Das unauffindbare Fotobuch (4)

Timo und Opa Waldemar beobachteten Lana während sie ging. Timo mit einem ängstlichen und Waldemar mit einem sentimentalen Ausdruck in den Augen. Dann sah Opa Waldemar wieder zu Timo. Er blinzelte ein paarmal, so als müsste er sich zuerst erinnern, wer noch einmal der Junge in dem anderen Sessel war, dann lächelte er. "Ein großer Junge bist du geworden! Ich hoffe in der Schule läuft es gut.", sagte Opa Waldemar und nickte. Timo nickte ebenfalls: "Ja, in der Schule ist alles gut." Die Konzentration seines Opas schien wieder kurz abzudriften, und er starrte auf ein gerahmtes Gemälde von sich und Emma, welches auf der anderen Seite des Raumes hing. Das Gemälde war an ihrem Hochzeitstag angefertigt worden, und die beiden sahen darauf noch sehr jung und glücklich aus. Der alte Mann lächelte. "Sag Timo", meinte Opa dann, "du bist doch so gut darin Sachen zu finden. Erinnere ich mich richtig?" Timo nickte, froh, dass sein Opa sich überhaupt noch an etwas über ihn erinnerte. "Ja, ich bin gut darin Sachen zu finden. Ich bin sogar sehr gut!", verkündete Timo stolz. Opa Waldemar schien zufrieden. Er tätschelt Timo die Schulter und sagte: "Das freut mich zu hören. Sag mal, kannst du etwas für mich finden? Mir ist gerade etwas eingefallen. Es gab da ein rotes Fotobuch... In dem Buch waren Bilder von Emma. Ich würde es mir gerne anschauen. Kannst du es für mich suchen?"

Vielleicht war es nur eine Einbildung, aber als Opa Waldemar das Fotobuch erwähnte, glaubte Timo zu spüren, wie es im Haus um einiges kälter wurde. Timos Opa sah ihn voller Erwartung an. Langsam nickte Timo, und noch während er nickt bereute er es. Er wollte nicht durch das unheimliche Haus schnüffeln, um irgendein altes, verstaubtes Fotoalbum zu finden, das vielleicht nicht einmal existierte. Bei dem Grad an Demenz, das sein Opa hatte, war es nicht einmal unwahrscheinlich, dass das Fotoalbum überhaupt nicht real war. Konnte es überhaupt möglich sein, dass Opa Waldemar sich an ein bestimmtes Fotoalbum erinnern konnte? "Ja, ich suche es. Ich kann aber nicht versprechen, dass ich es finde.", sagte Timo und sah seinen Opa entschuldigend an. Wieder tätschelte Waldemar Timos Schulter.
"Es ist sehr auffällig: es ist in roten Samt gebunden und hat goldene Beschläge. Außerdem ist außen ein Foto von Emma in einem orangenen Mantel drauf. Auf dem Foto hat sie das Gewehr in der Hand, mit dem sie auf die Dosen geschossen hat. Das findest du bestimmt!"

Als Timo einige Zeit später durch das Haus irrte und nach dem Buch suchte, war er sich da nicht so sicher. Er war systematisch vorgegangen: er hatte im Erdgeschoss mit seiner Suche begonnen und dann, nachdem er dieses komplett durchschnüffelt hatte, ohne etwas zu finden, war er zum ersten Stock übergegangen. Im ersten Stock gab es haufenweise Fotobücher, aber keines sah so aus wie das, das Opa Waldemar beschrieben hatte. Timo war verunsichert. Er war noch nie bei einer Suche gescheitert. Dies würde nicht das erste Mal werden! Nachdem Timo den ersten Stock mehrmals durchschnüffelt hatte, fiel ihm siedend heiß ein, dass es im  Landhaus einen Keller gab, und dass er diesen noch nicht durchsucht hatte.

Timo lief zur Kellertreppe und die Dielen quietschten bedrohlich unter seinen Füßen. Hier, auf den Stufen, klangen das Geräusch eher wie hungrige Monster als wie verletzte Katzen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch stieg er die Holztreppe hinab, in die undurchdringliche Finsternis des Kellers. Als er mit schwitzenden, zittrigen Händen die Türe des Gewölbekellers aufzog, schlug ihm eine Welle kalter, unangenehm riechender Luft entgegen. Der Metallring der Türe hinterließ einen rostigen Abdruck auf Timos feuchter Hand, als dieser tief Luft holte, all seinen Mut zusammen nahm und die letzten, nun steinernen Stufen des Kellers hinab stieg. Auf einmal verwandelte sich sein Unbehagen in lähmende Angst. Ähnlich der Reaktion einer Maus, die die plötzliche Anwesenheit von Gefahr wittert. Sein Puls und seine Atmung beschleunigten sich. Er riss die Augen weit auf. Timo war sich sicher, dass etwas absolut schreckliches ganz in der Nähe war. Etwas, das es auf ihn abgesehen hatte. Kaum hatte der Schnüffler den Kellerboden erreicht, schlug er mit der Hand panisch gegen die Wand um den Lichtschalter zu finden. Er traf erst beim vierten Mal und war sich zu diesem Zeitpunkt bereits sicher, dass er gleich von irgendetwas großem, unheimlichen angegriffenen werden würde.

Das Licht ging an. Der Keller war frei von Monstern. Erleichtert atmete er auf und die Anspannung fiel von ihm ab. Lange Holzregale reiten sich an den Wänden und waren mit den unterschiedlichsten Sachen gefüllt: da war ein Regal mit verschiedenen Apfelsorten, eines mit Birnen, eines mit Karotten und eines mit Mehltüten. Auf einem anderen Regal standen unzählige Marmeladengläser und eingemachtes Obst. Auf wieder einem anderen waren getrocknete Kräuter zu finden. Mit der Menge an Essen, dachte Timo, könnte sein Opa locker eine Zombieapokalypse überleben.
Auf der anderen Kellerseite sah es dann anders aus: in den Regalen, die sich dort befanden, stapelten sich die verschiedensten Werkzeuge und Holzbretter. Es war eine richtige kleine Werkstatt.
Ein Fotobuch war da nicht. Timo durchsuchte den Keller extra zweimal, fand aber nichts. Froh den kühlen, seltsam riechenden Ort verlassen zu können, lief Timo die Treppe wieder nach oben, schloss die Tür und kehrte ins Erdgeschoss zurück.
Er war verwirrt. Wo war dieses verdammte Buch? Er hatte doch überall gesucht!
Dann fiel es ihm ein. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in den Magen und sorgte dafür dass ihm schlecht wurde.
Der Speicher! Als Timo angekommen war, hatte Licht im Speicher gebrannt. Vielleicht war sein Opa dort gewesen, und hatte sich das Buch schon einmal angeguckt. Timo hatte das ganze Haus durchsucht, nur den Speicher nicht. Es gab keine andere Erklärung! Das Album musste im Speicher sein! Wieder hatte Timo das Gefühl, dass es im Haus kälter wurde. Er zögerte, sollte er in den Speicher gehen? Seine Oma hatte ihn vor dem Speicher gewarnt. Immer! Timo hatte als Kind oft hineingehen wollen, weil der Speicher etwas Verbotenes, Interessantes gewesen war, aber jetzt war einfach nur noch der unheimlicher Ort, vor dem Oma immer gewarnt hatte. Unschlüssig kaute Timo auf seinen Fingernägeln. Einerseits wollte er wirklich, wirklich nicht in dem Speicher, andererseits wollte er Opa Waldemar glücklich machen. Der Schnüffler hatte ja eh schon ein schlechtes Gewissen, weil er nicht hatte herkommen wollen, und er alles tat, um die Gesellschaft seines Großvaters zu meiden. Wenn er seinem Opa das Buch brachte, dann könnte er das ja wieder gut machen. Timo wusste nicht, was er tun sollte.

Plötzlich quietschten die Dielen hinter ihm. Erschrocken wirbelte Timo herum und wäre fast auf seinen Hintern gefallen.
Es war nur Opa Waldemar. "Und Kleiner? Hast du das Buch schon?", fragte Opa Waldemar und Timo meinte, auch wenn das bestimmt nur am Licht lag, dass seine Augen dunkler waren als sonst. Timo schüttelte den Kopf, "Nein Opa, ich habe es noch nicht." Und weil sein Opa daraufhin so traurig aussah, fügt er noch schnell hinzu: "Aber ich guck gleich im Speicher nach. Da habe ich noch nicht gesucht."
Opa Waldemar lächelte, dann schlurfte er davon. Timo hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Wieso hatte er das sagen müssen? Jetzt musste er in den Speicher gehen! Mit zittrigen Knien begann Timo die Treppe in den ersten Stock hinauf zu steigen. Als er die Deckenluke erreicht hatte, mit der man die Leiter zum Speicher herabholen konnte, zitterte er bereits am ganzen Körper, und er konnte seine eigenen Zähne panisch klappern hören. Für ihn Klang es als würde man die Nägel in seinen Sarg schlagen. Mit zitternden Fingern zog Timo an der alten Kordel, und lies die Lucke nach unten. Sie machte dabei ein Geräusch wie ein schreiendes Kleinkind. Es jagte Timo einen eisigen Schauer über den Rücken. Die Luke klappte ganz nach unten, die Leiter fiel heraus und mit ihr zusammen ein Haufen Staub, toter Fliegen und ein unheimlicher, süßlicher Geruch, nicht unähnlich dem, den er schon im Keller wahrgenommen hatte. Die unheimliche Präsenz des Hauses, die Timo seit dem Tod seiner Großmutter überall im Landhaus wahrnehmen konnte, schien sich zu verdichten und zu einem wahrhaften Nebel des Schreckens zu werden. Obwohl er es eigentlich besser wusste, nahm Timo der erste Sprosse in die, mit Angstschweiß bedeckte, Hand und begann die Leiter nach oben zu klettern. In den Speicher.

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