Das verlorene Dorf
Kapitel 30
"Was machst du denn hier?", fragte ich verwundert. Er reichte mir eine kleine Flasche, die einen runden Korkendeckel hatte.
"Das soll ich dir von dem König geben", sagte er wie immer ruhig. Ich seufzte und nahm die Flasche entgegen.
"Und für was ist das?", hielt ich die Flasche in das Mondlicht, um den Inhalt sehen zu können. Er war leicht grün. Als ich das kleine Gefäß etwas zur Seite kippte, rutschte die Mixtur langsam und dickflüssig nach links.
"Das soll für deine Wunde sein", antwortete er mir. Ich nickte. Langsam beugte ich mich zu dem kleinen Nachtschränkchen nach rechts und stellte den Gegenstand leise ab. Als ich mich wieder gerade hinsetzte, sah ich ihn an.
Er musterte mich und meinte dann "Du siehst müde aus." Ich nickte.
"So fühl ich mich auch", murmelte ich und rieb mir über mein rechtes Auge.
"Hast du geweint?" Erschrocken hielt ich in meiner Bewegung inne. Erkannte man das so schnell?
"Nein. Wie kommst du da drauf?", fragte ich scheinheilig und ließ meine Hand sinken. Skeptisch zog er die Augenbrauen nach oben. "Jetzt guck mich nicht so an", beschwerte ich mich. Ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
"Rutsch mal zur Seite", murmelte er. Verwirrt tat ich, was er verlangte. Dabei raschelte leise der Stoff. Was wollte er denn jetzt machen? Er zog seine Schuhe aus und setzte sich nun vollständig neben mich. Seine Füße waren ausgestreckt, als er ein Kissen von mir holte, dreimal darauf schlug und es sich danach zwischen seinen Rücken und der Wand steckte. Ohne zu fragen, griff er nach meiner Bettdecke und deckte sich zur Hälfte damit zu. Irritiert beobachtete ich ihn dabei.
"Und was wird das jetzt?", fragte ich und zog eine Augenbraue nach oben. Meine Hände hatte ich vor mir abgestützt, damit ich nicht zur Seite fiel.
Plötzlich griff er nach meinen Armen und zog mich an seinen Brustkorb. Überrascht schrie ich auf. Sein angenehm süßer Geruch stieg mir in die Nase, als ich nun zu ihm hoch sah und direkt in seine grünen Augen hinein. Unsere Gesichter waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Augenblicklich merkte ich, wie meine Wangen rot an liefen.
"Lüg mich nicht an. Du hast geweint", murmelte er. Sein warmer Atem streichelte mein Gesicht. Beschämt wandte ich meinen Blick auf meine Hände, die leicht geballt auf seinem schwarzen Hemd lagen. Behutsam legte er seine Arme um mich. "Ally. Sieh mich an", sagte er sanft. Ich sah vorsichtig zu ihm hoch. "Was ist passiert, dass gerade du weinst?", fragte er. Ich seufzte ergeben auf und schaute wieder auf die Decke.
"Ich weiß nicht, ob ich es dir erzählen darf", murmelte ich und drückte mich leicht von ihm weg. Verwirrt zog er die Augenbrauen zusammen.
"Gut", seufzte er. "Wenn du es mir irgendwann mal erzählen willst: Ich habe immer ein offenes Ohr für dich."
Verwundert starrte ich ihn an. Seid wann war er so einfühlsam?
"Ach du scheiße! Was ist mit dem eiskalten Kandor passiert, den ich vor mindestens einer Woche kennen gelernt hab?", fragte ich gespielt geschockt. Er verdrehte die Augen. Ich grinste. Seine Mundwinkel zuckten verräterisch nach oben, bevor er seinen neutralen Gesichtsausdruck wieder auf legte. Anschließend löste er seine Arme von mir und schob mich leicht von sich weg. Irritiert setzte ich mich auf meine Schienbeine.
"Ich geh dann mal", sagte er und stand auf. Ein wenig enttäuscht lächelte ich und nickte. Ich wollte nicht das er ging. Seine Anwesenheit war sehr beruhigend und schön. Langsam zog ich meine Decke wieder über meine Schultern, da mir etwas kalt wurde. Kandor streifte sich seine Schuhe wieder über die Füße und stand auf. Er ging die paar Schritte zu meiner Tür, machte sie auf und blieb unschlüssig im Türrahmen stehen. Das warme Licht, aus dem Flur, warf Schatten auf seine ebenmäßige Gesichtshaut. Durch das helle Licht leuchteten seine waldgrünen Augen heller, als sonst, auf.
"Gute Nacht", sagte er leise und war im Inbegriff zu gehen, als ich aus meinem Bauch heraus "Kandor?", rief. Verwundert sah er über seine Schulter zu mir nach hinten. Wir starrten uns an. Peinlich berührt sah ich in eine Ecke meines Zimmers und überlegte, ob ich ihn wirklich bitten sollte zu bleiben. Seine Anwesenheit würde mich bestimmt ablenken!
"Ist noch irgendetwas?", fragte er leicht verwirrt. Ich sah ihn wieder an. Seine rechte Hand hielt die Tür locker umgriffen. Er hatte mir halb den Rücken zugedreht. Ich atmete ein und schüttelte den Kopf.
"Gute Nacht. Bis morgen", murmelte ich und lächelte ihn schwach an. Er nickte leicht verwirrt und schloss hinter sich die Tür. Für ein paar Sekunden starrte ich auf das dunkle Holz.
"Du bist so ein Feigling Ally", machte ich mich in Gedanken selber runter. Erschöpft ließ ich mich rücklings auf die Matratze fallen und schloss meine Augen.
"Ich hasse mein Leben", nuschelte ich.
~ ° ~
"Und was ist das?", hielt mir Sir Ivan einen weiteren, seidig Lilanen Beutel vor die Nase, den man oben mit einem Lederstreifen zuschnüren konnte. Ich roch an der Beutelöffnung. Es roch sehr süßlich, aber auch leicht herb.
"Ich hab keine Ahnung", sagte ich ratlos und zuckte mit den Schultern. Wir saßen jetzt schon eine halbe Stunde hier und er ließ mich immer wieder an Beutel riechen. Als ich in den Raum eintrat, hatte ich Angst, dass Sir Ivan mit mir schimpfen würde, da ich in seinem Unterricht eingeschlafen war. Doch er hatte mich einfach nur angelächelt und normal mit seinem Unterricht weiter gemacht.
"Das ist Jindablühte. Sie wird für Husten genommen", erklärte er lächelnd. Er saß vor mir, schnürte den Beutel nun wieder zu und nahm einen neuen. Seufzend rieb ich mir meine brennenden Augen. Ich hatte die letzte Nacht fast gar nicht geschlafen. Dauernd musste ich an Lukas Wörter und meiner Aufgabe hier denken.
"Allyson? Hörst du mir zu?", riss mich mein Lehrer aus den Gedanken. Ich sah verwirrt zu ihm hoch.
"Entschuldigung. Was haben Sie gesagt?", murmelte ich. Er brummte überlegend. Verwirrt beobachtete ich, wie er aufstand und seine Beutel weg packte.
"Was machen Sie da?", fragte ich und zog meine Augenbrauen zusammen.
"Meine Sachen einpacken. Es bringt nichts weiter Unterricht zu machen. Du bist so müde, dass du dich nicht mehr konzentrieren kannst", erklärte er. Erstaunt sah ich ihn an. Er hatte Verständnis für mich?
"Tut mir leid", entschuldigte ich mich leise und sah auf meine Hände, die in meinem Schoß lagen. Als ich wieder auf sah, schaute mich Sir Ivan prüfend an. Er hatte seine Hände in seiner blauen Hängetasche. Nun nahm er sie heraus, schob den Stuhl vor meinem kleinen Tisch laut nach hinten und setzte sich darauf. Unwissend, was er vor hatte, beobachtete ich ihn dabei.
"Es ist verständlich, dass du müde bist. Dafür brauchst du dich also nicht zu entschuldigen... Ich habe aber das Gefühl, dass dir war ganz anderes zu schaffen macht", schaute er mich eindringlich an. Verwundert zog ich leicht meinen Kopf zurück. War es mir so sehr anzusehen, dass mir Lukas Wörter immer wieder durch den Kopf flogen?
"Wie kommen Sie denn darauf?", fragte ich gespielt unwissend. Er lächelte amüsiert.
"Machen wir uns doch nichts vor Allyson. Du bist ständig in Gedanken und hast starke Augenringe. Darauf schließe ich, dass gestern etwas passiert ist, das dir sehr zusetzt und du deshalb nicht schlafen konntest", erklärte er. Entgeistert starrte ich ihn an. Er hatte eine wirklich bemerkenswerte Beobachtungsgabe! Aber erzählen, was wirklich los war, wollte ich ihm nicht, weshalb ich einfach anfing von meinem Tag zu berichten.
"Heute war einfach ein beschissener Tag...", seufzte ich frustriert auf. Und es entsprach auch wirklich der Wahrheit! "... Erst falle ich beim Parcour wieder beinahe von Hennas Sattel, treffe mit dem Bogen keine einzige Scheibe, habe überall blaue Flecke von Sir Hunters harten Schlägen und bin im Schwimmunterricht fast ertrunken, da Simon einfach auf mich drauf gesprungen ist." Wütend verzog ich bei der Erinnerung das Gesicht. Wie konnte man auch so doof sein und mich übersehen? Ist ja nicht so, als wäre ich vor ihm ins Wasser gesprungen?! Neeeeiiinnn!
"Das einzige, was heute geklappt hat, war das Reiten und Strategie", seufzte ich nun. "Ich bin einfach frustriert...", sagte ich nach Sekunden leise und ließ meine Schultern hängen. "Es klappt alles nicht so, wie ich will." Betrübt schaute ich auf die Rillen der Tischplatte.
"Das ist aber nicht der wirkliche Grund, warum du keinen Schlaf gefunden hast", stellte er sachlich fest. Schmunzelnd schaute ich ihn an. Er gab sich wohl nur mit dem wirklichen Grund meiner schlaflosen Nacht zufrieden. Ich nickte und seufzte ergeben auf. Es führte wohl kein Weg dran vorbei... Ich musste es ihm erzählen. Obwohl! Ich könnte auch einfach sagen, dass ich darüber nicht reden will... Aber wer weiß. Vielleicht konnte er mir ja einen Rat geben, wenn ich ihm die ganze Geschichte ein wenig abgewandelt erzählte.
"Wissen Sie...", fing ich zögerlich an und starrte auf meine Hände. "... Ich komme aus einem anderen Land und da gibt es andere... Regeln und Gesetze. Frauen werden gleichgültig behandelt. Es gibt keine Drachen bei uns oder andere Wesen." Ich lächelte leicht bei der Erinnerung an meine Stadt und meine Eltern. "Es ist schwer... mit den Regeln hier klar zu kommen", zuckte ich mit den Schultern. "Ich... ich fühl mich um ehrlich zu sein auch alleine unter all den fremden Wesen", sah ich traurig lächelnd nach oben. Er nickte Verständnisvoll und gab mir somit zu verstehen, mit meiner Erklärung fortzufahren.
"Um ehrlich zu sein, hatte ich gestern mit jemanden Streit", gab ich leise zu und zupfte an meinem weißen Hemd herum. "Naja und was soll ich sagen?", lachte ich leise und schaute auf. "Er hat Dinge zu mir gesagt, die mich sehr schockiert haben... und mich auch irgendwie zum Nachdenken brachten", runzelte ich beim Letzten Satz die Stirn und starrte neben meinem Lehrer in die Luft. Jetzt wo ich es aussprach, stimmte es. Letzte Nacht hatte ich fiel über meine Aufgabe, meinen Verpflichtungen gegenüber den Leuten hier und vor allem über meine Zukunft nachgedacht. Zweifel plagten mich seitdem. Schaffte ich es wirklich den Wesen hier zu helfen, indem ich in den Krieg zog? Oder stürzte ich sie alle nur in den Tod?
"Allyson." Verwirrt blinzelte ich, als ich meinen Namen hörte, und sah Sir Ivan an. Er lächelte mich sanft an.
"Was auch immer der Grund für den Streit war. Kläre es mit ihm", riet er mir. Schwach und ein wenig traurig lächelte ich ihn an.
"Danke für Ihren Rat Sir Ivan. Aber ich bezweifle, dass ich ihm jemals wieder unter die Augen treten werde", murmelte ich. Lukas wollte ich nicht mehr begegnen. Das er mir meinen Nutzen klar gemacht hat, war eine Sache. Doch das er zu mir hinunter sah und mich gar überhaupt nicht, als ein Lebewesen ansah, war etwas völlig anderes. Am Anfang hatte ich gedacht, dass er nicht so war, wie die anderen arroganten Könige. Doch jetzt... Jetzt war er für mich gestorben! Mit so einem Menschen beziehungsweise Elf wollte ich keinen Kontakt haben. Ich werde hier meine Aufgabe erfüllen und, wenn ich dann noch lebe, wieder zurück nach Hause reisen!
Sir Ivan nickte leicht seufzend.
"Wie du meinst. Wir machen dann morgen mit unserem Unterricht weiter. Sei dann aber bitte ausgeruht", forderte er und stand auf. Müde lächelte ich ihn an und nickte. Noch kurz blieb ich sitzen, um mich zu sammeln. Das Gespräch tat gut.
Danach stand ich auf und ging zur Ausgangstür. Nachdenklich blieb ich im Türrahmen stehen und hielt mich mit der einen Hand an dem Rahmen fest. Mein rechter Fuß stand quer hinter mir auf der Fußspitze, als ich meinen Kopf zu Sir Ivan nach hinten drehte. Abwartend schaute er von seinem Beutel auf.
"Danke", lächelte ich ihn sanft an und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Raum heraus. Ich war ihm wirklich dankbar, dass er mir zugehört hatte.
~ ° ~
Weitere fünfundvierzig Minuten vergingen, indenen Sir Hunter erklärte, wie man Waffen säuberte und sie polierte. Danach durfte ich endlich mit meinem Schwert ein wenig herum experimentieren. Hunter meinte nämlich, dass ich ein Gespür für die Waffe bekommen musste... Und naja, was sollte ich sagen? Sie war mir nur fünf mal aus der Hand geflogen und hätte einmal sogar Hunter getroffen. Ich bekam zwar keinen Ärger, aber dafür einen wütenden Blick von meinem Lehrer. Und der reichte mir eindeutig! Ich wollte Hunter nämlich nicht wütend erleben.
Das Wiehern von Tessa riss mich aus meinen Gedanken. Fragend blickte ich zuerst auf ihren Hals und gleichdarauf durch meine Umgebung. Wir standen im Hof des Schlosses. Seufzend schwang ich mich von Tessas Rücken hinunter, verabschiedete mich von meiner Stute und spazierte direkt zu Lukas Büro. Ich wollte jetzt meine Aufgaben erledigen. Denn wenn ich erst einmal in meinem Bett lag, konnte und wollte ich auch nicht mehr aufstehen. Vor der braunen Tür angekommen, standen wie immer die Soldaten in ihren silbernen Rüstungen und Speeren. Das Komische war nur, dass sie ihre Waffen nicht wie üblich zu sich zurück zogen, als ich kam, sondern wie eine Statur stehen blieben. Verwirrt betrachtete ich sie.
"Seid Ihr Lady Allyson?", fragte der rechte. Ich nickte misstrauisch. Er reichte mir eine kleine Schriftrolle, die mit einem roten Wachssiegel, in Form eines Drachenkopfes, versiegelt war. Zögerlich nahm ich es entgegen und öffnete es vorsichtig. Zum Vorschein kam eine Auflistung von verschiedenen Pulvern und Werkzeugen.
"Ich soll Euch vom König ausrichten, dass dies Eure letzte Tätigkeit ist und Ihr keine Pflichten mehr diesbezüglich habt. Glonden braucht Ihr nicht. Dafür ist das Siegel", erklärte der linke Soldat auf meinen verwirrten Blick hin. Ich nickte nachdenklich. Also wollte mich Lukas nicht sehen. Ich lächelte. Sehr praktisch! Ich wollte ihm nämlich auch nicht mehr begegnen.
"Gut. Danke für die Aufklärung. Schönen Tag noch", trällerte ich fröhlich und drehte mich um zum Gehen.
"Lady Allyson." Ich blieb stehen und sah wieder zu den Soldaten zurück. "Das soll ich Euch noch geben. Euer Taschengeld", hielt er einen seidig, lilanen Beutel hoch. Mit zwei Schritten war ich wieder bei ihm, nahm ihm das Säckchen grinsend ab und marschierte wieder aus dem Schloss hinaus. Was wohl so ein Sattel kosten würde? Ich brauchte unbedingt einen für Tessa!
Nach einem Pfiff kam die Stute zu mir getrabt und ließ mich aufsetzten. Gemütlich langsam ritten wir zur Stadt. Fies grinsend zwinkerte ich den zwei Soldaten vor den Toren zu. Belustigt beobachtete ich, wie sie peinlich berührt und ein wenig ängstlich ihre Speere zu sich zogen und stur geradeaus sahen. Es waren die zwei Männer vom letzten Mal, die mich mit Hanna und Melbo nicht durchlassen wollten. Zufrieden ritt ich nun mit Tessa durch die Breiten und gefüllten Gassen.
~ ° ~
Frustriert stöhnte ich auf. Wir ritten nun schon seit einer Stunde durch die Straßen und fanden dieses blöde Geschäft einfach nicht. Tessa wieherte laut und blieb stehen.
"Ich weiß", stimmte ich ihr zu, auch wenn sie nichts gesagt hatte. "Wir haben uns verlaufen", seufzte ich und legte mich auf Tessas Hals. Langsam setzte sie sich wieder in Bewegung. Müde schloss ich meine Augen. Die Ruhe um mich herum war angenehm und beruhigte mich ein wenig. Wir mussten wirklich weit weg vom Zentrum der Stadt sein, wenn hier keine Menschenseele mehr herum lief.
"Verzeiht", hörte ich eine zierliche, junge Stimme eines Mädchen leise. Ich öffnete meine Augen, tippte Tessa an den Hals, damit sie stehen blieb, und sah zu ihr hinunter. Ihre braunen Haare waren zerzaust, ihr Gesicht dreckig und ihr dünnes Kleid an manchen Stellen zerrissen. Ich konnte nicht sagen, welche Farbe es vorher mal hatte, da es nur so vor Erde und anderen ausstößen der Elfen verdreckt war. Aus haselnussbraunen und großen Augen sah das schätzungsweise zwölfjährige Mädchen zu mir hoch.
"Habt Ihr vielleicht ein Stück Brot für mich und meinen Bruder", fragte sie leise. Erst jetzt bemerkte ich den kleinen Jungen neben ihr, der schüchtern nach unten schaute und sich an ihr Bein klammerte. Sie hatte eine Hand auf seinem blonden Hinterkopf gelegt.
"Nein. Tut mir leid", murmelte ich traurig. Enttäuscht schlug sie ihre Augen nieder und nickte.
"Na komm Joshua", murmelte sie und nahm seine kleine Hand in ihre. "Einen schönen Abend noch My Lady", lächelte sie mich leicht an und ging weg. Mein Blick blieb entsetzt an ihren nackten Füßen hängen.
"Wartet", rief ich und sprang von Tessas Rücken hinunter. Ängstlich drehten sie sich zu mir um. Mit zwei Schritten war ich bei ihnen und kniete mich zu ihnen hinunter.
"Wie ist dein Name?", fragte ich sanft das Mädchen.
"Mila", antwortete sie leise. Ängstlich drückte sie ihren kleinen Bruder mehr an ihr Bein.
"Und du? Wie heißt du?", fragte ich den kleinen Jungen.
"Joshua", sagte Mila. "Er kann nicht mehr sprechen", murmelte sie als Erklärung. Geschockt bekam ich große Augen.
"Wo sind eure Eltern?"
"Zuhause."
"Würdet ihr mich zu ihnen bringen?", fragte ich lächelnd. Erstaunt starrte sie mich an.
"Ihr-Ihr tut ihnen doch nichts, oder? Sie haben nichts falsches gemacht. Es ist ganz alleine meine Idee gewesen Euch anzusprechen", sagte sie leicht in Panik. Ich schüttelte langsam den Kopf. Mich interessierte, wo sie her kamen und warum sie so herum liefen. Wir hatten zwar frühen Sommer, doch die Nächte waren noch sehr kalt, weshalb man nicht barfuß laufen sollte! Ich wollte ihnen, wenn es möglich war, helfen.
"Ich tu euch nichts", versicherte ich ihr und lächelte sie an. Verunsichert nickte sie. Schnell rief ich Tessa zu mir. Staunend sah Mila und ihr Bruder zu ihr hoch. Nun konnte ich auch seine strahlend blauen Augen sehen.
"Wollt ihr mal auf ihren Rücken?", fragte ich lächelnd. Milas und Joshuas Gesichter hellten sich auf. Die Geschwister sahen sich kurz an und nickten dann lächelnd. Daraufhin hob ich zuerst den Jungen und dann das Mädchen vorsichtig auf Tessas Rücken.
"Gut. Jetzt müsst ihr mir nur noch den Weg erklären", sagte ich lächelnd.
Mila nickte und zeigte geradeaus. Langsam gingen wir los. Ich hatte Tessa eine Hand auf ihren Hals gelegt und lenkte sie somit.
Jede Minute die verstrich, wurde die Gegend um uns herum immer trostloser. Die Häuser waren zum Teil verfallen, der Weg war aus Erde und Matsch und es stank bestialisch nach Mist und Orin. Angeekelt verzog ich das Gesicht. Schon vor Minuten hatte ich mein Hemd über die Nase gezogen, zur Abschirmung des Gestankes. Nach einer Minute verließen wir die dünne Gasse und kamen auf einen kleinen Platz an. In der Mitte war ein Brunnen, dem einige Steine fehlten und der so aussah, als würde er gleich zusammen brechen.
"Wir sind da", sagte Mila. "Da vorne ist unser Haus", zeigte sie nun auf eine sehr kleine Hütte. Von weitem konnte ich schon sehen, dass einige Fensterscheiben fehlten und das Dach Löscher hatte. Elfen in herunter gekommenen Kleidern sahen neugierig aus ihren Fenstern hinaus, als wir über den Platz gingen. Zögerlich nahm ich mein Hemd von der Nase. Ich war erschrocken und entsetzt, dass das Königreich von Lukas so eine Gegend hatte. Klar. Nicht überall waren reiche Leute. Auch nicht in meiner Welt. Doch so heruntergekommen und Arm hatte ich Menschen oder Elfen noch nie gesehen. Da hatten die Obdachlosen auf unseren Straßen ja noch mehr Klamotten am Leib, als diese Elfen!
Vor dem Haus blieben wir stehen. Ich half den beiden von Tessa hinunter und ging mit ihnen zur Haustür. Drei steile Steinstufen führten hinauf, die Mila zügig nach oben ging. Joshua hingegen kletterte eher und schien Mühe zu haben mit uns mitzukommen. Es sah zwar süß aus, aber unnötig quälen wollte ich ihn nicht, weshalb ich kurzentschlossen unter seine Achselhöhlen griff und ihn hoch hob. Mit großen Kulleraugen starrte er mich nun an. Er sah, wie Mila, abgemagert und krank aus. Ihm fehlten die süßen Pausbacken und der Babyspeck, welcher er eigentlich noch haben sollte. Aufmunternd lächelnd schob ich ihn leicht zur Seite und klemmte eine Hand unter seinen Po. Langsam spazierte ich die Stufen hinauf und blieb vor einer moodrig braunen Tür stehen. Mila war in der Zwischenzeit hinein gegangen und hielt mir die Tür auf.
"Dankeschön", bedankte ich mich und setzte den kleinen Jungen vorsichtig auf dem alten Dielenboden ab.
"Mila, Joshua? Wen habt ihr da mitgebracht?", hörte ich eine zerbrechliche Stimme rufen. Darauf folgte starkes Husten und röcheln. Besorgt trat ich um die Ecke. Eine blondhaarige Frau lag schlapp in einem schmalen Bett. Ihr Körper erzitterte immer wieder, wenn sie hustete. Leise klopfte ich neben mich an den Türrahmen, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Erschrocken sah sie ruckartig auf. Röchelnd atmete sie ein.
"Was wollt Ihr? Ich habe nichts das wertvoll ist. Verschwindet", sagte sie verbittert und mit rauer Stimme. Ihr Gesicht war eingefallen. Stark schauten ihre Wangenknochen und ihr Nasenrücken hervor.
"Ich will nichts von Euch. Ganz im Gegenteil. Ich will Euch helfen", lächelte ich leicht und ging auf ihr Bett zu. Mila und Joshua tappten zu ihrer Mutter und legten sich zu ihr unter die dünne, graue Decke.
"Eure Hilfe brauche ich nicht", stritt sie stur ab. Mitleidig schaute ich sie an und setzte mich auf die Kante der Matratze.
"Ich bin Allyson", reichte ich ihr die Hand. Ungläubig starrte sie auf diese. Als sie sie aber nach einer Minute nicht nahm, zog ich sie zögerlich wieder zu mir. Abwartend und still sah sie mich aus ihren braunen Augen an. Nachdenklich sah ich mich in dem kleinen Zimmer um. Die Wände hatten einige Löcher, auf dem Boden fehlten einige Bretter und vom Dach tropfte Wasser hinunter. Sonst gab es nichts. Noch nicht einmal einen kleinen Tisch. Die Frau wird meine Hilfe nicht annehmen, stellte ich sachlich fest.
"Ich mache Euch ein Angebot", drehte ich meinen Kopf wieder zu ihr. Interessiert aber auch gleichzeitig misstrauisch sah sie mich an.
"Ich helfe Euch und allen anderen in der Umgebung ein besseres Leben zu haben und im Gegenzug zeigen mir Eure Kinder wo ich einen bestimmten Laden finden kann." Abwartend und gespannt sah ich sie an. Genau in diesem Moment fiel mir auf, dass ich in der Sprach des Mittelalters geredet hatte. "Seit wann redete ich denn bitte so geschwollen?", dachte ich entsetzt. "Das ist ja echt nicht schön. Was der Umgang mit anderen nur mit mir machte!"
Das leichte Röcheln von der Frau ließ mich wieder zu ihr schauen. Unsicher schaute sie zu Mila und Joshua, die wild nickten. Gespannt beobachtete ich, wie sie ihr Gesicht wieder zu mir drehte und ihren Mund auf machte, um zu sagen...
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