Verzweiflungsschrei

Kapitel 38

Mit selbstsicheren Schritten marschierte ich an den weißen Tüchern, welche die Patientenbetten voneinander trennten, vorbei und steuerte auf Doktor Hanio zu, der neben drei weiteren Ärzten stand. Unruhig blieb ich hinter ihm stehen. "Soll ich ihn fragen, oder doch lieber meine Beine in die Hand nehmen und davon laufen?", haperte ich mit mir selber. Lukas nahm mir meine Entscheidung ab, indem er sich laut räusperte. Dadurch gestört, unterbrachen sie ihre hitzige Diskussion und wandten sich uns zu. Eine tiefe Verbeugung folgte. Während Lukas nun seine Erlaubnis gab sich wieder aufrecht hin zu stellen, knetete ich meine Hände angespannt durch. Als der grau Haarige Mann mich sah, sanken seine Mundwinkel trastig.

Mit einem unguten Gefühl fragte ich leise "Wie geht es ihr inzwischen?" Betretendes Schweigen. Traurig atmete der Arzt aus. Mir wurde schlecht und gleichzeitig unglaublich heiß, als er seinen Kopf schüttelte.
"Ist sie...?", fragte ich atemlos.
"Tot? Nein", schüttelte er den Kopf. "Doch ihr Zustand ist mehr als kritisch." Tief atmete ich ein, um mich wieder zu sammeln. Sie war nicht tot. Das war schon mal eine gute Nachricht... glaubte ich zumindest. "Folgt mir bitte", marschierte der ältere Mann an mir vorbei. Lukas warf mir beim Vorbeigehen einen prüfenden Blick zu, den ich mit einer ernsten Miene erwiderte.

Durch eine separate Tür geschritten, blieben wir vor dem Bett der Mutter stehen. Vor Fassungslosigkeit klappte mir meine Kinnlade hinunter. Als die Tür quitschend in ihr Schloss fiel, wandte sie uns mit Mühe ihren Kopf zu. Leer. Matt. Wie eine Tote sah sie mich aus ihren braunen Augen an. Meine zitternden Hände wanderten hoch zu meinem auf stehenden Mund.
Das konnte sie nicht sein! Das durfte nicht sein! Als ich sie noch vor ein paar Monaten gesehen hatte, hatte sie doch wieder zugenommen! Warum also?
Zögerlich schritt ich auf sie zu und blieb knapp neben ihr stehen. Von ihrer Härte und ihrem Stolz war nichts mehr zu erkennen. Abgemagert, wenn nicht sogar nur noch Haut und Knochen, lag sie in dem Bett, das bei ihr recht groß wirkte.
"Hallo. Lange nicht mehr gesehen", sprach ich leise und lächelte sie gezwungen sorglos an.
"Tötet... mich. Erlöst mich von meinem Leid", flehte sie heißer, woraufhin ich sie sprachlos anstarrte.
Das hatte sie nicht gerade wirklich gesagt, oder?
Ein kräftiger Hustenanfall durchschüttelte sie. Entsetzt starrte ich auf ihre Lippen, an denen nun Blut klebte.
"Ich-", stotterte ich, um Worte ringend. "Seid Ihr noch ganz bei Sinnen? Ich kann Euch doch nicht töten!", rief ich aufgebracht aus und zeigte ihr den Vogel. "Was ist mit Euren Kindern? Mit Mila und Joshua? Was soll ich ihnen sagen, wenn sie fragen, wo ihre Mutter ist?" Bestürzt starrte ich sie an. Ein schwaches Lächeln bildete sich auf ihren Lippen. Das erste Lächeln, was ich während meinen ganzen Besuchen bei ihr jemals gesehen hatte.
"Ich möchte Euch etwas erzählen", murmelte sie und schaute vor sich in die Leere. "Vor zwanzig Jahren lebte ich mit meinem Ehegatten zusammen in einer bescheidenen kleinen Hütte am Waldrand. Wir hatten nicht viel Essen und nicht viele Glonden. Doch das machte uns nichts aus, da wir uns beide hatten... Als dann jedoch Mila kam, veränderte sich alles schlagartig." Betrübt sah sie zur Seite und schnappte nach Luft. Vorsichtig ließ ich mich neben ihr auf der Bettkante nieder und hörte ihren nächsten Worten aufmerksam und mit Interesse zu.
"Unser Essensvorrat ging schneller leer und wir mussten immer wieder den Arzt bezahlen, da Mila früher ein sehr schwaches Kind war. Vier Jahre später beschloss mein Mann deswegen der Kaiserlichen Armee bei zu treten. Ich war nicht sehr begeistert davon, doch er sagte, dass er dadurch viel Geld bekommt, wodurch ich dann widerwillig zustimmte." Schwer schluckte sie, während ihr Brustkorb sich hektisch hob und senkte. "Als er ein Jahr später auf dem Schlachfeld starb und ich wieder mit Joshua schwanger war, zog der Kaiser unsere ganzen Habseligkeiten ein. Es hieß, dass mein Mann Wettschulden gegenüber anderen Soldaten hätte. Doch ich wusste, dass das nicht stimmte! Er hasste schon immer Kartenspiele", erklärte sie mit rauer Stimme und sah verbittert zur Seite. "Seitdem sind nun zehn Jahre vergangen. Zehn Jahre, in denen ich und meine Kinder auf der Straße leben." Traurig lächelte sie mich an. "Lady Allyson." Mein Mund fühlte sich Staubtrocken an, als ich die Tränen hinunter schluckte. "Ich kämpfe nun schon seit über drei Jahren..." Röchelnd rang sie nach Luft. "... gegen die Krankheit an. Ich kann nicht mehr. Bitte!" Zitternd griff sie nach meinem Handgelenk. "Erlöst mich von meinen Schmerzen."
Hin und her gerissen wandte ich mich von ihr ab und entzog ihr sanft meine Hand.
"Wisst Ihr eigentlich, was Ihr da von mir verlangt?" Verzweifelt und gleichzeitig wütend schaute ich zu ihr zurück. Sie nickte ernst.
"Ich möchte, dass Ihr mich von meinen Schmerzen erlöst!", antwortete sie ruhig. Wütend haute ich meine Fäuste auf die Matratze, sodass alle zusammen zuckten.
"Ich soll Kindern ihre Mutter weg nehmen. Die einzige Person, die sie wirklich von Herzen lieben? Nein!", schüttelte ich entschieden den Kopf. "Das kann ich nicht!"
"HIER GEHT ES NICHT UM EUCH!", brüllte sie auf einmal verzweifelt. Rote Tränen sammelten sich in ihren Augen und kullerten ihre Wangen hinunter. Erschrocken hielt ich den Atem an. "Ich habe mich die ganzen Jahre liebevoll und mit allem was ich noch hatte um sie gekümmert. Jetzt bin ich auch mal an der Reihe", schluchzte sie bitterlich.
Ein Schwall Blut schoss aus ihrem Mund in ihre vorgehaltenen Hände, als sie wieder anfing zu Husten. Besorgt wanderte mein Blick zu ihrem schmerzverzertem Gesicht.
Nur der Gedanke daran jemanden umzubringen, war mir zuwider. Ich wurde zwar fürs Töten trainiert, doch es wirklich zu tun oder zu wollen, war eine andere Sache.
Für den Bruchteil einer Sekunden wurde alles schwarz vor meinen Augen, weshalb ich schnell blinzelte, um wieder klar sehen zu können. Als ich wieder aufsah, breitete sich blitzartig ein furchtbarer Schmerz in meinem Brustkorb aus. Röchelnd sah ich mich nun selber neben mir sitzen und mit aufgerissenen Augen in die Meine schauen. Mein Blick wanderte unweigerlich zu dem Diamanten. Hell leuchtete er unter dem Stoff auf.
Meine Lunge fühlte sich an, als würde sie sich zusammen ziehen und zusammen geknüllt würden, weshalb ich mich vor Schmerzen krümmte. Ich wollte schreien. Doch kein Laut kam aus meinem Mund.
"Warum muss dieser scheiß Diamant auch immer in den falschen Moment angehen?", fragte ich mich sauer und schnappte verzweifelt nach Luft. Doch meine Lungen waren wie zugeschnürt. Kein Sauerstoff kam raus oder rein. Der Versuch endete damit, dass ich wieder in meinen Körper katapultiert wurde und in Panik an die weiße Wand starrte.

Hektisch holte ich Luft und unterdrückte einen Schrei. Während sich meine Hände in das Bettlaken krallten, wurde mir schlagartig klar, dass sie keine Chancen mehr zum Überleben hatte. Auch auf der Erde würde man sie nur ins Koma legen, bis sie wirklich starb.
An der fast erstickenden Mutter vorbei gesehen, erkannte ich, wie Doktor Hanio hastig zu einer Spritze griff und sie mit einer klaren Flüssigkeit auffüllte. Mit Tränen verschleierter Sicht griff ich hinter mir nach Lukas Schwert, das an seiner Hüfte in der Scheide hang, und zog es zu mir. Schockiert sahen mir alle zu, wie ich auf die Mutter stürzte und ihr die Klinge kraftvoll in das Herz rammte. Wie Butter glitt es schmatzend durch Fleisch und Knochen.
Dankbarkeit sah ich in ihren Augen aufblitzen, als sie mit einem sanften Lächeln auf den Lippen ihren letzten Atemzug tat.
"Es tut mir leid. Es tut mir leid", schluchzte ich immer wieder leise - an Mila und Joshua denkend - und starrte mit nassen Wangen in die leeren braunen Augen. Ruckartig wurde ich von der Frau weg gezogen. Wimmernd schloss ich meine Augen, als ich nur an meinen Armen hoch gehalten wurde, während meine Knie auf den Fliesen schliffen. Den folgenden Schmerz auf meiner Wange nahm ich aus freien Stücken hin. Die weitere Ohrfeige ebenfalls.
"Bist du noch ganz bei Trost?", brüllte mich Lukas an. Schluchzend drückte ich mein Mund gegen den Arm. "Was sollte das?"
"Majestät. Sie ist tot", berichtete der Arzt ruhig hinter ihm.
"Das ist mir auch bewusst. Raus!", brüllte Lukas außer Fassung und ließ mich los, sodass ich hart mit meinen Knien auf den Boden knallte. Grob wurde ich an meinen Schultern durchgerüttelt.
"Ich habe ihren Schmerz gespürt", schluchzte ich, damit er aufhörte mir weh zu tun, und hielt mir meine Hände vor das Gesicht. Ich konnte selber nicht glauben, was ich gerade getan hatte. Doch so war es besser. Nicht nur für sie, sondern auch für ihre Kinder. Hätte sie nämlich noch weiter mit der Krankheit gelebt, müssten Mila und Joshua mit ansehen, wie sie ihnen immer mehr aus den Fingern glitt. So behielten die Kinder wenigstens noch ein einigermaßen gesundes und fröhliches Bild von ihrer Mutter im Kopf.
Augenblicklich hörte der König auf, mir meine Schultern fast aus zu reißen.

"Der Diamant?", fragte er ernst. Schwach nickte ich. Frustriert stöhnte er auf und nahm meine zitternden Hände von dem Gesicht. "Augen auf", befahl er streng. Ich gehorchte, sah ihn jedoch nicht an. Zu groß war die Angst, dass er mich mit einem kalten Blick bestrafen würde.
"Schau mich an." Trotzig schüttelte ich den Kopf und drehte mich von ihm weg. Daraufhin umfasste er grob mein Kinn und robbte mein Gesicht zu ihm herum. Unweigerlich starrte ich nun in seine grün, braunen Augen, die durch seine Aufregung dunkler zu sein schienen. "Mach das nie mehr wieder, ohne mit mir darüber gesprochen zu haben!", knurrte er. Eingeschüchtert nickte ich. "Versprich es", forderte er. Stark schauten seine Kieferknochen hervor, als er wütend seine Zähne zusammen biss.
"Versprochen", sagte ich mit zittriger Stimme. Zögerlich lösten sich seine Finger von meinem Kinn. Sein Blick verlor an Härte, als er mir nun sanft die Tränen von den Wangen strich.
"Wie wirst du es den beiden sagen?"
"Weiß ich nicht", sagte ich abgehackt, da Hickser meinen Körper schüttelten.
"Soll ich dich begleiten?" Langsam schüttelte ich den Kopf. "Sicher?" Nachdenklich schloss ich meine Augen.
"Nur vor die Akademie. Den Rest muss ich selber packen", antwortete ich und stand schwankend auf. Lukas nickte und schaute zu der toten Frau.
"Ich werde ein Grab in der Nähe des Dorfes suchen und sie dort begraben lassen... Natürlich nur, wenn es die Angehörigen so wollen!" Ich nickte schwach.

~ ° ~

V

ersteinert stand ich vor der Tür, hinter der sich Mila und Joshua befanden. Mit Tränen in den Augen starrte ich auf meine Hand, die über der Klinge schwebte. Wie sollte ich es ihnen nur sagen? Ich hatte Lukas zwar versichert, dass ich es ohne ihn packte, doch jetzt bereute ich es keinen bei mir zu haben. Tief durchatmend drückte ich den Türgriff ruckartig hinunter und ging in den Raum hinein. Kinderlachen und die ruhigen Stimmen der Erwachsenen drangen in meine Ohren. Eine fröhliche Atmospäre herrschte. "Die ich gleich zerstören werde", dachte ich bedauernd, während meine Augen nach Mila und Joshua suchten. Schlussendlich fand ich sie bei Leo spielen. Mit zitternden Händen schritt ich zu ihnen hinüber. Als sie mich erblickten, sprangen sie lachend in meine Arme, weshalb ich die Aufmerksamkeit der anderen Dorfbewohner bekam.
"Ich habe eine Puppe für Mama gebastelt. Meint Ihr sie wird Ihr gefallen?" Strahlend hielt mir Mila ein Mix aus einem Hasen und einem Bären hin. Entsetzt schlug ich mir meine Hand vor den Mund.
"Ich-." Milas Lächeln verschwand langsam.
"Ist alles in Ordnung mit Euch?", fragte Milas Tante besorgt und stellte sich neben mich.
"Ich muss euch etwas wichtiges sagen", flüsterte ich und schluckte schwer. Verwirrt zogen einige ihre Augenbrauen nach unten, während andere nur neugierig näher rückten. "Es geht um Milas und Joshuas Mutter." Die Gesichter der umstehenden verdüsterten sich.
"Geht es ihr gut? Wann kommt sie denn wieder? Hat Mama von ihren tollen Geschichten wieder erzählt? Mama erzählt die spannendsten und tollsten von allen", prabbelte Mila begeistert los. Joshua nickte bestärkt und schenkte mir ein strahlendes Lächeln.
"Sie kommt nicht wieder Mila", schüttelte ich mit Tränen in den Augen meinen Kopf. Enttäuscht senkte sie ihre Arme, mit denen sie in der Luft wild gestikuliert hatte.
"Mag sie uns denn nicht mehr?", fragte sie niedergeschlagen.
"Doch", sagte ich schnell. "Sie hat euch immer geliebt."
"Und warum kommt sie dann nicht mehr?", fragte sie mit wackeliger Stimme. Joshua drückte sich traurig an ihre Seite.
"Weil sie-." Schwer schluckte ich den Klos in meinem Hals hinunter und versuchte meine zitternde Lippe mit meinen Zähnen zur Ruhe zu bringen. "Weil sie tot ist." Toten stille. Einzelne Tränen rollten meine Wangen hinunter, während ich verschwommen das sprachlose und geschockte Gesicht von den Kindern sah.
"Aber... Ihr habt gesagt, dass es Ihr gut geht", schniefte Mila.

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