#73 Leise rieselt der Schnee

Leise rieselte der Schnee auf die Straßen von Anpezo.
Der berühmte Wintersportort im Norden von Sore hatte an diesem 54.5. des Jahres 2733 acS⁰ einen frühzeitigen Wintereinbruch zu verzeichnen.
Schnee schon in den 50er Wochen des Jahres war auch in Orten die wie Anpezo über 1200 Meter hoch im Padonischen Gebirge lagen selten geworden, das lag nicht zuletzt daran, dass sich das Klima auf Bumia seit dem Beginn der Industrialisierung in Sore, also in den letzten dreihundert Jahren, um etwa zwei Grad erwärmt hat.
Auch wenn Sore in den letzten vierzig Jahren weitestgehend auf erneuerbare Energien, auf Elektromobilität und selbst im Flugverkehr auf nachhaltige Treibstoffe umgestellt hatte, sah das in den Vereinigten Reichen des Nordens und in Khamarinien anders aus, von Sindhurat einmal ganz zu schweigen.

Still sass Trevastan in der Bar do Massarotto und schaute hinaus in weißen Flocken die vom Himmel herabtanzten.
Er wartete auf An-Anadur mit dem er hier verabredet war.
Was auch immer der um diese Jahreszeit in Anpezo machte, Trevastan hatte ihn um ein Treffen unter vier Augen gebeten und An-Anadur hatte ihm mitgeteilt, dass er ihn heute im do Massarotto treffen würde. In Anpezo.
Das war gestern gewesen.

Also war er heute früh mit dem Rapidon 'Nivispluma'¹ von Sore Urb nach Anpezo gekommen und sass nun im do Massarotto und wartete auf An-Anadur.

Tatsächlich öffnete sich pünktlich zur verabredeten Zeit die Tür zur Bar und eine tief in Winterkleidung eingehüllte kleine Gestalt trat ein, sah sich um, erblickte Trevastan und lief zu seinem Tisch.
Als diese dann die große Kapuze ihrer Iacca tampoam² zurückschlug erkannte Trevastan, dass es sich um niemanden anders als An-Anadur handelte.
Dann schälte dieser sich aus der dicken Winterkleidung während er Trevastan freudig begrüßte: "Vaj alter Freund, du wolltest mich treffen, da bin ich..."
"Sehe ich" grinste der, "sozusagen frisch hereingeschneit."

"Möchten die Herren etwas bestellen?" erkundigte sich nun die Bedienung, ein älterer Herr, freundlich.
"Zwei heiße Chocolatta mit Creme bitte" orderte An-Anadur.
Als die Bedienung weg war raunte Trevastan etwas verwundert: "Erkennt man uns hier wirklich nicht oder sind die einfach so diskret?"
"Die sind so diskret" erwiderte An-Taetsin, "die Divigilia³ sichert den Schuppen schon seit mindestens drei Stunden..."
"Das machen die dann aber gut" lobte Trevastan, "denn ich habe nichts bemerkt..."
"Natürlich machen die das gut" erwiderte An-Anadur, "sonst wäre ich längst tot - aber kommen wir doch zu deinem Anliegen?"

"Mein Anliegen ja..." erwiderte Trevastan, holte noch einmal tief Luft und erklärte dann: "Es geht um deinen besten Freund."
"An-Taetsin" fragte An-Anadur sofort, "was ist mit ihm?"
"Ihm geht es gut" versicherte Trevastan ihm, "aber er hat sich in den Kopf gesetzt seinen Erinnerungen an die schreckliche Nacht des weinenden Jungen mit einer Wiederholung der Ereignisse an selbem Ort quasi zu überschreiben. Nur ohne Gewalt und Zwang, mit Leuten die ihm wichtig sind und die einen Bezug zu ihm oder den Ereignissen von damals hat."
"Er will also die Nacht des weinenden Jungen mit der Foramflos reinszenieren?" fragte An-Anadur, schien aber nur mäßig überrascht.
"Das kann man so sagen, ja" bestätigte Trevastan, "weswegen ich aber hier bin ist folgendes: Taejo, Isador und ich sind uns einige, dass du als sein bester Freund und Ivenej als Nachfahre von Fedej dem Grausamen dabei sein sollten..."
"Natürlich bin ich dabei!" fiel An-Anadur ihm ins Wort.
"Daran hatte ich wenig Zweifel" versicherte ihm Trevastan, "allerdings können wir schlecht dich und Ivenej auf so eine Veranstaltung einladen ohne eure Virions einzuladen. Und jetzt habe ich folgendes Problem: Wie lade ich den Divinimperator zu so etwas ein und wie stehen er und du dazu, dass auch Terastan dabei sein wird?"
Tatsächlich schwieg An-Anadur nun und dachte nach.

Mit der Frage: "Ihr haltet es für eine gute Idee Terastan dabei zu haben?" brach er dann das Schweigen wieder.
"Wir haben uns damit nicht leicht getan" erklärte Trevastan, "und Isador wird ihm unverständlich klar machen, dass wir ihn dabei zulassen, er aber keinerlei Erwartungen in Bezug auf seine Partizipation haben soll, da es immernoch Beteiligte gibt, die seine Anwesenheit tolerieren aber sich eine Interaktion nicht vorstellen können..."
"Jetzt hast du aber 'er darf gucken aber nicht anfassen' wirklich umständlich umschrieben" meinte An-Anadur und grinste, "aber ich bin auch dafür, dass Ivenej dabei ist und ja, Ivenej ohne Terastan dahin zu bitten können wir nicht bringen. Also denke ich, kann ich mich mit Terastans Anwesenheit arrangieren..."
Er konnte Trevastan förmlich erleichtert aufatmen hören.
Und just in diesem Moment brachte der ältere Herr ihre Heißgetränke.

"Was meinen Mann den Divinimperator angeht" flachste An-Anadur jetzt während er Unmengen Zucker in sein Getränk schüttete, "der war mir wirklich mehr als dreihundert Jahre treu und wenn ich ehrlich bin, ein bisschen Abwechslung gemeinsam zu haben schadet uns bei aller Liebe nicht..."
"Das heißt?" erkundigte sich Trevastan und zippte an seiner Chocolatta.
"Das heißt, dass ich meinen Virion von der Einladung in Kenntnis setzen werde und du uns, sobald ein Termin feststeht, einfach noch einmal eine Einladung zu Feier der Befreiung von An-Taetsin von den Schatten der Vergangenheit zukommen lässt" erwiderte An-Anadur.
"Oh.... Danke An-Anadur!" war Trevastan nun erleichtert.
"Ich will nur keine Beschwerde hören wenn Ieran dann deinen Uxvir verführt. Der hat vierhundert Jahre Erfahrung mehr als die erfahrensten unter euch" lachte An-Anadur nur.
"Dann kann er uns ja noch etwas beibringen" scherzte Trevastan nur.
"Oder vielleicht lerne ich ja noch etwas" erwiderte An-Anadur unbekümmert.

"Was machst du überhaupt hier in Anpezo?" war Trevastan nun neugierig.
"Was wohl" erwiderte An-Anadur, "ich fahre Troncis⁴ natürlich!"
"Um diese Jahreszeit schon?" war Trevastan etwas verwundert.
"Och, weiter oben am Medzo do Adamo sind die Pisten auf 2900 Meter Höhe" erklärte An-Anadur, "da ist zuverlässig Schnee..."
"Und Ieran?" erkundigte sich Trevastan.
"Der hasst Kälte. Und Schnee. Und dicke Klamotten..." lachte An-Anadur.
"Also bist du alleine hier?" fragte Trevastan noch einmal nach dem Offensichtlichen.
"Alleine mit etwa dreißig Mann von der Divigilia³, wie immer alleine man mit soviel Bewachern dann auch ist" bestätigte An-Anadur, "aber du bist ja auch alleine hier, wo ist Isador?"
"Der wartet in Sore Urbs auf meine Nachricht wie du dich positionierst zu An-Taetsins Wünschen und Terastans Beisein, dann hat er die Aufgabe zu Terastan und Ivenej zu gehen..." erläuterte Trevastan die Gründe für Isadors Abwesenheit.
"Ah... verstehe, na, das schafft er schon...." meinte An-Anadur, "aber eine andere Frage: Fährst du Troncis?"
"Ich bin mit einem Nordenländer verheiratet, natürlich fahre ich Troncis" erwiderte Trevastan.
"Hast du Zeit? Dann bleibe doch über Nacht und gehe morgen mit mir auf die Piste..." schlug An-Anadur vor.

Trevastan überlegte kurz und dann hatte er einen Vorschlag: "Weißt du was, ich rufe jetzt Isador an. Der kann auch noch nächste Woche zu Ivenej und Terastan. Der soll sich in den 'Sagitta do Adamo'⁵ setzen, dann ist er heute Abend auch hier und wir gehen morgen zu dritt auf die Piste..."
Noch bevor er etwas erwiderte, zeigte das Aufleuchten von Freude in dessen Augen wie sehr An-Anadur dieser Vorschlag gefiel.
"Darüber würde ich mich wirklich sehr freuen" hauchte er ein wenig ergriffen.

Ohne weitere Worte zu verlieren griff Trevastan zu seinem Callidcom und wählte Isadors Nummer.
Der ging sofort dran.
"Ja Trevastan? Was hat er gesagt?" waren seine ersten Worte.
"Das kann er dir heute Abend auch selbst sagen" erwiderte Trevastan, "kleine Planänderung, wir gehen morgen auf die Piste mit An-Anadur."
"In Anpezo?" war Isador kurz verwirrt.
"In Anpezo!" bestätigte Trevastan, "du hast jetzt noch gute neunzig Minuten unsere Wintersportsachen packen zu lassen und zum Bahnhof zu kommen um den 'Sagitta do Adamo' zu erwischen. Ich buch' dir ein Ticket und schick es dir dann rüber..."
"An-Anadur ist alleine in Anpezo?" war alles was Isador wissen wollte.
"Ja. Ist er" bestätigte Trevastan.
"Ich bin unterwegs, holt mich am Bahnhof ab!" bat Isador, "und jetzt entschuldige mich ich muss packen..."
Damit legte er auf.
Trevastan sah auf und in das fragende Gesicht von An-Anadur.
"Er kommt" meinte er nur.
Und genoß das Strahlen welches sich in An-Anadurs Augen, Gesicht, Lächeln und überhaupt breit machte.

Von leise rieselndem Schnee konnte nicht mehr die Rede sein als sich der 'Sagitta do Adamo' fünf Stunden später mit bereits zwanzig Minuten Verspätung aus dem Bahnhof von Mutina schob.
Trevastan hatte für Isador einen der Premiumsitze in der Front des Zuges gebucht und so konnte der dem Lokführer sozusagen über die Schulter und hinaus in die Dunkelheit schauen.
Große Flocken fielen Dicht an Dicht in einem nicht enden wollenden Strom vom Himmel, die Scheinwerfer des Zuges verloren sich in einem weißen Vorhang aus Kristallen gefrorenen Wassers, während dieser sich auf seinen Weg durch die Ebene des Padano machte, längst schon mit einer reduzierten Geschwindigkeit von nur noch 250 statt der sonst hier gefahrenen 360km/h.

Auch Trevastan und An-Anadur betrachteten aus An-Anadurs Calat⁶ den immer heftiger werdenden Schneefall.
"Ich befürchte, dass wird später werden bis Isador hier ist, wenn das weiter so schneit" vermutete An-Anadur während er Holz im Kaminofen nachlegte.
"Ja, der 'Sagitta do Adamo' hatte schon in Mutina zwanzig Minuten Verspätung" bestätigte Trevastan seine Vermutungen, "und Isador schreibt es schneie wie Hulle schon da..."
"Winter so früh und so heftig bis hinab in die Padano-Ebene, das hatten wir schon lange nicht mehr" stellte An-Anadur fest.
"Das letzte Mal an das ich mich erinnern kann war 2669..." entsann sich Trevastan.
"Eben, das war vor 64 Jahren" meinte An-Anadur, "selbst für uns ist das ein ordentlicher Zeitraum..."

Als sein Zug mit dem Halt in Poblilia den Rand der Berge erreichte hatte er bereits vierzig Minuten Verspätung.
Ein wenig hatte Isador damit gerechnet, dass die Fahrt hier nun enden würde, aber zu seiner Überraschung war das nicht der Fall und der Zug schob sich wieder hinaus in den wilden Tanz der Flocken in der Dunkelheit.
In Rivuspandam verließ der Zug dann die im Tal verlaufende Hauptstrecke und machte sich auf dem Weg hinauf in die Berge nach Anpezo.
Als der Zug Sorgentin passierte hörte der Schneefall schlagartig auf und die Scheinwerfer des Zuges leuchteten in eine Art weiße Wüste in der nicht einmal mehr der Verlauf der Gleise zu erkennen war.
Unbeirrt aber bahnte sich der 'Sagitta do Adamo' seinen Weg weiter bergauf, auch wenn die Geschwindigkeit mit welcher er nun unterwegs war seinem Namen nicht mehr ganz gerecht wurde.

"Es hat aufgehört zu schneien" stellte in Anpezo zur gleichen Zeit An-Anadur fest, "schau, es klart sich auf, ich kann sogar den Bulan sehen.
Den Bulan konnte auch Isador nun sehen als sein Zug sich langsam einen Weg durch die langestreckte Kurve unterhalb des Ululetta bahnte.

Ob es der Lärm des Zuges war oder einfach zuviel des schweren Schnees  niedergegangen war ließ sich im Nachhinein nicht mehr aufklären.
Doch just in diesem Moment löste sich am Hang des Ululetta eine Lawine und begann Richtung Tal und damit Bahnlinie zu rutschen.

Isador im Zug konnte im Nachhinein nicht sagen was er gefühlt hatte, aber er fühlte das Gefahr drohte und anstatt nun Alarm zu schlagen oder die Notbremse zu ziehen nütze er instinktiv seine Fähigkeiten.
Der Lokführer hatte plötzlich nicht nur Isadors Stimme in seinem Kopf die ihm befahl den Zug sofort anzuhalten, er gab später an, es sei eine fremde Macht gewesen, die ihn erfasst und eine sofortige Notbremsung eingeleitet hätte.

Der Zug bremste und wenn sorenische Züge eine Gefahrenbremsung machten, dann war ihre Verzögerung immens.
Leute fielen aus ihren Sitzen, Gepäckstücke aus ihren Ablagen, stehenden Menschen sassen plötzlich auf dem Schoß von sitzenden Menschen und sitzende Menschen auf dem Boden und am Übergang von Wagen 12 zu Wagen 11 ging die arme Bedienung vom Restaurantwagen mit einem ganzen Tablett Heißgetränken krachend zu Boden.

Just als der Zug stand und Isador sich erheben wollte um die Ursache des Gefühls von Gefahr zu lokalisieren, erreichte die Lawine die Bahngleise vor dem Zug.
Ein Getöse wie von einem sehr lauten Wasserfall ertönte und kurz sah es im Scheinwerfer des Zuges so aus, als bewege sich eine weiße Wolke auf sie zu, dann erwischten die Schneemassen die Oberleitung und es wurde schlagartig dunkel in und vor dem Zug.
Etwas Schnee prasselte gegen die Front des Zuges und eine Wolke feinsten Schneestaubes hüllte ihn ein.
Dann wurde es ruhig draußen.
Und während Isador sich langsam beruhigte, auch weil er keine Gefahr mehr witterte, stand der Lokführer in seiner Kabine auf, öffnete die Tür zum Fahrgastraum, kratzte sich ein wenig verwirrt am Hinterkopf und meinte dann: "Ja das jetzt ist natürlich ein bisschen blöd gelaufen..."

Nein, eigentlich war es ziemlich gut gelaufen, denn hätte die Lawine den fahrenden Zug erwischt, wäre es in einer Katastrophe gemündet.
Nun kam hastig der Zugchef mit einem großen Handscheinwerfer durch die Wagen nach vorne gelaufen. Gemeinsam mit dem Lokführer brachten sie einen Notscheinwerfer des Zuges wieder in Gang, doch der Blick voraus auf das nun vom Scheinwerfer beleuchtete Szenario machte deutlich, dass hier so schnell kein weiterkommen möglich war.
Bis zur der Höhe wo einst die Oberleitung hing türmten sich die Schneemassen aus denen an einzelnen Stellen die Reste zerknickter und zerfetzter Bäume ragten.
"Da brauchen wir garnicht rauszugehen" murmelte der Lokführer, "das geht da so schnell nicht weg..."

Immerhin schafften sie es die Lautsprecheranlage und eine nicht sehr helle Notbeleuchtung in Gang zu bringen und während die Passagiere sich langsam wieder aufrappelten, vernahmen sie folgende Durchsage des Zugchefs: "Sehr geehrte Fahrgäste! Aufgrund eines Lawinenabgangs ist unser Zug außerplanmäßig zum Halten gekommen. Unsere Weiterfahrt verzögert sich leider auf unbestimmte Zeit. Wir bitten dies zu entschuldigen!"

Isador zückte indessen sein Callidcom und stellte fest, dass er zwar kein lokales Netz hatte, sehr wohl aber über Orbitelles⁷ eine Verbindung aufbauen konnte.

So vibrierte wenig später das Callidcom von Trevastan der mit An-Anadur am Bahnhof von Anpezo auf die Ankunft des 'Sagitta do Adamo' wartete.
>Zug steckt in Lawine hinter Sorgentin. Keine schwer Verletzten oder Tote. Hilfe erforderlich< las er.

Derweil wurde es hektisch unter dem Bahnpersonal. So griff sich Trevastan einen der durcheinander wuselnden Eisenbahner und erkundigte sich höflich: "Können Sie mir bitte sagen was los ist?"
"Sie sehen doch das wir beschäftigt sind, Sie werden informiert sobald es etwas mitzuteilen gibt!" versuchte der ihn abzuwimmeln.
Damit jedoch war er bei Trevastan an den Falschen geraten.
Der richtete sich auf und dann donnerte seine Stimme laut durch den Bahnhof: "Nos eson Dividuxam Trevastan ab Apollam! Nos iniron statim lu suprematun hico!"⁸

⁰54.5 entspricht in etwa dem 19. November
¹Expresszug 'Schneeflocke'
²Pufferjacket
³Leibgarde des Divinimperators
⁴Ski
⁵anderer Expresszug namens Adamo-Pfeil
⁶Chalet
⁷Satelliten
⁸Wir sind der Erzherzog Trevastan von Apolla. Wir übernehmen hier ab sofort das Kommando!

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