt ja am weitesten von jeder Grenze entfernt, was ihrer Treue zu den Pruzen nicht immer gut bekam." August sah Heinrich vielsagend an und grinste. "Außerdem sind die Beiden öfter gern auf ein Abenteuer aus, wie man so hört."
Nun grinste auch Heinrich, weil ihm sofort ein paar Geschichten einfielen, die er über die beiden Greifensteiner gehört hatte. Daher glaubte er August das sofort.
"Was ist mit dem Falkensteiner?", fragte er dann. "Seine Familie soll auch schon viel erduldet haben, wegen der Austrianer. Aber könnte man ihm trauen?"
August brauchte nicht lange zu überlegen. "Ich denke schon. Nicht nur wegen der Austrianer", gab er zu bedenken. "Die Grafschaft Falkenstein ist ein ständiger Zankapfel zwischen den Austrianer und den Pruzen. Beide ringen beim Oberpriester um die dauerhafte Oberhoheit." Der Hegeliner sah Heinrich direkt an. "Deshalb haben die Falkensteiner auch von den Pruzen schon allerhand hinnehmen müssen. Und was die Harmonier angeht", meinte er dann und machte eine bewusste Pause, "die halten die Falkensteiner klein, wo es nur geht. Immerhin gehörte die Familie zu den Rädelsführern des Drelder-Aufstandes."
Heinrich verstand und nickte leicht. Schon mehrmals hatten die Drelder einen Aufstand gegen die Unterdrückung der benachbarten Königreiche gewagt, was die Harmonier aber jedes Mal durch den Einmarsch von Truppen unterbinden konnten. Der letzte Aufstand, den August meinte, war inzwischen 40 Jahre her. Im Heiligen Königreich wird dieses Ereignis aber als noch nicht so lange zurückliegend wahrgenommen.
"Daher können wir dem Falkensteiner trauen, denke ich", meinte August abschließend, "obwohl er einer der Grafschaften führt, die an der Grenze liegen."
Heinrich stimmte zu, dann erwiderte er: "Das Gleiche gilt dann wohl auch für den Dalsheimer, nehme ich an."
August nickte. "Die Dalsheimer grenzen zwar direkt an Austria an, halten es aber nicht viel mit ihrem Lehnsherren. Auch bei ihrem Pferdehandel verstehen sie es sehr gut, so manchen Gewinn verdeckt an den austrianischen Beamten vorbei zu erwirtschaften." Der Hegeliner grinste Heinrich wiederum an und zwinkerte ihm verschmitzt zu.
Sein Gegenüber lächelte wissend. Die Familie der Dalsheimer war berühmt für ihre großartige Pferdezucht, aus der immer wieder einige der prächtigsten Geschöpfe des Kontinents hervorgingen. Vor allem für ihre unglaubliche Schnelligkeit waren die Dalsheimer Pferde berühmt. Kein Wunder also, dass die Grafschaft im Süden äußerst gefragt war in Sachen Pferdehandel und oftmals sehr gute Gewinne erzielte. Ganz zu schweigen davon, dass die Rösser in Dalsheim wohl in bisher jeder bekannten Schlacht der Vergangenheit eine wichtige Rolle gespielt hatten.
Nachdem sie noch ein, zwei weitere Grafenfamilien ins Auge gefasst hatten, die man ebenfalls ins Vertrauen ziehen sollte, kamen August und Heinrich überein, dass sie damit eigentlich genug Verbündete für ihr waghalsiges Unternehmen beisammen hatten. Allmählich sank auch schon die Sonne draußen vor der Burg ins Gras herab.
Schließlich einigten sich die beiden Nachbarn noch darüber, welche Grafen auf keinen Fall von der Sache erfahren durften. Hier waren die befreundeten Grafen der gleichen Meinung, dass der Golddorfer auf jeden Fall dazu gehörte, ebenso wie der Wulfenberger im Osten von Allerlanden. Beiden Grafen war zuzutrauen, dass sie sich die Chronik selbst aneigneten, um damit eigene Zwecke zu verfolgen.
Halb glücklich, halb erleichtert darüber, dass sie erste Dinge für die besondere Unternehmung besprochen hatten, ließen Heinrich und August sich nach hinten in die Stühle sinken, nahmen ihre Becher mit Wasser zu Hand und prosteten sich kurzerhand zu.
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