1.2. Der Priester

Gerach von Gesken betrat den großen Raum. Wie immer schloss er die Tür bedächtig und so leise wie möglich hinter sich. Dann wanderte sein Blick durch die hochgebaute Räumlichkeit. Der Anblick war ihm mittlerweile schon sehr vertraut. Obwohl er erst vor 4 Wochen zum neuen Priester für das Dorf Gesken geweiht wurde, hatte er sich das Innere seiner Wirkungsstätte ziemlich genau eingeprägt. 

Langsam und würdevoll ließ Gerach den Blick durch das Glaubenshaus schweifen, und genoss dabei die himmlische Ruhe des Ortes. Sein Gesicht wirkte sehr jung und unerfahren. Er sah auf den ersten Blick wie ein Jugendlicher aus, der vor kurzem erst die Harmonion erfahren hatte - die Berufung in das geistliche Erwachsenenleben. Tatsächlich entbehrten seine ersten Gottesdienste einer gewissen Erfahrung, waren mit zitternder und unsicherer Stimme vorgetragen worden.

Gerach beendete das Innehalten und faltete langsam seine Hände vor sich. Mit ruhigen sanften Schritten, den Kopf dabei gesenkt, begann er schließlich nach vorne zu schreiten. Während er immer näher an den Altar kam, schien sein Blick mehr und mehr nach innen gerichtet zu sein. Direkt vor dem Altar blieb er stehen, und sank auf die Knie. Demütig sah er auf zu dem großen geschnitzten Holzstab, der in enormen Ausmaßen an der Rückwand hinter dem Altar aufragte. Dies war der Hirtenstab Harmons, das Zeichen des allmächtigen Gottes, dem Gerach diente. 

Der Stab war in erster Linie ein längliches Glaubenssymbol. Ein langer verzierter Ast erhob sich fast in der Dicke eines Baumes nach oben. Im letzten Fünftel endete die lange, gerade Form plötzlich. Darauf befand sich ein Querbalken, der zwar fast genauso dick war, im Vergleich zu der länglichen Form aber nur sehr kurz nach links und rechts ragte. An seinen beiden Enden befanden sich zwei geschnitzte Pfeilspitzen. Auf diesem Querstück folgte dann ein kreisförmiges längliches Oval, das dünn ausgeprägt und ausgehöhlt war. Es war ein nach oben verlaufender ovaler Holzkranz, der in sich abgeschlossen auf dem Querbalken aufragte. 

Dieses Oval nannte man „das Auge Harmons". Inmitten dieses Holzkranzes hatte ein Holzschnitzer in feiner und filigraner Weise ein geöffnetes Auge mit eingearbeitet, über das eine zackenförmige Augenbraue verlief. Der eingeschnitzte Augapfel wirkte auf einen Betrachter allwissend und mächtig und ließ so manchem Gläubigen einen Schauer über den Rücken laufen, denn es wirkte, als konnte dieses Auge in die hintersten Winkel einer jeden menschlichen Seele schauen.
Dieser Augapfel innerhalb des Ovals war das eigentliche Auge Harmons, das den mächtigen Gott repräsentierte, denn bis auf das Auge war das Angesicht des Gottes unbekannt – auch weil laut dem Glauben der Harmonier kein Mensch würdig sei, ins Antlitz Harmons schauen zu dürfen.

Gerach hielt wie so oft inne und ließ das gewaltige Glaubensrelikt, das die Heiligkeit des Ortes präsentierte, auf sich wirken. Ehrfürchtig betrachtete er den Blick des einen Gottes - den Schutzherrn des Volkes der Harmonier. Diese von Harmon gesegnete und auserwählte Gemeinschaft hatte einst dafür gesorgt, dass auch die Stämme des Nordens unter die schützende Hand Harmons gekommen waren. Wie so oft kam Gerach auch diesmal wieder genau dieser Gedanke in den Sinn und erfüllte ihn stets mit einer gewissen Dankbarkeit. 

Nachdem er auf diese Weise sinnierend den Hirtenstab eine Weile angeschaut hatte, hob er seine Hand zum Kopf und machte das Stabzeichen – das Zeichen der harmonischen Glaubensgemeinschaft. Dabei hebt man seine Hand auf die Höhe der Stirn und vollzieht mit halb geschlossener Hand vor seinem Gesicht zunächst einen ovalen Kreis. Diesen zeichnet man zügig und gleichmäßig vor der Stirn beginnend an der linken Wange vorbei bis zur Kinnunterseite hin und von dort an der rechten Wange vorbei zurück zur Stirn. Diese Bewegung symbolisiert den oberen Teil des Glaubenssymbols - das ovale Auge Harmons.
Sowie man an der Stirn wieder angelangt ist, folgt unmittelbar darauf die zweite Handbewegung. Man setzt mit seiner Hand oberhalb des Kinns noch ein zweites Mal an und zeichnet einen gedanklichen Strich zügig von Höhe des Kinns nach unten hin, bis oberhalb des Bauchnabels. Dabei schließt man seine Hand allmählich und stoppt dann mit halb geschlossener Hand abrupt an der genannten Stelle am Bauch, wodurch das Ganze dann so aussieht, als zöge man ein unsichtbares Seil zu einem Knoten zu. Diese zweite Bewegung verdeutlicht den eigentlichen Stab – den unteren Teil des Glaubenssymbols.

Auch Gerach führte nun gerade – immer noch kniend – diese Bewegung aus. Ohne den Blick vom geschnitzten Auge Harmons zu nehmen, vollzog er beide Handbewegungen vor Gesicht und Körper in der üblichen Weise: schnell und zügig, aber mit einer gewissen Würde und Gleichmäßigkeit. Erst danach senkte Gerach den Kopf, schloss seine Augen, faltete seine Hände und begann Buße zu tun, so wie er es von klein auf gelernt hatte. 

Mancherlei Gedanken kamen ihm dabei plötzlich in den Sinn. Er erinnerte sich an die Priesterweihe, die erst einen Monat zurücklag. Der Oberpriester von Allerlanden war persönlich in Gesken erschienen um ihn, den jungen Gerach, in die Priesterwürde zu setzen. Die ganze Dorfschaft war versammelt gewesen, ebenso wie alle anderen Priester aus den Nachbarorten, und natürlich auch der Kantonat von Golddorf, dem Gerach nunmehr unterstehen würde.

Die Dorfbewohner hatten in einem großen Kreis den Platz vor dem Gemeindehaus umringt, vor dessen Eingangstor der Oberpriester stand. Gerach war langsam und würdevoll durch die Menge hindurch auf den Oberpriester zugeschritten, bis er direkt vor ihm gestanden hatte. Er hatte mehr oder weniger zufällig bemerkt, dass die anderen Priester und der Kantonat hinter dem Oberpriester standen, natürlich mit einem würdigen Abstand.
Gerach war auf die Knie gegangen und der Oberpriester legte seine Hände auf sein Haupt. „Im Namen des göttlichen Harmon", hatte dieser dann würdevoll und kräftig begonnen, „hiermit verleihe ich dir die Würde eines Priesters! Du erhältst damit die Vollmacht zur Taufe und der Vergebung der Sünden in dem Namen des Herrn! Sei nun ein Vorbild der Lehre Harmons, und betreue deine dir anvertraute Gemeinde in allen ihren Sorgen! Sei ihnen ein Fels des Glaubens und lehre sie die rechte Buße!..." 

In dieser Weise hatte der Oberpriester noch eine ganze Weile weitergeredet. All die Dinge aufgezählt, die nun zu seinen Aufgaben gehörten, und die er zu tun und zu lassen hatte. Gerach hatte dabei die ganze Zeit über nur gehofft, der Oberpriester möge seine zitternden Knie nicht bemerken.
Gerach schmunzelte vor sich hin, während er daran dachte. Er öffnete die Augen wieder und betrachtete nun den Altar etwas genauer - seine neue Wirkungsstätte, an der er die Messen abhielt. Er war komplett aus Bernstein gefertigt, so wie es bei vielen Ziergegenständen in der Grafschaft üblich war. Nicht sehr hoch, aber sehr breit gezimmert, stand er auf einer zweistufigen Erhöhung, die das Allerheiligste des Glaubenshauses darstellte. Der Altar hatte einige flache Schmuckfiguren an der vorderen Front und an der Seite eingearbeitet, ansonsten war er aber nicht sonderlich verziert. Kein Wunder – schließlich war Gesken ja auch nur ein kleiner Ort.

Gerachs Gesicht wurde wieder ernst. Er sammelte sich für das Anliegen, wegen dem er eigentlich gekommen war. Immer noch auf Knien, senkte er sein Haupt und schloss erneut seine Augen. Kaum hörbar für die Umgebung aber dennoch mit entschlossener Stimme begann er das Gebet zu sprechen, das ihm auf der Seele lag: „O allmächtiger Harmon, in großer Sorge kommt dein geringer Knecht vor dein Angesicht. Denn allerorten erzählt man sich von der verlustreichen Niederlage gegen deine Feinde, den heidnischen Attanen. Wir wissen nicht, warum du uns diese Prüfung auferlegst, doch bitten wir dich inständig – segne unseren Herren, den Grafen Heinrich, und bring ihn mitsamt seinem Gefolge sicher nach Haus. Denn du weißt er wird hier gebraucht in unserer Mitte, und wir..."

Mitten in diesem Satz wurde plötzlich die große Eingangstür aufgestoßen, und ein Ruf tönte herein: „Ehrwürden!" Gerach brach jäh sein Gebet ab, und wandte sich erschrocken um. Es war für ihn immer noch ein bisschen ungewöhnlich, mit ‚Ehrwürden' angeredet zu werden, wenngleich er es sich nicht anmerken ließ.
Er erhob sich und blickte zur Tür. Dort stand Albrecht, einer seiner Priestergehilfen. „Ehrwürden!", wiederholte dieser nun, diesmal nicht ganz so laut, anscheinend weil ihm gerade bewusst geworden war, wo er sich hier befand. Er begann eilig auf Gerach zuzugehen.
Dieser hatte sich wieder gefasst, und kam seinem Gehilfen energisch entgegen. „Ehrwü...", wollte Albrecht erneut sagen, diesmal noch leiser - scheinbar entschuldigend für sein Auftreten - aber Gerach, der nun vor ihm stand, schnitt ihm sofort mit einer Handgeste das Wort ab: „Willst du wohl Ruhe halten!", zischte er flüsternd. „Rufst hier herum, wie der Kuckuck im Wald!" Trotz seiner jugendlichen Stimme wirkten Gerachs Worte schneidend und belehrend. „Dies ist das Haus Harmons!", fügte er noch hinzu.
Albrecht nickte zunächst nur dümmlich, dann erwiderte er verbeugend und ebenso flüsternd: „Entschuldigt, Ehrwürden."

Gerach zog die Nase kraus. Ausgerechnet Albrecht musste ihm jetzt über den Weg laufen. Seine Priestergehilfen hatte er sich nicht aussuchen können - die wurden vom Kantonat festgelegt. Mit Walter und Jakob war er auch sofort klargekommen, aber Albrecht war so ein Fall für sich. Mürrisch, grob und oftmals etwas unbeholfen – eine ungünstige Konstellation von Charaktereigenschaften.

Gerach sammelte sich wieder, und nahm gleich darauf seine typische, besonnene Haltung ein. Er atmete einmal kurz tief durch, und fragte Albrecht dann flüsternd: „Was ist denn los?".
Es schien als hätte sein Gegenüber nur auf dieses Stichwort gewartet. „Ich habe beunruhigende Neuigkeiten!", platzte es sogleich aus Albrecht heraus. „Zwei Ritter sind eingetroffen, sie sind verletzt – haben große Wunden – kommen aus dem Süden..."

„Was?", fragte Gerach ungläubig. Nunmehr wich sein letztes Maß Besonnenheit aus ihm. ,Das würde ja bedeuten...', dachte er beklommen. „Du meinst also, sie sind...", wollte er sich vergewissern.
„Ja – aus dem attanischen Bergland! Versteht ihr, Ehrwürden? All die Gerüchte, die wir hörten sind wahr!"

„Aber sie leben", vergewisserte sich Gerach sofort und sah Albrecht fragend an.
Der nickte nur. „Ja, aber sie sind schwer verwundet. Nur Harmon weiß, wie lange sie noch durchhalten."

Gerach nickte kurz zustimmend. Dann setzte er sich in Bewegung. „Wo sind sie?", fragte er bestimmend, während er schnellen Schrittes an Albrecht vorbei Richtung Ausgang ging.
Albrecht wandte sich um und ging seinem Priester sofort hinterher. „Drüben im Gasthof.", sagte er, während beide nach draußen gingen.
Gerach schloss die Tür zu, und steckte den großen langen Schlüssel ein. „Dann komm!", sagte er zu Albrecht, „lass uns sehen was wir für die Männer tun können."

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