Aus dem Alltag eines Schnüfflers (1)
In der Schule nennen sie Timo "der Schnüffler".
Nachdem er damals in die fünfte Klasse des Schiller-Gymnasiums gekommen war, hatte es gerade einmal vier Wochen gebraucht, bis sich der Spitzname unter den Schülern der Unterstufe durchgesetzt hatte.
Fünf Wochen später wurde er von allen Schülern so genannt.
Am Ende des Schuljahres hatte sich der Spitzname sogar bei einigen der Lehrer durchgesetzt.
Für Außenstehende wird es wohl wie Mobbing gewirkt haben, wenn sie Timo auf den Rücken klopften und schelmisch grinsend fragten: "Und Schnüffler, hast du heute schon irgendwas erschnüffelt?"
Aber das war es nicht.
Hätten die Außenstehenden das Geschehen genauer betrachtet, so wäre ihnen aufgefallen, dass die Kinder den Schnüffler mit Respekt behandelten, als wäre er jemand besonderes, mit dem man sich gut stellen wolle.
Was den Kindern so früh aufgefallen war, war nämlich keinesfalls eine schlechte Eigenschaft:
Timo fand Dinge. Alle Dinge. Immer. Egal wie hoffnungslos verloren etwas schien, setzte man den Schnüffler darauf an, so konnte man sich sicher sein, es nach höchstens einer Woche wieder in den Händen zu halten.
Am Anfang hatte er das gratis gemacht. Er hatte schließlich Freunde finden wollen! Aber je mehr ihn auf seine Fähigkeit angesprochen hatten und je mehr seine Hilfe wollten, desto offensichtlicher wurde für den Schnüffler, dass er damit Geld verdienen konnte. In der fünften Klasse verlangte Timo pro gefundenen Gegenstand 1 €, in der sechsten 2€, in der siebten hatte sich dieser Preis gehalten und nun in der achten, wo praktisch die ganze Schule von ihm abhängig war, hatte er ein richtiges Preissystem entwickelt:
Das Finden eines Gegenstandes an sich: 1€, war dieser Gegenstand bereits länger als 2 Wochen verschwunden, gab es 1€ Aufschlag, war er über die Ferien verschwunden gewesen noch 1€, war der Gegenstand kleiner als eine Brotdose, gab es dafür ebenfalls 1 € Aufschlag und wenn der Gegenstand besonders wertvoll war auch.
Das System funktionierte trotzdem, höchstwahrscheinlich weil es einfach niemanden gab, der dem Schnüffler da Konkurrenz machen konnte. Er konnte stolz von sich behaupten, bis jetzt alles gefunden zu haben. Manchmal fand Timo die Sachen sogar bevor die Leute ihn überhaupt danach fragten.
Ausgenommen von diesem Preissystem waren nur Lehrer, für die der Schnüffler grundsätzlich umsonst arbeitete, weil die seinen Markt ja auch sehr schnell hätten beenden können, sein bester Kumpel Tobi, auch wenn der eine richtige Goldgrube gewesen wäre, weil er praktisch ständig Zeug verlor und Kira, das Mädchen, in das Timo heimlich verknallt war.
Das Geld steckte der Schnüffler zu Hause in ein Sparschwein. Er sparte auf ein echtes Boot, das er benutzen wollte, wenn seine Eltern im Sommer mit ihm ans Meer fuhren. Manchmal träumte er davon, wie er mit Kira zusammen auf dem Boot in den Sonnenuntergang fuhr. Er wusste ja selber wie kitschig das klang. Das war vermutlich auch der Grund, aus dem er noch niemandem von dieser Fantasie erzählt hatte. Nicht einmal Tobi.
Mit seinen Fantasien gab es, noch ein anderes Problem: Kira hatte einen Freund, Benedikt. Für den arbeitete der Schnüffler grundsätzlich nicht.
Benedikt, der eigentlich ein ziemlich netter Typ war, begriff das nicht ganz. Er war zwar nett, aber auch ziemlich hohl im Kopf, zumindest sah Timo das so.
Timo, der Schnüffler, fand alles und das war seine größte Stärke, aber es würde auch zu seinem größten Problem werden.
Seine Familie war eine von den richtig alten Familien, eine von denen mit riesigen Landhäusern. Landhäuser, die Andenken an die alten Zeiten waren, in denen ihre Besitzer noch Macht, Reichtum und Ruhm gehabt hatten. Zeiten, die lange vorbei waren.
In dem Landhaus, das Timos Familie gehörte, lebte sein Großvater. Er war dement und musste konstant gepflegt werden, weshalb immer mindestens ein Familienmitglied mit ihm im Haus war. Timo hatte natürlich auch eine Großmutter gehabt, die mit seinem Großvater dort gelebt hatte. Sie war vor einem Jahr gestorben.
"Du darfst das Haus erkunden, Timo Schätzchen, aber gehe nicht in den Speicher. Im Speicher liegt ein Haufen altes Zeug herum und das willst du gar nicht finden. Da liegt Zeug, das so alt ist, dass es längst vergessen ist und das ist auch besser so. Manche Sachen sollten vergessen bleiben. Du würdest dich eh nur an irgendwelchem rostigen Krempel schneiden, und das wollen wir doch nicht.", hatte seine Oma gesagt.
Aber Timo war der Schnüffler und er war neugierig. Äußerst Neugierig...
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