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Sonnenstrahlen durchdrangen einmal mehr die hohen Fenster der Bibliothek, während das frühmorgendlich Zwitschern der Vögel über den Hof halte und einen neuen Tag ankündigte. Doch so idyllisch das Konzert für einen Außenstehenden auch anmutete, es hatte den Jungen schon zeitig aus dem Bett getrieben. So begab es sich, das es nicht einmal sieben Uhr geschlagen hatte und der Junge schon in der Bibliothek saß und den Geschichten der Frühaufsteher lauschte. Die Frühaufsteher, das waren eigentlich nur zwei Wesen; der Greif und die Elfe. Beide waren an den Rhythmus der Natur gewöhnt und schliefen mit der Dunkelheit ein und erwachten zusammen mit dem Sonnenaufgang.

Während die Mutter in der Küche werkelte und der Vater aus der Scheune die Holzscheite für den Ofen holte, erzählte die Elfe allerlei amüsante Geschichten, die nicht selten ein Lachen aus dem Jungen hervor kitzelten.

So erzählte sie ihm von einem jungen Greif. Der Greif zählte noch keine acht Tage und wuselte doch schon flink wie ein Wiesel zwischen den Büchern einer Bibliothek herum, nur um im Übermut von einem Regal zu rutschen und auf einem sehr alten, staubigen Globus zu landen. Besagter Greif wirbelte in seinem Tun so viel Staub um sich herum auf, dass die feinen Partikel sich kitzelnd an seiner Nase rieben und ihn kräftig niesen ließen. Dabei bewegte er die Flügel so kräftig mit, dass es den Globus zum Drehen brachte und den vermeintlich sicheren Untergrund in ein Karussell verwandelte.

Aber auch von Räumen, die so groß wie der gesamte Marktplatz waren, und von Ruinen, die einst wunderschöne Burgen gewesen waren, erzählte sie dem kleinen Jungen. Und je länger sie erzählte, desto heller strahlten die Augen des Jungen vor Begeisterung. Aber auch umso größer wurde das Fernweh in seinem Herzen, wollte er doch auch diese Burgen sehen und in den Räumen nach Higwigs suchen.

Der Greif, der derweil still vor dem Kamin geruht hatte, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und krächzte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Erschrocken fuhr der Junge herum, hatte er den Greif doch vollkommen vergessen.

"Menschenkind, sei nicht traurig", hallte es unglaublicherweise im Kopf des Jungen wider. Ehrerbietig senkte die Elfe den Kopf. Augenscheinlich hörte auch sie, was der Greif sagte. Erstaunt starrte der Junge den Greif einfach nur an. Er traute sich nicht auch nur einen Mucks von sich zu geben, so gebieterisch klang die Mahnung des Wesens vor ihm, dass doch nur eine Handbreit groß war.

"Wie die alte Hexe dir prophezeite: Deine Zeit zu reisen wird kommen. Vertraue auf ihren Rat und gräme dich nicht mit den Erzählungen jener, deren Zeit gerade jetzt ist." Enttäuscht sackten die Schultern des Jungen nach unten, doch er nickte dem Greif dennoch zu, da er es verstanden hatte. Nicht zuletzt hatte er ja gerade herausgefunden, dass es sich bei der alten Frau um eine echte Hexe gehandelt hatte. Was wollte er mehr?

Gutmütig lächelte ihm die Elfe daraufhin zu. Sie wusste um das Fernweh in seinem Herzen, doch konnte auch sie nichts an der Zeit ändern. Und so setzte sie ihre Erzählungen fort, in der Hoffnung, dass sie den Jungen ein wenig mit ihren Geschichten ablenken konnte.

Die Elfe erzählte ihm also von einer Bibliothek, die in ihrer Mitte eine wunderschöne Wendeltreppe besaß, die sich gleich einer Pflanze in die Höhe wandt und so die untere mit der oberen Etage verband. Sie beschrieb ihm in allen Einzelheiten die Figuren, die in das Holz der Treppe geschnitzt waren und schmückte dabei jede einzelne mit Worten, so gut sie eben konnte, aus.

Auch berichtete sie dem Kleinen von all dem Schabernack, den die Higwigs in den Bibliotheken so trieben. Von Kobolden, die in luftiger Höhe einen Kronleuchter als Schaukel verwendeten und von Elfen, die wagemutig das Geländer der Wendeltreppe hinab rutschten.

Fasziniert hörte der kleine Junge ihr zu und saugte jede noch so kleine Ausführung der Elfe in sich auf. So fantastische Geschichte hatte er noch nie zuvor vernommen und er würde sich hüten, auch nur eine davon zu verpassen.

"Und schließlich kann ich dir noch von einer sehr gefährlichen Geschichte berichten, die uns fast unser Geheimnis gekostet hätte.", meinte die Elfe, als sich der Morgen langsam seinem Ende entgegen neigte und dem frühen Mittag wich.

"Es ereignete sich weit, weit im Norden dieser Welt in einem kleinen Ort, der fast das ganze Jahr von Schnee und Eis bedeckt ist. Dort oben im Norden passierte es, dass die Hexe selbst in Gefahr geriet. Damals waren die Menschen noch weniger Belesen und nur wenige Higwigs sorgten sich so sehr wie heute um das Geheimnis unserer Existenz. Zur Zeit des Winters begab es sich, dass die Hexe zur Abendstunde aus ihrem Buch hervor kroch und sich in der kleinen Bücherecke voll Märchen umsah, die die Besitzer des Hauses erst neu errichtet hatten. Mutig wagte sich die junge Hexe bis in die Küche des Hauses vor, nachdem sie zwischen den Büchern keine anderen Higwigs gefunden hatte. Doch ahnte sie nicht, dass die Frau des Hauses so zeitig wieder heimkehren würde und so kam es, dass sie mitten auf dem Tisch zwischen der Obstschüssel und einem Schälchen Suppe stand, als die Frau das Haus betrat. In Panik versteckte sich die Hexe hinter einem großen roten Apfel, als die Frau Schritt um Schritt dem Küchentisch näher kam. Nun steckte sie mächtig in der Klemme. Ganz alleine war sie in einem Menschenhaus und nur ein Apfel in einer Obstschale schützte sie vor dieser Frau. Nicht auszudenken, was diese Frau alles mit ihr anstellen konnte. Was, wenn sie die Hexe wie einen Kanarienvogel in einen Käfig sperrte, wie es mit die kleinen Vögeln in weit reicheren Familien Gang und Gäbe war? Dann konnte sie nie wieder in ihr Buch zurück und war für immer in diesem Gefängnis eingesperrt. Schließlich war sie noch weit seltener als einer dieser bunten Vögel, die sie in anderen Häusern schon gesehen hatte.

Die Hexe beschloss in ihrer Not, so lange hinter dem Apfel auszuharren, bis die Frau sich zur Kochstelle abwandte. Dann würde sie so schnell sie konnte loslaufen, auf das Regal klettern und in ihrem Buch verschwinden. Doch es dauerte fast eine Ewigkeit, ehe die Frau ihre Besorgungen alle ausgepackt und vom Tisch aus im ganzen Haus verteilt hatte. Dabei blieb sie nie lange dem Tisch fern und die Hexe fühlte sich schutzlos, so mitten auf dem Tisch und nur einen Katzensprung von der Frau entfernt.

Doch die Zeit verstrich und als es spät am Nachmittag und Zeit für das Abendessen war, drehte die Frau ihr schließlich den Rücken zu und schnitt in aller Seelenruhe etwas Gemüse. Die Hexe packte die Gelegenheit am Schopf und schoss flink wie eine Rennmaus aus ihrem Versteck hervor, flitzte über den Tisch hinweg und sprang mit Schwung gleich auf das nächste Regal. Auf diesem rannte sie entlang der Buchrücken bis zur Ecke, an der sie hochkletterte und schließlich vor ihrem eigenen Buch zum Stehen kam. Beherzt drückte sie ihre Hand auf den Rücken und verschwand, ehe sich die Frau auch nur einmal umgedreht hatte."


Ein langes Schweigen dehnte sich im Raum aus, nachdem die Elfe ihre Erzählung beendet hatte. Nur das Gackern der Hühner drängte sich von draußen in den Hintergrund und durchbrach die Stille des Raumes. Die Geschichte hatte den Jungen ziemlich traurig gemacht. Er selbst hatte schon solche gefangenen Vögel auf dem Markt gesehen und wusste, dass die Menschen viel Geld für solche Haustiere ausgaben. Er wollte nicht, dass man den Higwigs dasselbe antat. Dazu hatten die Menschen kein Recht, auch wenn sie glaubten, es zu besitzen.

Ein ernster Zug schlich sich in die Kinderaugen des Jungen und mit mehr Weisheit als es andere an den Tag legten, versprach er, das Geheimnis zu hüten.

Lieb lächelte die Elfe den Jungen an. Sie ahnte wohl, welche Verpflichtungen er sich auch mit so jungen Jahren schon aufbürdete.

Derweil erhob sich der Greif gemächlich, streckte seine Flügel und machte sich daran, diesen Ort zu verlassen. Seine Hilfe würde hier nicht mehr von Nöten sein und er zog es vor, sich jetzt zurückzuziehen.

Nachdem auch die Elfe gegangen war, saß der Junge noch eine Weile alleine in seinem besonderen Zimmer, bevor er zur Mutter lief und wie jeden Sonntag beim Decken des Tisches behilflich war. Und es war, als wäre es nie anders gewesen und als wäre nichts weltbewegendes passiert.

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