o3
Der nächste Morgen kam und mit ihm ein endlos langer Tag. Seit dem frühen Morgen regnete es beständig aus großen grauen Wolken. Viele kleine Tropfen klopften unablässig ans Fenster und sammelten sich schließlich in großen Pfützen vor dem Haus. Sie durchweichten das Gras, die Wege und jeden, den es trotzdem nach draußen verschlug. Hin und wieder durchbrach ein Donner, welcher von weit her stammte, die eintönige Musik des Regens. Ein Gewitter, viele Meilen entfernt, verbreitet seinen Groll über das Land. Der Regen füllte derweil die Regenrinnen, lief sie hinab und verschwand im Regenfass. So vergingen die Stunden und das Fass füllte sich und lief bald hier, bald da über.
Mit Langeweile im Kopf und Hunger im Bauch wanderte er durch das Haus und fieberte der nächsten Mahlzeit entgegen. So verging Stunde um Stunde und Mahlzeit um Mahlzeit, bis er endlich in die Bibliothek huschte, um die Higwigs wiederzutreffen.
Der Tag neigte sich schon seinem Ende zu und Kerze um Kerze erhellte den schummrigen Raum. Die flackernden Flammen warfen bizarre Formen an die Wände und tanzende Schatten reigten sich rings um den Sessel aus Samt. Außer dem leisen Klopfen des Regens hielt die abendliche Stille Einzug in jenem kleinen Zimmer und der Junge wagte fast nicht zu atmen, so laut kam ihm jeder Atemzug in der Stille vor. Diese hielt allerdings nicht lange an, denn schon bald durchbrach ein Knistern und Rascheln alle Geräuschlosigkeit.
Einer nach dem anderen krochen die Higwigs aus den Büchern und schlugen mal hier eine Seite auf, schoben mal da ein Buch zur Seite. Wie verzaubert beobachtete der Junge die kleinen Wesen bei ihren Machenschaften. Nie zuvor hatte er etwas Vergleichbares gesehen. Ein trauter Einigkeit gingen sie verbrachten sie ihre Zeit miteinander und ließen sich auch durch einen Menschenjungen nicht aus der Ruhe bringen.
Leise flüsternd stellten sie sich schließlich an den Rändern der Bücherregale auf und beobachteten gespannt, wie der Junge sich immer wieder umsah und im Kreis drehte, um den Blick auf einen weiteren Anwesenden zu richten und diesen zu inspizieren. Durch die unterschiedlich erhöhten Positionen der Higwigs, die sich weiter munter zwischen den Büchern der verschiedenen Regale tummelten, war es nicht immer einfach, einen Einzelnen richtig zu erkennen. So blitzte manchmal nur ein Arm oder Schweif über die Kante der obersten Regale und ließ den Jungen Vermutungen darüber anstellen, wer sich dort oben wohl versteckte. Denn so sehr er sich auch streckte, der Hals reckte und auf die Zehenspitzen stellte, er war nicht groß genug, um dort oben raufzugucken.
Auf einem Regal weiter unten, welches ungefähr auf Kopfhöhe des Jungen lag und damit für ihn gut sichtbar war, trat einmal mehr die alte Frau aus dem Schatten eines Buches. Auch an diesem Abend war sie es, die letztlich das Wort an ihn richtete. Mit ihrem Stab gebot sie den anderen Higwigs, die Gespräche zu beenden.
»Liebes Kind, du musst furchtbar verwirrt sein«, begann sie und ließ den Jungen aufhorchen, welcher sich endlich eine Erklärung für all dies erhoffte. Denn so unglaublich und toll er das Geschehen auch fand, er wollte unbedingt wissen, wer oder was sie waren, wo sie herkamen und warum sie sich so ängstlich ihm gegenüber verhielten. Als die Frau nicht fortfuhr zu sprechen,nickte er ihr zögerlich zu. Er hatte Angst, die Wesen wieder zu verschrecken. So ruhig die Frau auch wirkte, so unruhig und nervös tänzelnden die anderen Higwigs jetzt auf ihren Plätzen umher.
»Setz dich, Kind. Ich werde es dir erklären«, meinte sie ruhig und beschwichtigte sowohl ihn als auch die anderen Higwigs in ihrer Unruhe. Gewichtig deutete sie mit ihrem Stab auf den Sessel und wies ihm damit seinen Platz zu. Der Aufforderung folgend setzte er sich also in den grünen Sessel und blickte zur Frau hinauf.
»Man nennt uns Higwigs, musst du wissen«, stellte sie sich und ihre Gefolgschaft vor. »Wir Higwigs sind keine besondere Art oder dergleichen. Vielmehr bezeichnet dieser Begriff unsere Fähigkeit, durch Bücher in die Welt der Menschen zu Reisen. Dabei ist es egal, ob es sich um ein Einhorn, einen Troll oder eine Elbe handelt.« Er nickte verstehend, doch die Frau unterbrach ihn in der Bewegung.
»Ich bin noch nicht fertig. Pass auf!«, ermahnte sie ihn streng. Denn so gutmütig die alte Frau auch wirkte, sie hatte wenig Geduld mit diejenigen, die nur nickten, um schlau auszusehen.
»Ein Higwig ist eine Figur, die nur in eine Geschichte gehört. Diese Geschichte kann aus mehreren Bänden bestehen. Trotzdem ist und bleibt sie zusammenhängend und somit seine Heimat.« Der Junge runzelte merklich die Stirn, äußerte seine Fragen aber vorerst nicht. Lieber wollte er weiter zuhören. Vielleicht würde sich manches aus dem Zusammenhang erklären. Wissend warf die Frau ihm ein kurzes Lächeln zu und unterstützte so seine Entscheidung, bevor sie ihre kleine Pause beendete. »Und wo immer ein Exemplar dieser Buchreihe steht, der Higwig kann durch seine Geschichte zu diesem Ort gelangen. Ein anderes Buch hingegen darf er nicht betreten. Verstehst du das?«, fragte die alte Frau ihn. Der Junge war sich nicht ganz sicher, antwortete aber dennoch mit einem »Ja«. Daraufhin führte die Frau näher aus: »Ein Higwig, der in ein anderes Buch als sein eigenes schlüpft, zerstört mit seiner Anwesenheit den Kosmos der Figuren, die darin leben.« Eine weitere Pause entstand. Ernst schaute die Frau ihn an, akzeptierte jedoch sein folgendes Schweigen, denn auch sie wusste, dass er noch zu klein war, um alles zu verstehen.
»Kein Higwig hat jemals diese Regel gebrochen«, fuhr sie fort und sah feierlich und mit festem Blick einmal in die Runde, um den Anwesenden ihren Dank und Respekt für die Einhaltung des Verbots auszusprechen. »Du musst wissen, dass Higwigs sehr neugierig sind, daher ist es von besonderem Wert, dass sie sich an diese Regel halten. Im Gegenzug dürfen jene auserwählten Wesen ab und zu die Welt der Menschen besuchen. Wir reisen zu den unterschiedlichsten Orten. Und jeder Ort hat seinen eigenen Reiz.« Wissend lächelte die Frau in die Runde und erntete hier und da zustimmendes Gemurmel. Als sich ihr Blick wieder auf ihn richtete, funkelten ihre Augen gutmütig. Mit einem Lächeln erhob sie erneut das Wort: »Stelle deine Frage Kind, bevor sie dich noch überrumpelt.« Unsicher sah der Junge sich um, erblickte indes nur freundliche Gesichter, die ihn auffordernd an blickten. Stockend brachte er dann schließlich hervor: »Warum dürfen nicht alle aus den Büchern raus?« Das Lächeln der Frau sank ein wenig in sich zusammen, war aber nicht minder freundlich.
»Es gibt nur wenige Figuren, welche diese Gabe in sich tragen. Warum das so ist, kann dir niemand sagen. Wenn es Reisende gibt, muss es auch welche geben, die bleiben.«
»Also ist das Zufall?«, fasste der Junge zusammen. Dieser simple Ausdruck missfiel der Frau offensichtlich, verzog sie ihr Lächeln doch deutlich zu einer sauren Miene. Den bitteren Ausdruck um die Mundwinkel gab sie allerdings schnell wieder auf und lenkte ein: »Man könnte es so sagen. Der große Zusammenhang erschließt sich nur selten und schwer.« Entrüstet über die scheinbare Willkür verkündete der Junge daraufhin lautstark sein Missfallen.
»Das ist gemein! Ich will auch überall hin reisen dürfen.« Ein böses Schnauben unterstrich die Aussage des Jungen. Mehr als ein Lachen entlockte er der Frau damit allerdings nicht.
»Kannst du, Liebes. Du musst nur lesen können. Mit jedem Buch, das geschrieben wird, eröffnet sich dir eine Welt, in die du reisen kannst. Wir hingegen haben nur unsere Welt.« Zustimmende Rufe wurden laut, doch die alte Frau unterbrach diese strikt, hatte sie ihre Ausführungen für heute doch noch nicht ganz zum Ende gebracht. » Wenn der Autor, der uns erschafft, uns keine Möglichkeit zum Lesen in unseren Kosmos einbaut, sind wir auf ewig ohne diese Möglichkeit. Du dagegen, du kriegst jede Menge nachschub. Also quengel nicht. Deine Zeit zu reisen wird kommen.« Die Frau warf dem Jungen einen gleichwohl mahnenden als auch bewundernden Blick zu. Dieser nickte nur wieder und nahm sich vor, noch besser in der Schule aufzupassen, um später ganz viele Bücher lesen zu können.
Langsam, als wäre ein unsichtbare Grenze erreicht, verstummten alle Gespräche, die noch zuvor leise von den anderen Higwigs geführt worden waren. Higwig um Higwig zog sich in den Schatten der Bücher zurück und verschwand in seine Geschichte. Enttäuscht sah der kleine Junge dabei zu, wie sich Reihe um Reihe ein Regal ums andere leerte und er schließlich mit der alten Frau, welche ebenfalls vor ihrem Buch stand, alleine war.
»Du gehst jetzt, oder?«, fragte er die alte Frau traurig.
»Ja, Liebes. Aber du hast so viele neue Gesichter kennengelernt, die dich ab hier begleiten werden.« Sie warf ihm einen letzten wissenden Blick zu, bevor sie sich von ihm abwandte und die verbliebenen Schritte auf ihr Buch zu machte. Sie drückte ihre faltige alte Hand bedacht gegen den Titel des Buches und löste sich sodann in Luft auf.
Allein im nun leeren Raum hielt es den Jungen nicht mehr im Sessel. Unschlüssig wanderte er die Regale entlang, entkam der aufkommenden Unruhe jedoch nicht, die sich von den Fingerspitzen aus in seinem Körper breit machte. Rastlos schweifte sein Blick umher, bis er letztlich am Fenster hängen blieb. Immer noch trommelten Regentropfen an das kalte Glas und ließen die Aussicht nach draußen verschwimmen. Das Gewittert hatte sich zum Abend hin zwar gelegt, doch die Wolken schütteten nach wie vor ihren Kummer über dem Land aus. Allein die Schwärze der Nacht verbarg sie jetzt vor den Augen neugieriger Kinder. Das Licht der Kerzen reichte nicht mal weit genug hinaus, um den Sandweg vor der Haustür ausmachen zu können. Das Feuer im Kamin war ebenfalls herunter gebrannt und spendete wenig Licht. Die zunehmende Dunkelheit und Kühle verscheuchten das Kind letztlich. Ein gewichtiges Schweigen breitete sich im leeren Zimmer aus, kroch in alle Ecken und Schlitze und hüllte letztendlich alles ein, was sich in ihm befand. Erst viel später sollte es mit den Schritten der Mutter, welche das Feuer noch einmal vor der Nachtruhe entfachte, gebrochen werden.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top