1.10. Am Bärenbach
Heinrich verspürte ein Ziehen im Magen, wie so oft, wenn ihm die Bürde eines Grafen in Allerlanden wieder einmal deutlich bewusst wurde. Seine Gedanken wanderten erneut zu seinem Vater zurück, der ihm damals bei ihren Ausflügen immer schon allerlei erklärt hatte, wenngleich Heinrich die Zusammenhänge nicht immer richtig verstand. Oft hatten sie auf der Rückkehr von der Jagd in Gesken Halt gemacht, um eines der erlegten Tiere dort im Gasthaus gleich zu einem gemütlichen Bratenschmaus zubereiten zu lassen.
Dabei hatte sein Vater ihn meistens auch etwas von seiner Verantwortung erzählt. Wie üblich hatte er jedes Mal immer nur einen bestimmten Punkt angesprochen, vermutlich weil er selbst nicht wusste, wieviel von dem Ganzen er seinem Jungen zumuten konnte. Heinrich erinnerte sich gerade daran, wie sein Vater einmal das gerade zubereitete Reh als köstlich lobte und ihm dann kauend sagte: „Merk dir immer mein Junge: Halte dich gut mit den Leuten aus Gesken – sie versorgen dich nicht nur mit Holz, sondern sind gewissermaßen auch die Speisekammer der Grafschaft!"
Die Erinnerung an diese Szene ließ den Grafen schmunzeln, vor allem weil das Bild, wie seinem Vater dabei die Bratensoße aus dem Mundwinkel tropfte, wohl für immer in seinem Denken haften bleiben würde.
Heinrich lenkte sein Pferd um die nächste Biegung des Weges und vernahm mit einem Mal das allbekannte Rauschen, auf das er schon gewartet hatte. Etwa hundert Schritte vor ihm führte der Weg über eine Art Brücke, die eher behelfsmäßig war und keineswegs sicher aussah, da sie mehr von der Natur geschaffen worden war und nicht von Menschenhand. Man sah vor sich einen deutlichen Riss quer im Gelände, bei dem der Boden plötzlich aussetzte und ein paar Ellen weiter versetzt auf einer höheren Ebene wieder begann.
Über diese zwar kleine, aber dennoch deutliche Kluft führte jene Brücke, die einfach nur in der Fortsetzung des Weges bestand, der dort kurzzeitig schräg anstieg. Im Näherkommen konnte Heinrich deutlich erkennen, dass der Boden an dieser Stelle wie immer beängstigend dünn aussah, denn die Kluft verlief nur ein Stück unterhalb des Weges ohne Unterbrechung hindurch.
Diese „Brücke" hatte Heinrich mit festem Lehmboden verstärken lassen, damit sie zu Pferde passierbar war. Bei jeder Überquerung prüfte er erneut die Tauglichkeit des Ganzen – so auch diesmal.
Er stieg ab und schritt so weit wie möglich an die Kluft heran, wobei er das Pferd am Zügel hielt, und betrachtete die Lehmkonstruktion der Brücke. Er konnte keine große Veränderung feststellen und atmete erleichtert auf.
Er genoss den Geruch des Wassers und gönnte sich einen Blick hinab in den breiten Erdriss. Knapp zehn Ellen unter ihm rauschte ein Bach entlang. Mit dem Namen Ursus hatten die Harmonier diesen Bach einst in ihre Karten aufgenommen – so weit nördlich waren sie damals im Krieg gegen die Elder vorgedrungen, dass sie hier einem Bach einen Namen geben konnten. Die Menschen in der Gegend nannten den Bach aber meistens in der Niedersprache: Bärenbach. Der Name kam nicht von ungefähr, denn tatsächlich tummelten sich in diesem Wald neben Rehen, Hirschen und Wildschweinen vornehmlich Bären, die man hier zuhauf jagen konnte. Scheinbar war das schon vor Jahrhunderten so gewesen, als die Harmonier hier erstmals Fuß fassten.
Heinrich setzte sich aufs Pferd und setzte seinen Weg über die Brücke fort, wobei er noch einmal zum fließenden Wasser hinuntersah. Der Bach markierte die südliche Grenze zur Grafschaft Bernstein, so dass der Graf in diesem Moment also sein Gebiet betrat. Würde man dem Bach nach Westen folgen, gelangte man in die gleichnamige Grafschaft Bärenbach, die sich westlich von Bernstein befand. Der Ursus war dort etwas breiter und verlief dort auch mitten durch die Grafschaft hindurch.
An einer bestimmten Biegung stand dort die Bärenburg, von der aus Graf Dietrich sein Besitztum führte. Heinrich war schon oft auf der Bärenburg zu Besuch gewesen – nicht zuletzt um sich damals für seine Burg ein paar Tricks auszugucken, die man übernehmen könnte. Als Kind hatte er sich allerdings immer vor der grauen, bedrückenden Befestigung gefürchtet, wenngleich er Dietrich von Bärenbach immer schon sympathisch fand.
Heinrich fragte sich beklommen wie es ihm wohl bei dem Feldzug ergangen war. Hatte er überlebt? Er hoffte es inständig. Wenn tatsächlich alle sein Ritter gestorben sein sollten, konnte er nur hoffen, dass seine Nachbarn ihm aushelfen würden. Wo sollte er sonst so schnell ein Dutzend fähiger Burschen als Ersatz finden – geschweige denn eine mehrfache Ernennung zum Ritter beim Kantonat erwirken?
Derart betrübt ritt Heinrich weiter den Weg entlang. Vom Bach aus brauchte man etwa nur noch eine halbe Stunde bis Gesken. Das Dorf war eine Ansammlung von einigen Häusern, die direkt in den Wald eingebettet lagen. Nur in der Mitte gab es einen breiteren Platz, wo auf der einen Seite das Gasthaus, auf der anderen Seite das Harmonizil lag – das Glaubenshaus der harmonischen Gottheit.
Neben Gesken gab es noch zwei weitere Orte in der Grafschaft: Einerseits den Ort Bernstein selbst, der zentral in der Grafschaft lag und wo auch die Burg Heinrichs stand, andererseits das Dorf Öden, welches östlich von Bernstein liegt. Wenn Heinrichs Vater Gesken als „Speisekammer" tituliert hatte, musste man Öden passenderweise als „Kornkammer" bezeichnen, denn von dort bezog Heinrich den Großteil seiner Getreideabgaben. Dies war aber nur bedingt möglich, denn ostwärts des Dorfes beginnt das öde Land, welches sich von dort aus sehr weit erstreckt und dem Ort einst seinen Namen gegeben hatte.
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