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Higwigs sind nicht nur magische Wesen aller Art, die die Fähigkeit besitzen, aus ihren Geschichten zu kommen. Nein, sie sind auch sehr neugierig. Nicht umsonst wandeln sie schließlich in unserer Welt umher und erkunden Orte, die schon längst vergessen wurden oder Plätze, die vor interessanten Apparaturen nur so strotzen.
Und gerade diese Neugierde ist es wohl, die diese Geschichte vorantreibt. Denn schon wenig später, als sie den ersten Schreck überwunden hatten, schlichen die Higwigs sich zurück an den Ort des Geschehens, fanden diesen jedoch verlassen vor. Das Feuer knisterte einsam im Kamin vor sich hin, die Kerzen waren ausgeblasen und nur der Geruch von Rauch verriet, dass sie diesen Raum erhellt hatten. Die Higwigs sahen sich getrieben von ihrer Neugierde um, entdeckten jedoch nichts, das einem Menschenjungen ähnlich sah. Fortan kamen sie Abend für Abend in die Bibliothek dieses Hauses, krochen in den Schatten der Bücher herum und warteten darauf, dass der Junge wiederkam.
Doch nur am Tage kamen ab und an die Eltern des Jungen hinein, um das Feuer zu schüren. Ihr müsst wissen, dass alte Bücher nicht in feuchten Räumen stehen dürfen, weil sie sonst aufweichen und schließlich verfaulen. Tausende Stunden Arbeit, die vor Jahren getätigt worden waren, um diese zu schreiben, wären verloren. Um diesen Schatz jahrhundertealter Schreibkunst zu bewahren, hielten die Eltern, verantwortungsvoll wie sie waren, das warme Feuer immer am Brennen, sodass die Kälte ihre feuchten Finger nie an die Seiten legen konnte.
Gegen abend, wenn die Eltern noch einmal kontrollierten, ob sich der Sohn an das Verbot hielt, verbargen sich die Higwigs in den Schatten und murmelten sich hinter vorgehaltener Hand Fragen zu. Sie fragten sich, wo der Junge geblieben war. Und sie fragten sich, ob es besser wäre, dieses Haus in Zukunft zu meiden. Doch sie kamen Abend für Abend wieder, und wurden jeden Abend auf's Neue enttäuscht.
So vergingen die Tage und zwei Wochen im Flug. Die Higwigs gingen unbeschwert ihrem normalen Tagewerk nach und tauchten mal hier, mal da in der Bibliothek des Hauses auf.
Der kleine Junge war derweil so neugierig auf das Geschehen im Inneren des Raumes, dass er jeden Tag an die Higwigs, deren Namen er zu dieser Zeit jedoch noch nicht kannte, dachte. Doch die Mutter und der Vater waren mehrere Tage böse auf ihn gewesen und so hielt er sich noch länger als die zwei Wochen von der Bibliothek fern. Lange Zeit wartete er, machte lieb seine Aufgaben im Haushalt und half der Mutter auf dem Markt. Und endlich war es soweit, dass er sich wieder traute, den Raum zu betreten. Es war noch kurz vor dem Abendessen, sodass er nicht wieder in der Schlafenszeit erwischt werden würde. Eilig rannte er durch den Flur zur Bibliothekstür und schlüpfte in den Raum. Noch war die Sonne am Himmel und goldene Strahlen fielen durch das Fenster. Kleine Staubflöckchen tanzten im Licht und ließen den Jungen völlig verzaubert innehalten. So etwas Schönes hatte er noch nie gesehen.
Während der Junge dastand und den Staub bewunderte, krochen langsam die Higwigs hervor, die den Jungen natürlich schon längst bemerkt hatten. Fasziniert studierten sie sein Aussehen. Nie zuvor durften sie sich so nahe an einen Menschen heran wagen. Aber bei diesem Jungen war das egal geworden. So nutzten sie die Gelegenheit und prägten sich sein Gesicht, seine Kleidung, ja sogar seine Haltung ein. Denn obwohl es so viele Bücher gab, konnten Higwigs doch eher selten etwas über Menschen lernen, geschweige denn einen von ihnen in der Menschenwelt beobachten. Zu groß war die Gefahr, dass ihre Existenz enthüllt wurde. Auch konnten Higwigs im Allgemeinen ebenso wenig lesen wie der kleine Junge. Sie konnten nur in ihrer Geschichte leben. Und noch ein bisschen mehr, aber dazu später mehr .
Der kleine Junge bemerkte schnell, dass er nicht mehr alleine war, traute sich aber nicht sich zu bewegen. Er wollte nicht, dass sie alle gleich wieder in ihren Büchern verschwanden, weil sie Angst vor ihm hatten. Er wollte mit ihnen reden, wollte wissen, wer sie waren. Als er es nicht mehr aushielt, flüsterte er ein leises »Hallo« in den Raum.
Ein erschrockenes Raunen ging durch die Higwigs, waren sie sich doch immer noch uneinig, ob man mit einem Menschen reden sollte.
»Ich will wirklich nichts Böses«, bekräftigte der Junge nochmal und hob vorsichtig und langsam die Hände. Ein mutiger Löwe trat daraufhin aus der Menge nach vorne und erhob seine tiefe Stimme: »Wie alt bist du, Menschenkind?« Der Junge streckte stolz eine ganze Hand und einen weiteren Finger seiner anderen Hand hoch, sodass es alle sehen konnten. Ein weiteres Raunen erklang, wurde jedoch von einer alten Frau mit einem Stock, welchen sie scharf durch die Luft fahren ließ, unterbrochen.
»Liebes Kind«, sagte die Frau und richtete sich damit alleine an den Jungen, »du musst wissen, auch wir Higwigs wollen dir nichts Böses.« Erfreut über diese Nachricht begann der Junge verstehend zu nicken. Wenn sie auch nicht böse waren, konnten sie alle doch Freunde werden. Aufgeregt setzte der Junge erneut an zu sprechen, doch die Frau unterbrach ihn mit einer Handgeste.
»Warte Kind, nicht so vorschnell«, mahnte sie ihn streng. »Du bist zwar kein Feind - nicht mehr als ein Knirps, möchte man meinen - aber auch du kannst unsere Existenz verraten. Nie zuvor ist es einem Menschen gelungen, unsereins zu enttarnen. Doch nun, da du uns gesehen hast, ist auch dieses Geheimnis gelüftet und bedroht.« Zustimmendes Gemurmel wurde unter den Higwigs laut, doch erneut hob die alte Frau den Stock und es wurde still im Raum. Nur das Feuer knisterte unbeeindruckt weiter vor sich hin, doch das störte die Hexe nicht. Die Elemente hielten sich nunmal nicht an irdische Gesetze.
»Niemand«, fuhr die Frau gewichtig fort, »wusste vor dir von unserem Geheimnis. Wir bitten dich daher, unsere Anwesenheit in deiner Welt zu verschweigen, auf das niemand sonst von ihm erfährt und es verbreitet.« Nachdenklich sah der Junge die Figuren an. Er wollte sie doch der Mutter und dem Vater zeigen! Und seinen Freunden und den Leuten im Dorf. All das sollte geheim sein. Aber warum?, fragte er sich.
»Du musst verstehen, dass es böse Kreaturen da draußen gibt, die es nicht unversucht lassen werden, uns zu fangen und einzusperren, wenn sie von uns wissen«, erklärte die alte Frau sachlich. Obwohl sie so ruhig klang, wusste der Junge, dass es ein sehr wichtiges Anliegen wahr und nickte feierlich, um allen die Gewissheit zu geben, dass er sie nicht verraten würde. Zufrieden lächelte ihn die Frau an und trat zurück.
»Ich weiß, du bist sehr neugierig, was uns angeht. Doch bitte geh' jetzt. Wir müssen uns beraten. Komm morgen wieder und wir erklären dir, was wir sind und woher wir kommen.« Die Frau wandte sich nach dem letzten Wort ab und verschwand aus seinem Sichtfeld in den Schatten eines großen dunkelblauen Buches.
Enttäuscht verließ der Junge das Zimmer, hatte er sich doch mehr von diesem Treffen erhofft. Aber immerhin durfte er wiederkommen. Und wenn er es geschickt genug anstellte, würde niemand etwas davon merken und er hatte seine eigene kleine Märchenwelt in seinem besonderen Raum.
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