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Der Wind pfiff um die Ecken des Hauses, kräftig und ohne Unterlass. Wütend ruckelte er an den Fensterläden, die ängstlich hin und her schlugen und immer wieder auf das Fenster trafen. Klirrend und klappernd beschwerten sich die Scheiben, gaben sie doch nicht freiwillig dem Wintersturm, der sie peinigte, nach. Kleine Blumen aus Raureif rankten sich am Fensterrahmen entlang, bildeten Blüte um Blüte eine wunderschöne Pracht aus Eis, die dem Ungetüm des Sturms trotzig entgegen hielt.

Ungeachtet des Unwetters draußen knisterte drinnen fröhlich ein kleines Feuer im Kamin vor sich hin. Warmer Schein breitete sich vom Feuer in alle Richtungen aus und wärmte das kleine Zimmer, welches als Herz des Hauses galt. Es war unsere Bibliothek. Erhellt von kleinen Kerzen befanden sich Reihe um Reihe Bücher an den Wänden in Regalen, die aus dunkelbraunem Holz gemacht waren. In der Mitte des Raumes hatten die damaligen Besitzer einen kleinen Sessel aus dunkelgrünen Samt platziert, den sie zum Feuer hin ausgerichtet hatten. So konnte man an Tagen wie diesem dem Winter entfliehen, wenn man sich nur ein gutes Buch nahm und sich in den Sessel setzte, der vom Feuer immer schön angewärmt war.

Nun begab es sich aber, dass der Tag sehr dunkel und nicht mehr lange war. Der Sturm tat seinen Teil, um die Dämmerung in eine Phase tiefster Schwärze zu verwandeln. Nur schwer ließ sich gescheit ein Buch lesen und so befand sich niemand in dem kleinen Zimmer.

Kein Mensch, müsste man sagen. Denn aus den Büchern, flink und leise, krabbelten sie nach und nach heraus. Die Higwigs. Ein Einhorn hier, eine Elfe da. Higwig um Higwig kamen sie aus ihren Büchern gekrabbelt. Doch nie war einer größer als eine Kinderhand.

Bald tummelten sie sich in allen Ecken und Enden der Bibliothek. Ein Vampir hing kopfüber an einem der Kerzenhalter, ein Gnom hüpfte lachend auf dem Sitzpolster des Sessels herum und das Einhorn hatte es sich vor dem Kamin gemütlich gemacht. In trauter Einigkeit genossen die kleinen Wesen, denen es möglich war ihre Bücher zu verlassen, ihren kurzen Ausflug in die Menschenwelt. Und keiner von ihnen ahnte, dass sie heute ein großes Geheimnis verraten würden.

Denn still und leise, heimlich und unerwartet, schlich sich ein kleiner Junge an diesem Abend aus seinem Bett, in dem ihm schrecklich kalt war. Sein Zimmer war dunkel und der Sturm machte ihm Angst. Er wollte zurück in den tollen Raum, der so gemütlich warm und hell erleuchtet war. Seine Eltern schliefen schon fest, hatten sie doch im Garten alles festzurren müssen, bevor der Sturm es davon fegte. Er hatte nur drinnen zugucken dürfen. Der Sturm sei zu stark und er noch zu klein, hatte seine Mutter zu ihm gesagt. Doch ihm war langweilig gewesen und er hatte sich auf Erkundungstour begeben. Dabei hatte er den tollen Raum gefunden, den er jetzt wiederzufinden versuchte. Doch als er ihn fand und leise, damit er die Eltern nicht weckte, die Tür auf schob, glaubte er seinen Augen nicht. Da tanzten vor seinen Augen kleine Figuren vor dem Kamin herum. Sie freuten sich und lachten viel, doch niemand schien allzu laut zu sein. Fasziniert schaute sich der Junge alle an, glaubte er doch immer noch nur zu träumen.

Ohne Vorwarnung drehte sich die Elfe um und erschrak sich zu Tode als sie den kleinen Menschenjungen staunend in der Tür stehen sah. Hysterisch schrie sie auf und verkroch sich schnurstracks im nächsten Schatten. Auch die anderen Higwigs erschraken fürchterlich und liefen wild durcheinander zu ihren Büchern. Doch der Schaden war angerichtet. Der kleine Junge hatte sie gesehen.

Verwirrt ließ dieser den Blick durch den Raum schweifen, doch keine Figur war mehr zu sehen. Enttäuscht schloss er die Tür hinter sich und setzte sich auf den grünen Sessel, der jetzt ganz allein für ihn da war. Ohne die kleinen Higwigs war es sehr still im Raum und das Grollen des Sturmes heulte wieder merklich laut ums Haus. Zwar war ihm jetzt warm, doch er fühlte sich irgendwie alleine. Der Trubel von eben  war lustig gewesen. Doch jetzt, jetzt kam er sich verloren vor, konnte er doch noch nicht einmal lesen. Ein Raum voller Bücher verliert seinen Reiz schnell für denjenigen, der ihn kennt, aber nicht nutzen kann.

Ihm Schatten des Kamins kauernd, wartete die zurückgebliebene Elfe geduldig darauf, dass der Junge wieder verschwand. Doch mit zunehmender Dunkelheit und voranschreiten der Nacht wurde der Junge immer schläfriger und nickte schließlich auf dem Sessel ein. Die Elfe traute sich zuerst nicht, ihr Versteck zu verlassen. Doch je länger sie wartete, desto schmerzhafter wurde es, die Flügel still zu halten, während sie im schmalen Spalt zwischen Kaminsims und dem nächsten Buch eingequetscht stand. So schlich sie sich schließlich doch heraus und flog leise am Menschenjungen vorbei und hinauf zum obersten Regal, in welchem ihr Buch stand. Vorsichtig versuchte sie ihre Hand auf den Schriftzug der Vorderseite des Buches zu legen, doch ein zweites, dickeres Buch war dagegen gelehnt. Angestrengt versuchte die Elfe es zur Seite zu schieben, doch es ließ sich nicht bewegen. Fliegend stemmte sie sich mit den Füßen gegen das fremde Buch und endlich ließ es von ihrem ab. Glücklich strahlend wollte sie gerade den Schriftzug berühren, als sie ein Buch nach dem anderen zur Seite fallen hörte. Ähnlich einer Reihe von Dominosteinen riss ein Buch das nächste mit sich und als das letzte Buch der unvollständigen Reihe komplett umfiel, erklang ein tiefes Poltern.

Aufgeschreckt fuhr der Junge aus dem Schlaf und sah sich nach der Quelle des Geräusches um. Als er die ängstlich zitternde Elfe sah, die sich erneut im Schatten zu verkriechen versuchte, hatte er Mitleid mit dem armen Wesen. Auch wenn er nur ein kleiner Junge war, musste er schrecklich groß für diese kleine Elfe wirken.

»Hab' doch keine Angst«, flüsterte er ihr zu, doch die Elfe packte nur beherzt die Hand auf den Schriftzug und verschwand vor seinen Augen. Überrascht sprang der Junge auf und zog die Leiter heran, um zum Buch hinaufzusteigen. Die Elfe war tatsächlich einfach so verschwunden! Staunend betrachtete er das rote Buch. Könnte er lesen, er würde nachschauen, was in dem Buch stand. Ob das Buch von einer Elfe handelte? Grübelnd betrachtete er den Buchrücken vor seiner Nase. Die Buchstaben darauf konnte er jedoch nicht entziffern, kannte er bisher doch nur den Anfang des Alphabets aus dem Unterricht. Neugierig, wie er nunmal war, zog er das Buch trotzdem heraus und blätterte durch die Seiten auf der Suche nach Bildern, die ihm vielleicht aus der Patsche helfen würden. Die erste Bild, welches er fand, zeigte eine Waldlichtung, auf der ein großer Hirsch stand und graste. Enttäuscht senkte er das Buch ein wenig. Da waren keine kleinen Elfen zu sehen. Noch nicht ganz entmutigt, blätterte der Junge weiter in dem Buch, doch auf den nächsten Seiten waren keine Bilder zu finden. Mit jeder weiteren Seite Text sank sein Mut ein wenig mehr. Was, wenn die Elfe gar nicht erwähnt wurde? Oder wenn sie nur eine kleine Rolle in der Geschichte spielte und deswegen gar nicht gezeichnet wurde?

Eingenommen von seinen Grübeleien bemerkte der kleine Junge nicht, wie sich Schritte der Bibliothek näherten und schließlich die Tür aufgezogen wurde. Geweckt durch den Klang des umfallenden Buches waren seine Eltern in sein Zimmer gegangen um nach ihm zu sehen, hatten dort aber nur ein leeres Bett gefunden und daraufhin das Haus nach ihm durchsucht. Bitterböse über seinen nächtlichen Ausflug schickten sie ihn zurück in sein Zimmer und verboten ihm für die nächsten zwei Wochen, die Bibliothek wieder zu betreten

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