2.5. Ritterliches Eingreifen

„Mann, der hat uns vielleicht Kräuter eingeflößt", stöhnte Hugo, als er zusammen mit Andreas endlich das Zimmer am Ende des oberen Flurs verlassen durfte. Der Medicus war kurz vor ihnen gegangen, nachdem er mit seinen Abschlussuntersuchungen fertig geworden war, Untersuchungen, die Hugo das nächste Mal dankend ablehnen würde, selbst wenn er halbtot irgendwo am Boden liegen sollte.

Andreas grinste bloß breit, war er doch schon öfter solchen Torturen ausgesetzt worden. „Ach, komm", sagte er versöhnlich und klopfte Hugo im Gehen auf die Schulter, „jetzt haben wir es ja hinter uns und gönnen uns erstmal einen Trunk."
Hugo nickte und grinste sogleich mit. Schließlich gab es ja was zu feiern, denn wer hätte vor zwei Stunden noch geglaubt, dass sie jemals wieder so munter durch die Gegend spazieren würden.

Sie gingen nach unten und hielten Ausschau nach Marie und den Mägden, aber scheinbar waren diese gerade auf dem Hof oder im Stall beschäftigt. Daher gingen sie in den großen Schankraum, weil sie zumindest dort hinter dem Tresen eine der Frauen zu finden glaubten.

Als sie eintraten, sahen sie etwas Ungeheuerliches: An dem Tresen stand einer der Golddorfer Ritter und hielt eine Magd fest an ihrer Hüfte umklammert. Dabei drückte er sie mit seinem Becken obszön gegen den Tresen und säuselte mit seinen Lippen widerliche Worte in ihr Gesicht, während die Magd sich unter seinem Griff wand und gleichzeitig versuchte Hals und Antlitz möglichst weit weg vom Mund des Ritters zu positionieren.

Hugo und Andreas waren zunächst sprachlos.
„Los doch", flüsterte der Ritter bedrohlich, „lass uns nur schnell nach hinten gehen, es wird dir schon gefallen."
Hugo fand seine Stimme wieder. „Was erdreistet Ihr euch!"

Sofort ließ der Ritter von der Magd ab und wandte sich um, allerdings ohne jede Eile. Hugo und Andreas blickten in das raue, bärtige Gesicht eines stämmigen gelockten Kriegers, der bestimmt schon viele Wettkämpfe für sich entscheiden konnte.
„Was geht's dich an, Bübchen!", dröhnte der Ritter laut und legte seinen Arm demonstrativ um die Magd, die Hugo jetzt wiedererkannte: die blonde Frau gehörte zu den Mägden, die Andreas und ihn die ganze Zeit über versorgt hatten – ‚Sarah, so war ihr Name.', erinnerte er sich.

„Wir wollen Euch nur die Tugenden eines Ritters ins Gedächtnis rufen! Anscheinend habt ihr sie vergessen!", gab Andreas nun laut von sich. Anders als Hugo blieb er wie angewurzelt an der Tür stehen, aber seine Worte waren so schneidend und drohend, dass sie keine Ähnlichkeit mehr mit seiner sonstigen Stimmlage besaßen.
„Lasst sofort die Frau los!" rief Hugo aufgebracht und kam forschen Schrittes auf den Bärtigen zu.
„Oder was?", fragte dieser genervt und zog sein Schwert mit seiner freien rechten Hand.

Hugo blieb sofort stehen, maß sein Gegenüber aber weiterhin mit tödlichen Blicken. Dummerweise hatten er und Andreas ihre Schwerter noch nicht wieder zur Hand genommen. Der Ritter bemerkte dies auch und lachte dröhnend vor sich hin. ‚Was für Witzfiguren!', dachte er bei sich. Es würde ihm einen Riesenspaß bereiten, erst diese Beiden niederzustrecken und sich dann die Magd zu nehmen. Sein Name war Grunwald und er war es gewohnt, immer das zu bekommen, was er sich vorgenommen hatte. Warum sollte es diesmal anders sein? So dachte Grunwald, immer noch mit gezogener Waffe stehend und lachend.

Mit einem Mal beendete er sein Lachen und hieb schnell mit der Waffe aus. Andreas hätte beinah „Pass auf, Hugo!" gerufen, aber diese angstvolle Blöße durfte er sich nicht geben und außerdem war sie unnötig: als hätte Hugo nur auf eine solche Bewegung gewartet, sprang er behände nach hinten und ließ das Schwert Grunwalds ins Leere sausen. Dabei griff er wie beiläufig einen Stuhl, der neben ihm an einem Tisch stand, und hieb mit diesem blitzschnell auf Grunwalds Hand ein, bevor dieser sie zu einem zweiten Streich ausholen konnte.

Der Bärtige fluchte auf und ließ sofort das Schwert los, das sogleich klirrend zu Boden fiel. Mit einem Fußtritt beförderte Hugo das Schwert außer Reichweite des Besitzers und Andreas schmunzelte anerkennend, als das Schwert wie zufällig in seine Richtung glitt und vor seinen Füßen zur Ruhe kam.

Grunwald tobte vor Zorn, ließ Sarah los und stürzte sich auf Hugo. Er packte ihn am linken Arm und wollte auf ihn einschlagen, aber Hugo wehrte jeden seiner Schläge mit dem Stuhl ab, den er jetzt wie einen Schutzschild vor sich hochhielt.
Andreas hob unterdessen das Schwert auf und bedeutete Sarah mit einem Blick, außer Reichweite zu gehen. Die blonde Magd, die bis eben noch erschrocken auf der Stelle verharrt hatte, fand ihre Reaktionsfähigkeit wieder und eilte hinter den Tresen, wo sie sich gerade so weit abduckte, dass sie den Kampf zwischen Hugo und dem groben Ritter noch sehen konnte.

Grunwald gelang es nicht, Hugo ins Gesicht zu schlagen, aber er trieb den Ritter immer weiter im Raum vor sich her. „Was fällt dir ein mit einem Stuhl auf mich loszugehen!", tobte er. „Und mir mit ritterlichen Tugenden kommen wollen!"
„Er hat sich nur eine Waffe verschafft, um mit gleichen Mitteln zu kämpfen!", erwiderte Andreas daraufhin schneidend an Hugos Stelle, denn dieser brauchte seine Puste für den Kampf und musste zudem aufpassen, wohin er rückwärts gehend hintrat.

Sarah wunderte sich unterdessen, warum Andreas Hugo nicht half, aber sie kannte ja die ritterlichen Regeln nicht. Denn solange Hugo noch stand und gegen seinen Gegner ankam, wäre es unfair, als Zweiter in das Duell einzutreten. Was Sarah nicht bemerkte, war die Tatsache, dass Andreas förmlich unter Strom stand und regelrecht darauf wartete, dass Hugo außer Gefecht geriet. Dann würde ihn nichts mehr halten können und er würde sich mit voller Macht auf den Bärtigen stürzen.

Aber Hugo brauchte seine Hilfe nicht. Nachdem er Grunwald eine Weile an sich hat austoben lassen, hielt er plötzlich an und stemmte den Stuhl mit seinem ganzen Gewicht gegen seinen Gegner vor. Ihm gelang es dadurch, Grunwald von sich zu stoßen, und während dieser noch taumelte, warf Hugo den Stuhl blitzschnell zur Seite und verpasste dem groben Golddorfer eine schnelle rechte Gerade.

Der bärtige Ritter – bereits im Taumeln begriffen – verlor daraufhin völlig seinen Halt und landete unsanft auf seinen Hosenboden. Andreas nickte anerkennend. Sogleich sah Hugo fordernd zu ihm rüber. Sein Freund und Gefährte verstand sofort und warf Hugo das Schwert des Bärtigen zu, das dieser sicher auffing und dem Sitzenden sogleich an den Hals hielt. „Ihr verschwindet jetzt besser." Die Worte klangen halb gönnerhaft, halb wütend.

Ungläubig und zornig dreinschauend erhob sich Grunwald langsam, sah erst ihn und dann Andreas an und seufzte verächtlich. Niemals wird man wissen, was er wohl als Nächstes getan hätte, denn genau in diesem Augenblick kam ein anderer Ritter aus Golddorf herein und rief dem Bärtigen zu: „Wir sind soweit, Grunwald!" Nachdem er die Szenerie kurz eingeordnet hatte, fügte er hinzu: „Komm schon, der Alte wird ungeduldig! Er wartet auf deine Meldung, dass wir loskönnen."

Grunwald wendete sich daraufhin langsam von Hugo ab und schritt allmählich zur Tür, ohne die Augen von dem blonden Ritter abzuwenden. Sein Blick hatte jetzt etwas Trotziges an sich. Erst als er Andreas fast umlief, warf er diesem ebenfalls noch einen finsteren Blick zu und rempelte ihn im Vorbeigehen an. Andreas war aber nicht die Sorte von Ritter, die sich wegen so einer plumpen und banalen Geste zu einer Reaktion hinreißen ließ. Diese Art von Anmut machte Grunwald gleich noch etwas zorniger, was Andreas mit seinem Stillschweigen auch erreichen wollte. 

Auf dem Flur drehte er sich zu ihnen beiden um und sagte dann mit einem Rucken des Kinns zu Hugo verächtlich: „Behalt ruhig das Schwert, Grünschnabel. Ich werd' es mir schon zur rechten Zeit wiederholen." Die Ernsthaftigkeit dieser Drohung war nicht zu überhören. Nach einer scheinbar endlos langen Sekunde drehte sich Grunwald schließlich um und eilte mit dem Anderen nach draußen.

Sarah stürzte hinter dem Tresen aufatmend hervor und fiel Hugo um den Hals. „Oh, habt tausend Dank!", rief sie und weinte erleichtert.
Das riss die Ritter aus ihrer Angespanntheit. Hugo ließ das Schwert sinken und legte behutsam seinen Arm um Sarahs Schultern, Andreas senkte den Kopf nach unten und atmete leise erleichtert aus.

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