1.15. Der Geheimraum
Im Inneren des Glaubenshauses war es erstaunlich still. Dies war das Erste, was Gerach bemerkte, nachdem er eingetreten war. Die allgemeine Unruhe, die sich mittlerweile vom Gasthaus aus ins ganze Dorf verbreitet hatte, war hier nicht zu spüren.
Schnellen Fußes durchschritt Gerach das Harmonizil. Auf Höhe des Altars bog er nach rechts ab und ging auf eine kleine Seitentür zu. Dahinter lag ein kleinerer Raum, der in erster Linie zur Vorbereitung seiner Messen diente. Ein breiter Tisch aus Eichenholz nahm den größten Platz in dem Zimmer ein. An einer Seite standen zwei Regale, in denen sich mehrere verschiedene Schriftrollen längsseitig auftürmten.
Gerach hatte keinen Blick für das spärliche Mobiliar, sondern ging direkt an dem großen Tisch vorbei und stellte sich vor die Wand, die dahinter war. Durch das wenige Licht im Raum - denn es gab nur ein kleines rundes Fensterloch an der linken Wandseite - konnte man kaum die geraden Vertiefungen sehen, die in die Wand eingearbeitet waren. Sie bildeten auf der gemauerten Ebene ein hohes Rechteck, welches wie ein übergroßer Bilderrahmen fast die gesamte Wandseite beanspruchte. Gerach blickte auf diesen halb versteckten Rahmen und tastete die Wand etwa mittig innerhalb dieses Rechteckes ab.
Dann fühlte er es. Fast genauso unsichtbar gab es dort eine ebenso kleine, lochförmige Vertiefung. Gerach fixierte die Stelle mit den Augen und holte die Kette hervor, die er unter dem Gewand trug. An deren Ende hing ein kleiner, länglicher Gegenstand aus Eisen, der einige merkwürdige Ausbuchtungen besaß und am Ende zu einer pyramidenförmigen Spitze zusammenlief.
Gerach betrachtete den Gegenstand kurz ehrfürchtig, dann steckte er ihn vorsichtig in die kleine Vertiefung. An einer bestimmten Stelle rastete der Gegenstand hörbar ein und ließ sich nun nicht mehr weiterschieben oder zurückziehen. Gerach nickte daraufhin zufrieden und drehte den Gegenstand nach links bis ein erneutes Geräusch zu hören war.
Gleich darauf begann sich der Teil der Wand, der von den Vertiefungen umrahmt war, nach hinten zu bewegen. Unter Rumpeln und Schnarren schob sich der Mauerstein über den Boden. Schon zeichnete sich der bewegende Teil der Wand deutlich gegenüber dem Rest ab und spätestens jetzt erkannte man, dass sich hier gerade eine Geheimtür öffnete. Der riesige Steinblock hielt plötzlich an und bewegte sich gleich darauf seitwärts nach rechts. Ein Spalt wurde sichtbar, aus dem mattes Licht schimmerte.
Der Spalt vergrößerte sich zunehmend, bis er eindeutig als Öffnung zu erkennen war. Der Steinquader bewegte sich etwa noch bis zur Mitte und hielt erst an, als der kleine Gegenstand, der nichts Anderes war als der Schlüssel zu diesem Raum, fast an der Seitenwand anschlug. Abrupt stoppte die Bewegung.
Gerach hatte das Schauspiel still genossen, wenngleich er es eilig hatte. Jede Minute konnten die Ritter des Grafen sterben. Er duckte sich und zwängte sich durch die entstandene Öffnung in den Geheimraum. Dieser war fensterlos und nicht besonders groß. Er bestand aus einem kurzen Gang, der nach zehn Schritten etwa endete. Dort an der Rückwand des Raumes stand eine verzierte, steinerne Säule, die hoch wie ein Mensch war und auf der eine flache, goldene Schale stand. In dieser Schale brannte eine kleine Flamme, wodurch der Raum sein weniges Licht erhielt.
Auffällig waren sofort die Verzierungen an den Wänden und das seltsame gelblich-weiße Gestein, aus dem alles im Raum bestand. Es war, als betrete man eine ganz andere Welt. An beiden Seiten des kurzen Ganges befanden sich zwei steinerne Blöcke, die fast über die gesamte Länge des Raumes reichten und den unteren Teil des Raumes ausmachten, so dass es keine weitere Bewegungsmöglichkeit bis auf den Gang gab. Diese Blöcke gingen Gerach etwa bis zum Bauch. Auf ihrer Oberseite lagen zwei dicke, unglaublich gerade geschliffene Steinplatten, die einen helleren Farbton hatten, wodurch die Blöcke wie zwei riesige, übergroße Steintische wirkten. Tatsächlich dienten die oberen Flächen der Steinblöcke als Lagerungsstätte. Sie waren gewissermaßen die Stellflächen des Raumes. Auf beiden Seiten dieser Flächen standen seltsame gleichmäßig geformte Steine, die ordentlich aufgereiht hingestellt worden waren.
Gerach schritt den Gang entlang und betrachtete jede Steingruppe kurz. Nach einigen Momenten fand er auf der rechten Seite das, was er gesucht hatte. Er nahm einen der Steine mit beiden Händen hoch und hielt ihn ins Licht. Er hatte sich nicht getäuscht. Das eingravierte Symbol des Steines war das Zeichen der Heilung. Er nahm einen der kleinen Lederbeutel, die hier ebenfalls auf den Flächen bereitlagen, und verstaute den Stein behutsam darin.
Er schnürte den Beutel zu und ging dann ans Ende des Ganges zur Steinsäule mit der Schale. Er legte den Lederbeutel auf die rechte Steinfläche ab und nahm den Krug Öl zur Hand, der auf der linken Steinfläche stand. Er hob den Krug mit beiden Händen über sich und goss vorsichtig etwas Öl in die Schale nach, die sich oberhalb seines Kopfes befand.
Es war Crysanz-Öl, eine Spezialität aus den östlichen Provinzen des Heiligen Königreiches von Harmon. Jede Art von Feuer brannte damit sehr lange, da das Öl sich nur langsam aufbrauchte. Gerach nutzte es gern für diesen Raum. Auf diese Weise konnte die Flamme ununterbrochen weiterbrennen, so dass er immer sofort Licht hatte, wenn er den geheimen Gang betrat.
Gerach stellte den Krug vorsichtig wieder ab, nahm den Lederbeutel auf und verließ den Raum. Er griff an den besonderen Schlüssel, der nun direkt neben dem steinernen Türrahmen in der Vertiefung des verschobenen Steinblocks steckte. Er zog einmal kurz nach vorn, woraufhin ein klickendes Geräusch zu vernehmen war. Jetzt erst konnte Gerach den Schlüssel wieder drehen – diesmal nach rechts. Er drehte so weit, bis der Schlüssel ausrastete. Er zog den Schlüssel ab und schon begann sich der große Steinquader erneut zu bewegen. Erst langsam nach links, bis er die Öffnung verschlossen hatte, danach wieder nach vorne. Gerach streifte sich eilig die Kette mit dem Anhänger über und verließ schnell sein kleines Amtszimmer, ohne zu warten, bis der Block seine alte Position eingenommen hatte.
Er schloss den Dienstraum zweimal zu und ging dann zügig zum Eingangsportal des Harmonizils zurück. Währenddessen hörte er zufrieden, wie das Rumpeln des Steinblockes stoppte. Der Quader hatte wieder mit dem Rest der Wand abgeschlossen. Die Unzugänglichkeit zum Geheimraum war wiederhergestellt.
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