4. Als es Zeit war

Jetzt war es kurz vor drei.
Ich sah zu Hannah. „Sollen wir anfangen?" Wir hatten uns die Zeit mit allerlei Dingen vertrieben. Unter anderem mit Musik hören, natürlich nur im Flüsterton. Dabei stellten wir fest, dass wir Musik ganz anders wahrnahmen, wenn wir mitten in der Nacht etwas hörten. Es war intensiver als tagsüber, als gelänge sie ungefiltert in unsere Seele. So manche Textzeile brachte ein Gefühl in mir hervor, das mich fast dazu brachte, die Musik auszuschalten. Denn ich wollte diesen Schmerz des Liedes nicht mitfühlen.
Nun war die Musik schon seit Längerem verstummt.

„Ich will eigentlich nur noch ins Bett", seufzte sie. „Aber wenn wir schonmal damit angefangen haben, sollten wir das jetzt auch durchziehen. Was genau hast du vor?" Ihre Stimme klang kraftlos, wie bei jemandem, der kurz vor dem Einschlafen war.

Ich stand auf, nahm die Streichholzschachtel und hielt inne. Erst da fiel mir auf, dass ich noch nie Streichhölzer verwendet hatte. Bis jetzt hatte ich immer Angst gehabt, mir die Finger zu verbrennen. Nun war es mir egal, etwas sagte mir, dass es falsch wäre, die Kerzen mit einem Feuerzeug anzuzünden. Zudem hätte ich sonst nur nochmal rausschleichen müssen.
Nein, das kam nicht infrage. Ich würde nur Zeit verschwenden, würde ich jetzt noch etwas holen gehen.

„Ich fange jetzt an", flüsterte ich und bemerkte, wie meine Freundin sich neben mich setzte. Im Schneidersitz ließ sie sich neben mir nieder. „Meinst du, ich muss irgendetwas sagen?" Ich sah sie aus dem Augenwinkel. Mein Blick war auf die große Kerze in der Mitte gerichtet.

„Ich glaube nicht. Aber ich weiß es auch nicht. Ich habe so etwas noch nie gemacht, wie du ja weißt." Plötzlich klang sie wacher als zuvor.

„Nun gut." Ich schob die Schachtel auf und nahm eines der zahlreichen Streichhölzer heraus.
Es fühlte sich so zerbrechlich an. Meine Hand zitterte ein wenig, als ich die Schachtel wieder schloss. Dann drehte ich sie etwas und ließ den Schwefelkopf über die Reibfläche gleiten.
Es gab ein ratschendes Geräusch, dann brach das Streichholz. Einige kleine Splitter standen ab, so fein, dass sie sich sicher so in die Fingerspitzen bohren konnten, dass man sie nicht mehr herausziehen konnte.

Das erste Mal in dieser Nacht kamen mir Zweifel. Was ist, wenn das ein schlechtes Omen war? Wenn wir das wirklich durchziehen und etwas schreckliches passiert? Wenn es tatsächlich funktioniert? Ich schalt mich selbst eine Närrin. Was sollte daran funktionieren können? Bei dem Ganzen ging es schließlich lediglich um diese schöne, schaurige Atmosphäre. Und darum, Kerzen intensiver wahrzunehmen.
Einen kurzen Augenblick überlegte ich, was passieren würde, wenn wir nichts machten. Wenn wir die Kerzen wieder zurückstellen und so täten, als hätten wir das hier nicht versuchen wollen.
Vermutlich nichts, sagte ich mir. Denn wenn es Geister gibt, haben sie uns doch schon längst bemerkt und nicht erst dann, wenn die Kerzen brennen. Oder nicht?

„Was ist denn nun? Oder soll ich es machen?"
„Nein!" Ihre Frage holte mich in den Augenblick zurück. Plötzlich war es so, als müsste ich unbedingt verhindern, dass Hannah an diesem Ritual mitwirkte. Warum? Das konnte ich nicht sagen. Aber es war dasselbe Gefühl, das mich die Kerzen vorher hatte anstarren lassen. Das Gefühl, das mich seit meiner Kindheit faszinierte. Es war das, das mich nun das nächste Streichholz aus der Schachtel nehmen ließ. Das meine Zweifel beiseiteschob.

Wieder ratsche es. Und diesmal schaffte ich es, ein kurzes Zischen erklang. Das Streichholz leuchtete auf. Die Flamme wurde schnell größer und heller, bevor sie etwas zusammenschrumpfte. Die Wärme traf auf meine Hand und kam langsam näher.

Ich beugte mich vor, streckte den Arm aus und hielt das Hölzchen an den ersten Docht. Es war eine der Kerzen, die ich geholt hatte. Es dauerte eine Weile, bis die Flamme auf den Docht übersprang. Augenblicklich wurde es heller im Raum. Ich sah Hannah, ohne sie richtig wahrzunehmen. Es gab in diesem Moment nur noch die Kerzen, das Streichholz und mich.

Die nächste Kerze. Diesmal wurde die Flamme am Docht größer, sie streckte sich empor, dann flackerte sie kurz auf, bevor sie normal weiterbrannte.

So ging es weiter und weiter. Ich hielt beim Anzünden keine bestimmte Reihenfolge ein, ich zündete die Kerzen an, wie es mir in den Sinn kam. Ein paarmal musste ich ein neues Streichholz anzünden. Es kam mir falsch vor, hier zu hetzen. Ich wollte es langsam und andächtig machen.
Bis lediglich die Kerze in der Mitte noch nicht brannte. Ich hielt inne und atmete ein letztes Mal tief ein. Nahm ein neues Streichholz. Während ich meine Hand ausstreckte, murmelte ich: „Wenn irgendetwas hier ist, bin ich bereit, dir zuzuhören." Natürlich tat ich das nur für die Atmosphäre, sagte ich mir.

Mittlerweile war das Zimmer von Kerzen erhellt und es herrschte diese faszinierende Stimmung, wie immer, wenn Kerzen brannten und es ansonsten dunkel war. Es bildeten sich Schatten an den Wänden, die sich mit den Kerzen mitbewegten, wenn sie flackerten. Ein leichter Wachsgeruch lag in der Luft.

Und dann berührte das Streichholz die letzte Kerze, die in der Mitte. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich die Kerzen keineswegs zufällig aufgestellt oder angezündet hatte. Das Muster, in dem die großen Kerzen standen, ergab ein invertiertes Pentagramm. Die anderen, kleineren Kerzen und Teelichter ergaben einen Kreis, der das Ganze einfasste.
Und genau in der Mitte dieses umgekehrten Pentagrammes befand sich die riesige weiße Kerze. Die nun ebenfalls anfing zu leuchten. Die Flamme streckte sich nach oben, schien zwei Spitzen zu entwickeln, stieg höher und höher, wurde heller. Bis sie alle anderen mit ihrem Licht auszustechen schien.
Das Licht flackerte, ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Ich wollte Hannah etwas sagen, aber es ging nicht.
Ich war paralysiert, konnte mich nicht mehr rühren. Und dann sah ich es, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Aber es war eindeutig da: Ein invertiertes Pentagramm leuchtete rot auf der Kerze auf, es war von einem Kreis eingefasst.
Genauso schnell wie es gekommen war, war es auch wieder verschwunden.

Ich wollte Hannah fragen, ob sie es auch gesehen hatte. Aber ich konnte mich noch immer nicht rühren.

Und dann hörte ich es. Dieses Atmen, das nicht von meiner Freundin kam.
Ein Schauer lief mir über den Rücken, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als mich umzudrehen und zu sehen, woher dieses Geräusch kam.
Vielleicht war es doch nur Hannah und mein Gehirn spielte mir hier etwas vor?

Aber in mir drin wusste ich, dass das hier nicht normal war. Ich konnte keinen einzigen Muskel bewegen, starrte auf die Kerze in der Mitte, die munter vor sich hin brannte.
Und ich spürte, wie sich mein Atem mit dem Geräusch, das an meine Ohren drang, synchronisierte.

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