4.5. Ein Moment der Zweisamkeit

Zwei Stunden später war im gesamten Gasthaus Ruhe eingekehrt. Die meisten Beherbergten schliefen schon tief und fest. In einem Zimmer im ersten Stock saß Hugo auf einem Bett und genoss die romantische Stille der Nacht. Aus dem halb geöffneten Fenster drang lediglich das Zirpen der Grillen hinein. Zur Stimmung passte auch das spärliche Licht, mit dem der Raum erfüllt war. Eine einzige Kerze, die auf der Kommode nahe dem Bett stand, erhellte das Zimmer und Hugos Gesichtszüge. Das restliche Licht stammte vom Mond, der mittlerweile sehr hochstand und von oben durch das Fenster Lichtstrahlen aufs Bett und Hugos Rücken streute.

Hugo sagte kein Wort und erfreute sich an dem Moment. Neben ihm auf dem Bett saß Sarah. Etwas schüchtern saß sie mit zusammengefalteten Händen im Schoß da. Das Zimmer war ihre Unterkunft. Hugo hatte sich nach Auflösung der abendlichen Tafel angeboten, sie auf ihr Zimmer zu geleiten und sie hatte es zugelassen. Und nun saß sie hier mit ihm auf ihrem Bett und wusste nicht, was sie als Nächstes tun oder lassen sollte.

Eine kurze Weile saßen beide zaghaft und schweigend nebeneinander, dann durchbrach Hugo die Stimmung aus Schüchternheit, die sich allmählich wie ein Mantel um sie beide gelegt hatte. Er legte seine linke Hand auf Sarahs gefalteten Hände und betrachtete sie freimütig von der Seite. „Danke, dass ich dich hierher begleiten durfte", sagte er mit zärtlichem Unterton zu ihr.

Daraufhin sah Sarah ihn jetzt auch liebevoll an und antwortete: „Ich habe dir zu danken, Hugo. Wenn du nicht so beherzt eingegriffen hättest..."
„Sprich es nicht aus", unterbrach Hugo sie freundlich bittend und legte wie zur Bekräftigung nun beide seiner Hände auf die ihrigen. „Es ist ja jetzt alles überstanden."

Sarah musste schlucken, senkte den Blick und nickte nur. Anschließend fasste sie sich wieder und sagte: „Na jedenfalls – ich wollte dir noch einmal in Ruhe dafür danken, daher solltest du mich hierher begleiten."
Hugo ließ ein Lächeln voller Wärme aufblitzen, was bei Sarah ein Flattern im Herzen auslöste. Sie hoffte, dass sie ihre Empfindungen im Griff behalten würde.
„Das war auf jeden Fall sehr mutig von dir, sofort einzugreifen, obwohl du keine Waffe dabei hattest", meinte sie.

Hugo sah lächelnd kurz zur Seite, so als ließe er seine Tat noch einmal vor Augen ablaufen. Dann wandte er seinen Blick sogleich wieder der Magd zu und erwiderte humorvoll: „Es war wohl eher Leichtsinn und Unüberlegtheit." Etwas sinnlicher ergänzte er: „Aber ich konnte nicht anders. Ich musste doch einer so schönen jungen Frau beistehen."

Während er das sagte, rückte er etwas näher an sie heran und nahm seine rechte Hand langsam von ihren Händen weg, um sie dann behutsam auf Sarahs rechte Wange zu legen. Er streichelte sie sanft. Ihre Haut fühlte sich nicht wirklich zart an, sondern eher spröde, was zweifelsohne durch das aufreibende Arbeitsleben als Magd kam. Dennoch genoss Hugo das Berühren ihrer Haut. Ihm fiel erneut auf, wie wunderschön Sarah eigentlich war, obwohl sie doch schon mehrere Jahre als Magd hinter sich haben musste.

Sarah war erst leicht erschrocken, als Hugo sie plötzlich an der Wange berührte, dann ließ sie sich fallen in den Moment und genoss das Gefühl seiner zwar rauen, aber doch liebevollen Hand. Mit treuherzigen Augen bewegte Hugo seinen Kopf langsam näher an den ihren heran, wobei er aber keinen Herzschlag ihrem Blick auswich. Das Flattern in Sarahs Brust war wieder da.

Hugo konnte seinen Blick nicht mehr von Sarahs großen Augen abwenden, die ihn so erwartungsvoll anschauten, während es der Magd ähnlich ging. Schließlich bewegte sich auch Sarah mit ihrem Kopf langsam nach vorn und die beiden Gesichter trafen gleich darauf behutsam aufeinander.

Sie küssten sich langsam und innig. Mit einander schräg zugewandten Kopf bewegten sich die Lippen mehrfach aufeinander. Hugo, der mehr Erfahrung besaß, biss Sarah ein paar Mal sanft auf die Unterlippe. Als er aber versuchte, einen Zungenkuss einzuleiten und dabei seine andere freie Hand auf Sarahs Bein legte, stoppte die Magd abrupt und drückte den Ritter leicht von sich. „Ich – ich glaube, das reicht erstmal", meinte sie etwas erschrocken, aber doch ziemlich entschieden.

Hugo wich ein Stück zurück und schaute etwas enttäuscht drein.
„Weißt du, Hugo, ich hab dich wirklich gern", hob Sarah behutsam an, „aber ich möchte nicht nur eine weitere Eroberung von dir sein", sagte sie nach kurzer Pause, erfreut darüber, dass sie genug Mut hatte dies auszusprechen.

Hugo saß mit hängenden Schultern da und wirkte in sich zusammengesunken. Mit verschränkten Händen im Schoß starrte er geradeaus an die Wand vor ihm.
„Es – es wäre doch auch kein ritterliches Benehmen, wenn du meine Dankbarkeit so ausnutzen würdest, oder?", fügte die Magd hinzu.
Hugo wurde leicht rot, blieb aber weiterhin schweigsam.

„Außerdem bin ich in solchen Dingen nicht so freizügig wie eine Calebro-Frau." Die Magd konnte sich diesen Spruch nicht verkneifen und er klang auch etwas härter als sie es eigentlich vorgehabt hatte. Aber sie sah sich im Recht. Schließlich hatte sie sehr genau mitbekommen, wie angetan Hugo von der azarischen Königin vorhin gewesen war. Sie hatte keine Lust, nun als Diejenige herzuhalten, an der er seine aufgewallte Leidenschaft abkühlen konnte.

Hugo wusste nicht, was er sagen sollte. Offensichtlich hatte Sarah schon von seinem Ruf gehört, obwohl sie Gesken noch nie verlassen hatte. Doch dieses Dorf ist schließlich sein eigener Heimatort, warum sollte sein Ruf also nicht gerade hier bekannt sein.
Schließlich sah er es selbst ein und nickte. Sarah freute sich insgeheim darüber, dass Hugo sich seiner Ritterlichkeit wieder bewusst wurde.

„Du hast ja Recht", gab er dann kleinlaut zu. Aber er wollte Sarah zeigen, dass er eine Frau trotz seines Rufes auch angemessen behandeln konnte und dass es ihm nicht nur um eine Sache ging. Er sah die Magd etwas hilflos an und meinte: „Es ist nur – ich hab dich wirklich gern Sarah, aber ich weiß nicht, wann wir uns das nächste Mal wiedersehen werden!"

Sarah freute sich über diese Worte, sagte aber nichts und wartete ab. Meinte er es denn überhaupt so, wie er sagte?
Hugo seufzte, starrte wieder auf die Wand vor ihm und sprach weiter: „Morgen geht es nach Bernstein, dann das Mediesfest. Und was kommt dann? Wie soll es mit unserer verarmten Grafschaft weitergehen? Und mit den anderen?"

Die blonde Magd antwortete nichts, was sollte sie darauf auch sagen? Sie verstand Hugo ja. Sie waren zwei junge Menschen in einer Welt, in der allmählich alles aus den Fugen geriet. Insbesondere nach diesem schrecklichen Feldzug könnte eine harte Zeit für Allerlanden anbrechen und alles, wofür sie bisher ohne es zu hinterfragen gelebt hatten, schien ins Wanken geraten zu sein. Wie schön wäre es da, könnte man alle diese Sorgen für den Moment einer leidenschaftlichen Zweisamkeit hinter sich lassen.

Für eine Weile saß Sarah genauso gedankenverloren da wie Hugo. Dann fasste sie sich ein Herz, rückte näher an den Ritter heran und sagte: „Aber eins ist gewiss, Hugo! Wenn du das nächste Mal nach Gesken zurückkommst, werde ich immer noch hier sein. Und während ich hier auf dich warte, kannst du ja an mich denken, wenn du deine nächsten Abenteuer bestehst. – Hier!" Sie riss sich beherzt ein Stück Stoff aus ihrem dunkelblauen Mieder. „Hiermit hast du immer etwas, was dich an mich erinnert. Trag es bei dir, bis du zurückkommst!"
Sie hielt ihm den Stoff hin, lächelte ihn warm an. „Und wenn du mich dann immer noch sehr magst, darfst du auch etwas länger bei mir im Zimmer bleiben", ergänzte sie mit einem vielsagenden Blick.

Hugo sah die Magd erst erstaunt an, da er mit solchen Worten nicht gerechnet hatte. Dann grinste er verschmitzt zurück, nahm Sarah das Stück Stoff ab und band es sich etwas ungelenk um seinen linken Unterschenkel. Beschwingt stand er auf und sagte: „Abgemacht, Sarah! Bei meinen nächsten Abenteuern werde ich immer an dich denken! Und wenn ich wieder zurück bin, werde ich sie dir sehr ausführlich erzählen."
Jetzt war er es, der der Magd einen vielsagenden Blick zuwarf.

Sarah sprang vom Bett auf und umarmte ihn lächelnd. „Gute Nacht, Ritter Hugo! Danke noch mal für alles!"
Der blonde Jüngling genoss den Moment der Umarmung. Als Sarah sich von ihm löste, gab er ihr noch schnell einen Kuss auf die Stirn. Dann wandte er sich zur Tür um und ging hinaus.

Im Türrahmen stehend hielt er plötzlich inne und drehte sich noch einmal zur Magd um.
„Weißt du, Sarah, du hast echt Schneid!", lobte er. Er musterte sie kurz, blinzelte und fragte: „Wie kommt es eigentlich, dass wir beide im selben Ort aufgewachsen sind und trotzdem nie so recht ins Gespräch gekommen waren?"
Sarah zuckte verschmitzt mit den Achseln und antwortete: „Vermutlich warst du zu sehr mit anderen Frauen beschäftigt."
Hugo lachte auf und verließ dann nach kurzer Überlegung endgültig den Raum.

Sobald er verschwunden war, ließ Sarah sich seufzend rücklings in ihr Bett fallen. Sie freute sich darüber, dass Hugo ihr gegenüber seine Ritterlichkeit bewiesen hatte, denn das ließ sie auf ein echtes Interesse seinerseits hoffen. Sie war aber auch froh darüber, dass auch sie selbst bei diesem gutaussehenden Ritter so standhaft geblieben war. Alles, was sie jetzt tun konnte, war darauf zu hoffen, dass Hugo sie nicht allzu schnell vergessen würde – etwa durch Ausschweifungen bei dem Mediesfest. Dann könnte es bei seiner Rückkehr ein herzliches Wiedersehen zwischen ihnen geben.

Sarah atmete einmal laut seufzend aus und schloss ihre Augen. Mit dem typischen Blick einer frisch Verliebten schlief die Magd schließlich ein.

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