2.4. Zwei Grafen unter sich

Im Erdgeschoss des Gasthauses hatte Graf Gunther von Golddorf inzwischen seine Getreuen ausfindig gemacht und sich mit ihnen ausgetauscht. Er war seinem jüngeren Vetter Gerhard dankbar für dessen beherztes Handeln, die Männer sicher hierher zu führen. Allerdings gab er zu verstehen, dass er das Verschwinden vom Schlachtfeld trotz der Umstände noch nicht ganz so hinnehmen konnte. Gerhard musste daher mit Folgen irgendeiner Art rechnen. Denn für Gunther von Golddorf stand Loyalität stets an erster Stelle – das erwartete er von einem Jeden, der sich in seinen Dienst stellte.

Er verließ gerade Seite an Seite mit seinem Vetter eines der Zimmer, in dem einer seiner Ritter gelegen hatte, als er den Grafen von Bernstein die Treppe herunterkommen sah. Sofort brachen die beiden Golddorfer ihr Gespräch ab.
„Ah – der Herr des Hauses!", spöttelte Gunther, als Heinrich ihm entgegentrat. Gleich darauf grinste er mit einem so breiten Lächeln, dass man Mühe hatte, dieses als ernst gemeint anzusehen. Es war kein Geheimnis, dass der altgediente Graf aus Golddorf wenig für seinen jungen Amtskollegen übrig hatte – seiner Meinung nach war Heinrich ein Grünschnabel, der einfach nicht das Recht besaß, sich als ihm ebenbürtig anzusehen.

Der Graf von Bernstein war keineswegs beleidigt und erkannte die Bemerkung als die gewohnt übliche Stichelei seines Nachbarn. Daher nickte er ihm nur kurz lächelnd zu und erwiderte dann ironisch: „Ich bin nicht nur Herr in diesem Haus, sondern in allen Hütten und Katen weit und breit dieser Gegend, Golddorf! Daher möchte ich Euch so gebührend als möglich willkommen heißen!"
Das Grinsen des Golddorfers verschwand. Nach einer deutlich spürbaren Pause des Schweigens sagte der ältere Graf dann betont ernst: „Es ist nur ein Höflichkeitsbesuch. Immerhin sind einige der Meinigen hier bei euch untergekommen, wie Ihr sicherlich auch schon bemerkt haben dürftet." Der bewusst spöttische Unterton sollte Heinrich kränken, aber der war zu müde, um sich davon einschüchtern zu lassen.

Nach ein paar weiteren Floskeln dieser Art ließ Graf Gunther seinen Vetter unbeachtet stehen, ging sinnierend los und bedachte Heinrich mit einer knappen Geste, ihm an seiner Seite zu folgen. Scheinbar war dem Golddorfer danach, vom jüngeren Grafen etwas über die Ereignisse zu erfahren, die sich im Süden abgespielt hatten. So schritten beide Grafen nebeneinander gemächlich durchs Gasthaus und tauschten sich über das Geschehen im attanischen Bergland aus. Jeder zählte dem Anderen seine Verluste auf und beide murrten einvernehmlich über die schlechte Vorbereitung der Harmonier und über das fehlerhafte Wissen der Heiligen Allianz über die Attanen.

Es war die typische Unterhaltung zweier niederer Feldherren, die sich aufgrund der Unfähigkeit ihrer Lehnsherren um den Sieg gebracht glaubten. Das Gespräch verlief daher regelrecht einvernehmlich, denn innerhalb der politischen Verpflichtungen gegenüber den Austrianern befanden sich Heinrich und Gunther in derselben Situation: sie mussten eigenständig für die Ihrigen als Graf sorgen und dennoch zugleich ihre austrianischen Schutzherren zufrieden stellen. Diese Edelherren erdachten sich alle möglichen Gründe, um sich mithilfe irgendwelcher Abgaben an der Grafschaft zu bereichern. Ging es aber darum, den Grafen bei Schwierigkeiten unter die Arme zu greifen, vergaßen die Austrianer ganz schnell ihre Aufgabe als Schutzherr und ließen die Drelder auf sich allein gestellt.

Angesichts solcher Verhältnisse in Allerlanden war es daher nicht verwunderlich, dass sich Heinrich und Gunther trotz ihrer sonstigen Differenzen so einträchtig über die Unfähigkeit ihrer beider Lehnsherrn unterhielten. Heinrich war dabei dem Fürsten Alfons von Amalien unterstellt, dessen Einzugsbereich sich auf die südlichen Grafschaften Allerlandens erstreckte – Gernsheim, Waldesheim, Dalsheim und Bernstein. Gunther von Golddorfs Lehnsherr hingegen war der Fürst Johann von Karolien, der neben Bärenbach und Golddorf im Norden vor allem einige der direkt im Osten an Austria grenzende Grafschaften bevormundete, die südlich des öden Landes lagen.

„Bei den Waldesheimern schien ja auch ordentlich was los gewesen zu sein", sagte Gunther gerade zu Heinrich. Scheinbar wollte er das Gerede von seinen eigenen Verlusten beenden und stattdessen lieber über das Unglück eines Nachbarn reden.
„Ja – erstaunlicherweise waren die meisten Ritter schon zurück", erwiderte Heinrich daraufhin, mit einem eher neutralen Unterton.
„Wisst Ihr nichts Näheres?", wunderte sich Gunther daraufhin. Immerhin hatten die Waldesheimer und die Bernsteiner ja denselben Lehnsherrn.
„Leider nein", bedauerte Heinrich ehrlich, da er gerne gewusst hätte, was den Waldesheimern geschehen war.

„Nun ja, wie dem auch sei – da euer Medicus aus Gesken meinen Männern ihre Gesundheit einigermaßen wiedergegeben hat, werde ich bald aufbrechen."
Heinrich, dem nicht entgangen war, dass die Sonne mittlerweile deutlich tiefer stand, wunderte sich. „Ihr wollt jetzt noch weiterreisen, Golddorf?", fragte er mit einem Unterton, der ganz bewusst Unverständnis ausdrückte. „In vier Stunden wird es dunkel sein", fügte er unnötigerweise hinzu.

Gunther von Golddorf ließ sich von Heinrichs Tonfall nicht stören. „Ich fürchte die Dunkelheit nicht", gab er stattdessen selbstbewusst zurück. Wohlwissend, dass der jüngere Graf ihn wegen eines solchen Ausspruches anschauen würde, warf Gunther ihm einen stechenden Blick zu, sobald dieser den Kopf in dessen Richtung drehte. Die blauen Augen des Golddorfers schienen fast Funken zu sprühen, der Blick sollte Heinrich verdeutlichen, dass ein Gunther von Golddorf jede Situation zu meistern vermochte.

Heinrich ließ nicht zu, dass der Golddorfer ihn auf diese Weise einschüchterte. Nach ein paar Sekunden zog er fragend die Braue hoch, so als verlange er eine Erklärung über diese Äußerung.
„Ich führe alles Nötige mit, um ein vortreffliches Nachtlager herzurrichten", fuhr der Golddorfer daraufhin fort, wobei er wieder nach vorne schaute, „Eure Fürsorge, Bernstein, ist also unbegründet." Er betonte das Wort „Fürsorge" absichtlich ironisch und warf Heinrich einen kurzen spöttischen Blick zu.
„Wie Ihr meint", antwortete der Bernsteiner Graf darauf achselzuckend und sah dabei bewusst nach vorn.

Schweigend gingen sie nebeneinander weiter her, bis sie den großen Hauptraum des Gasthauses erreichten. Dort standen einige große Tische - mal mit vier, mal mit sechs oder mal mit acht Sitzplätzen – verschiedenartig im Raum verteilt, die sonst zur Abendstunde meist gut besetzt waren und die nun aber ungewohnt leer und verlassen wirkten, wodurch die traurige Atmosphäre der Niederlage auch hier greifbar wurde.

In einer Ecke des großen Raumes gab es aber Betriebsamkeit. Dort standen die Golddorfer Ritter um drei große Tische versammelt, die sie zuvor aneinander geschoben hatten, und sortierten und begutachteten mit den wenigen Knappen, die sie noch hatten, ihre Habe und Ausrüstung. Dabei wurde manch Schanier und manch Schulterpanzer sogleich wieder zurechtgebeult oder ein wenig eingeölt.
Heinrich bemerkte, dass auch drei der ehemals Verletzten dabeistanden und sich munter an dem Treiben beteiligten. Viele ihrer Dinge war Ihnen ja zuvor von den Mägden abgenommen worden, so dass sie ihr Zeug erst zusammenfinden mussten.

„So meine Lieben", schnarrte Gunther plötzlich laut in den Raum rein, „ich hoffe ihr seid bald aufbruchsbereit!"
Alle Ritter hielten inne und drehten sich zur großen Doppeltür des Raumes um, wo sie ihren Herrn mit dem Bernsteiner Grafen erblickten. An die Menge gewandt zog Gunther fragend die Braue hoch.
„Gebt uns noch einen Moment, Herr", antwortete ein grobschlächtiger Ritter sogleich, wodurch die drückende Stimmung, die durch die scharfe Frage des Grafen entstanden war, sofort beendet wurde. Er löste sich aus der Menge und trat vor die beiden Grafen. „Wir packen nur noch unser Zeug zusammen und sind dann soweit", versprach er. Offensichtlich hatte er bei der Ausrüstungsüberprüfung die Führung übernommen, mutmaßte Heinrich. Vielleicht war aber auch generell so etwas wie der anführende Ritter unter den Golddorfern.

Wie um seine Vermutung zu bestätigen, drehte sich der bärtige Ritter schnell um und dröhnte den Anderen zu: „Also, ihr habt's gehört! Ausbeulen und dergleichen können wir auch noch bei der nächsten Rast machen. Hier sind wir jetzt fertig!"
Daraufhin kam Bewegung in den Ritterhaufen. Mit lautem Scheppern und Klappern klaubte jeder Ritter seine Siebensachen zusammen und verschnürte sie entweder irgendwie an seinem Körper oder verstaute sie in einen Ledersack, den die wenigen Knappen, die dem Gefolge noch verblieben waren, anschließend sogleich nach draußen zu den Pferden brachten.

Heinrich verließ den Raum, damit er nicht im Wege herumstand. Er trat nach draußen vor das Gasthaus und genoss zum ersten Mal die Luft um seine Nase. Wenngleich es immer noch deutlich warm war, wurde der Wind allmählich kühler. Ein milder Sommerabend kündigte sich an und Heinrich war nicht im Mindesten überrascht, die Sonne bereits als orangene Scheibe auf die Waldkante herabsinken zu sehen.

Nach einer kurzen Weile trabte auch Gunther von Golddorf nach draußen und stellte sich neben ihn, allerdings in einer solchen demonstrativen steifen Haltung, die verdeutlichte, dass er erst einmal keine Worte mit ihm zu wechseln beabsichtigte.
Während um sie herum die Golddorfer Ritter ständig herein- und herauseilten, um alle Sachen hinauszuschaffen, blieben die beiden Grafen wortlos nebeneinander stehen und betrachteten schweigend das muntere Treiben. 

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