#155 Gewissen, das unbekannte Gefühl
Lillian wusste nicht was er darauf antworten sollte.
Isador und Issan aber fühlten was An-Tinur empfand. So war es dann Isador der ihm ruhig eine Antwort gab. "Ja, das ist es, das ist das Gefühl was unseren Virions den Verstand vernebelt, das Gefühl was sie Kriege starten lässt, Intrigen und was sie dazu verführt Dinge zu tun, die sie selbst bei objektiver Betrachtung nicht gutheißen würden" erklärte er.
"Das sehe ich anders" widersprach ihm Issan nachdenklich, "das ist auch das Gefühl was uns die Angst verlieren lässt diejenigen die wir lieben und die Kontrolle zu verlieren. Deswegen tun wir Divinobles soviel dafür. Das aber kann man nur verstehen wenn man beide Seiten nachempfinden kann..."
"Und das kannst du?" Ungläubig und auch ein wenig mißtrauisch sah An-Tinur ihn an.
"Ich bin Uxvir und auch Divinoble" erwiderte er als würde das alle Fragen beantworten.
"Aber das ist... war... Lillian doch auch irgendwie?" entgegnete ihm An-Tinur.
"Du hast ihn gehört als er dich um Verzeihung bat, seine Worte warum er tat was er tat" erwiderte Issan, "war das Streben nach Macht, das Gefühl von Macht der dominierende Faktor? Oder war es die Angst die von mir genannten Dinge zu verlieren?"
An-Tinur dachte nach. Auch wenn man Lillian ein deutliches Streben nach Macht nicht absprechen konnte, was ihn anging hatte Lillian tatsächlich von der Angst ohne ihn sein zu müssen gesprochen. Und auch seine Interventionen in den Verlauf der Geschichte von Sore oder das Schaffen seiner eigenen Welt auf Merua sprachen nicht nur für Machtbesessenheit sondern konnten auch als ein ständiges Ringen um die Kontrolle, allumfassende Kontrolle – und das aus Angst ebendiese zu verlieren – interpretiert werden.
Als Lillian noch Uxvir war hatte er wenig Kontrolle über die Ereignisse – und er hatte die Person verloren die er liebte, nämlich Sorelan. Sorelan dem zuliebe er sogar sein Geschlecht gewechselt hatte um ihm Kinder zu schenken. Wenn das nicht eine große Liebe war, was war es dann?
Da sprach dann doch einiges dafür, dass Isadors Sicht auf die Dinge womöglich etwas zu einseitig war.
So griff An-Tinur erneut beherzt in Lillians Nacken, ließ den davon überrascht zusammenzucken.
Sein Instinkt signalisierte ihm sofort, dass dieses Gefühl mit Macht zu assoziieren sei – und dass das nichts für ihn sei als Uxvir.
Aber er war ja nun kein Tier, dass keine Wahl hatte als seinen Instinkten zu folgen.
Mal ganz abgesehen davon, was war das für ein dämlicher Instinkt der in einem so langen Leben nichts dazu gelernt hatte? schoß es durch An-Tinurs Kopf.
Er hatte ja auch noch einen Verstand. Und der hatte von der lange Dauer seines Lebens durchaus profitiert.
So ließ er das Gefühl weiter zu und begann seinen Verstand darauf anzusetzen. Oder anders gesagt: Er analysierte es.
Neben dem Gefühl der Macht war da noch etwas. Ein beruhigendes Gefühl. Eines was Sicherheit versprach, eines, das ihm suggerierte, er würde alles unter Kontrolle haben können.
Interessanterweise sprang sein Instinkt auch auf das nun deutlich an und beinahe unwillkürlich festigte sich sein Griff in Lillians Nacken noch einmal. Was jenen schmerzerfüllt aufstöhnen ließ. Womit er An-Tinur aus seinen Gedanken riß der nun, zutiefst erschrocken darüber, dass er in der Lage war seinem Virion Schmerzen zuzufügen, ein weiteres Mal hastig dessen Nacken losließ.
"Das war sehr aufschlussreich" erklärte An-Tinur nun, "trotzdem, steh auf, ich...
...ich denke das reicht. Das muss nicht sein..."
Etwas unsicher erhob sich Lillian. Es war nicht das erste Mal in seinem Leben, dass er sich einem anderen unterwarf. Aber das letzte Mal war halt doch schon mehr als zweitausend Jahre her. Doch eine Gemeinsamkeit hatten beide Male: Er hatte sich einer Person unterworfen die er liebte, jetzt gerade ebenso wie damals, am 10.5.721 acS, als er seinem Virion, als er Sorelan das letzte Mal lebend gesehen hatte und sich ihm, aus Anlass des Besuches von Königin Filopa, im Rahmen eines öffentlichen Auftrittes unterworfen hatte.
Nie hatte er den entgeisterten Blick von Caisarur vergessen, dem wohl erst bei seinem Anblick klar wurde, was da in Zukunft auf ihn als Uxvir von Abrutan zukommen würde.
Ebenso vorsichtig und verstohlen wie damals sah Lillian sich um. Und seine Blicke trafen auf ein Augenpaar, dass ihn mit genau der Mischung aus Verwunderung und einem Hauch von Entsetzen ansahen wie damals dasjenige von Caisarur Lagidaes. Filopatur Lagiden sah zu ihm und als ihre Blicke sich kreuzten sah er nicht weg, so wie Caisarur damals nicht weg sah.
Kurz flackerte etwas wie Wut in ihm auf. Doch hatte er nicht gerade auf unverzeihliche Weise sich von ebendieser übermannen lassen? So kämpfte er sie nieder während er weiterhin die eher zierliche Gestalt von Filopatur betrachtete. Dessen Ähnlichkeiten mit Caisarur waren frapant. Und da fiel ihm etwas auf: Die Blicke die Filopatur auf ihn richtete, sie waren nicht nur voller Neugierde und Verwunderung, sie waren auch voller Unschuld.
Das waren die Blicke von Caisariur damals auch.
Ahnte der damals womöglich garnicht, welche Ränke seine Mutter und sein Virion schmiedeten? War der jemals überhaupt eingeweiht worden? Caisarur war damals ein Junge von sechzehn Jahren gewesen. Er war noch jünger als dieser Filopatur gewesen, als er, Lillian, ihn getötet hatte. Und dennoch hatte er mit Abrutan bereits einen Sohn bekommen.
Caiman ab Iuniam, der nach dem Tod seines Pators und seines Mators unter dem Namen ab Tavolam aufgezogen wurde. Der vierhundert Jahre später der Pator von Imran ab Tavolam wurde welcher später einen Sohn namens Diman ab Tavolam hatte der seinerseits der Pator eines gewissen Fernan ab Tavolam werden sollte.
Des Fernans, der ein Techtelmechtel mit ihm, Lillian selbst haben sollte und dafür von seinem Sohn, Hernan ab Tavolam, ermordet wurde.
Schließt sich so der Kreis wieder? dachte Lillian.
Dann kam ihm noch ein Gedanke.
Wenn ich Fernan, der ebenso ein Nachfahre der Lagidaes war, lieben konnte, warum begegne ich dann diesem Filopatur, der vermutlich weitaus weniger direkt von denen abstammt, so feindselig?
Schlechtes Gewissen überkam ihn.
Was wenn Caisarur garnichts wusste was Abrutan und seine eigene Mutter ausgeheckt hatten? Habe ich dann nicht ein halbes Kind ermordet das doch unschuldig war?
Lillian war es nicht gewohnt Zweifel an seinem eigenen Tun zu bekommen oder zu haben. Um so mehr aber setzte ihm dieses Gefühl nun zu.
Allerdings, er selbst war 722 aCs, als Sore dann Misrata erobert hatte und er Caisarurs habhaft wurde allerdings auch nicht mehr als ein trauernder und zorniger Uxvir und Divinoble, dem man seinen Virion genommen hatte. Und nicht das mächtige Wesen was er heute darstellte.
Und seine Reaktion und seine Tat waren, gemessen an den Sitten der damaligen Zeit, noch eine Milde gewesen. Er wäre damals durchaus auf Verständnis getroffen, wenn er auch den kleinen Caiman getötet und das Geschlecht der ab Iuniams damit ausgelöscht hätte.
Nicht einmal das Geschlecht der Lagidaes hatte er ausgelöscht. Das war nach weiteren zwei Jahrhunderten ausgestorben. Immer die Geschwister miteinander zu verheiraten war halt keine ganz so schlaue Idee. Illegitime Sprösslinge hatte aber gerade der Bruder von Filopa zahlreiche. So gab es auch heute noch Familien in Misrata in denen das Blut der Lagidaes fortlebte. Wofür dieser Filopatur ja ein sehr anschaulicher Beweis war.
"Scilicet igo dimisio tuoe..."¹ mit diesen Worten holte An-Tinur ihn aus seinen Gedanken.
Kurz stutzte er ob der veralteten Formulierung seines Uxvir, dann aber realisierte er rasch, dass ihm dieser damit signalisierte, dass es ihm ernst war.
Und so antworte er ebenso in der Sprache ihrer jungen Jahre: "Igo habero gratum tuoe!"²
Als er der erwartungsvollen Blicke der anderen die auf ihm ruhten gewahr wurde, erkannte er, dass es damit nicht getan war.
So fügte er hinzu: "Ich verspreche dir, ich werde deinen Willen in Zukunft respektieren. Auch wenn es mir schwer fällt und meine Ängste hochkommen lässt. Es ist nicht einfach wenn einen die Vergangenheit ganz tief in die Augen schaut...
...auch wenn das jetzt mein Verhalten nicht rechtfertigt oder entschuldigt..."
"Was meinst du mit der Vergangenheit welche dich anschaut?" war An-Tinur nun verwundert.
"Warte..." flüsterte er, dann drehte er sich herum dahin wo Filopatur und Anadan standen.
"Iaune Filopatur ab casa de Lagidaes"³ sprach er, "ich habe Issan gebeten mit Euch zu tanzen um Euch auszuhorchen und ich habe Euch damit in Verlegenheit gebracht. Bitte verzeiht mir!"
Grenzenloses Erstaunen zeigte sich im Gesicht von Filopatur. Nicht nur in seinem, aber dort ganz besonders.
"Ihr meint mich, Vosta Numeen Divuseem?" erkundigte er sich verunsichert.
"Ich meine Euch" bestätigte Lillian.
"Aber.... diese Abstammung..." stammelte Filopatur nun, "meine Familie.... das ist doch nur eine Legende..."
"Wir haben die Männer des Hauses Lagidaes noch gekannt" erwiderte Lillian, "Siamun Lagidaes, Caisarun Lagidaes, Filopatun Lagidaes, Amun Lagidaes und Ramesun Lagidaes..."
Nicht nur Filopatur fiel auf, dass Lillian die alten misrataischen Formen der Namen verwendete.
"...Ihr seht aus wie sie" fuhr Lillian indessen fort und dann fügte er etwas leiser, beinahe wie zu sich selber sprechend hinzu: "Ihr seht aus wie Caisarun...."
"Ich sehe aus wie Caisarur?" wiederholte Filopatur ungläubig und wandte sich dabei an Anadan.
"Das musst du mich nicht fragen" entgegnete der, "Lillian dürfte der einzige hier sein, der das beurteilen kann..."
"Nicht ganz" mischte sich da An-Tinur ein, "zumindest an Ramesur den Letzten kann ich mich auch noch erinnern. Und ich muss meinem Virion da recht geben, die Ähnlichkeiten von Euch zu diesem sind unübersehbar."
"Deswegen also habt Ihr Issan geschickt um mit ihm zu tanzen?" verstand nun auch Anadan die ganze Tragweite.
"Deswegen" gab Lillian zu, "und weil ich nicht abschätzen kann, was passiert wenn Ihr euch miteinander verbindet..."
"Wir haben noch nicht einmal das Bett geteilt, mein Virion ist noch keine zehn Wochen tot!" schnappte Anadan empört.
Filopaturs Gesicht bekam nun eine leicht rosige Farbe während Lillian ruhig erwiderte: "Wenn man so lange lebt wie ich, bedenkt man die Zukunft mehr in Jahrzehnten als in Wochen..."
"Habt Ihr Angst Wir würden zu mächtig werden?" erkundigte sich Anadan nun lauernd.
"Womöglich habe ich die" räumte Lillian ein, "und dann dürft Ihr nicht vergessen, Caisarur war der Uxvir des Mannes der meinen Virion ermordet hat. Auch wenn ich mir inzwischen nicht mehr so sicher bin, dass Caisarur dabei überhaupt eingeweiht war, wie wäre es für Euch, wenn Ihr hier jemandem begegnen würdet der Euch an Brandon Wanker erinnert?"
"Wir sind uns sicher, dass Wir das besser handhaben als Ihr" konterte Anadan.
"Wie meint Ihr das?" war Lillian nun verwirrt.
Leise spöttisch erwiderte Anadan nun: "Darf ich euch Lord Lison, First Earl of Marlaland vorstellen? Er ist der Onkel von Brandon Wanker. Oder darf ich euch Lord Gaston, Archduke of Ostoria, vorstellen? Er ist der leibliche Bruder von Brandon Wanker."
Während er das sprach nickte er nacheinander freundlich lächelnd erst Lison und dann Gaston zu.
Sichtlich perplex blickte Lillian von Lison zu Gaston und dann wieder zurück.
"Das wusstet Ihr nicht?" konnte sich Anadan einen leicht triumphierenden Unterton nicht verkneifen.
Langsam schüttelte Lillian seinen Kopf.
"Nein, das wusste ich nicht" gab er zu, "dann versichere ich Euch meinen höchsten Respekt. Ich bezweifle, dass ich diese Größe so kurz danach besessen hätte..."
In die nun plötzlich eintretende Stille war es Luciur, der die sogenannten Volkshymne Sores aus dem 25. Jahrhundert anstimmte:
"Salve tei in la victorea
Imperator do patrion
Salve ad Ieran tei!..."⁴
Das Orchester bewies geistesgegenwart und fiel sofort ein. Und dann auch die übergroße Mehrheit der anwesenden Sorener.
"Sens't in divinors lustro
L'alta delicia totto
Dilecton do popolon ese
Salve ad Ieran tei!..."⁵
Ieran war zweifelsohne der Divinimperator gewesen, der allermeisten den berechtigten Anspruch erheben konnte von seinem Volk geliebt worden zu sein.
Es war keine Frage, dass er für seine Nachfolger die Messlatte hochgelegt hatte und die Begeisterung mit der nun die Sorener hier und jetzt seine Hymne sangen, war dem Ausdruck und Beweis genug.
"Clamart tuo lo patrion
Coniunctam, impavidam
Sequaron nos tei
Salve tei magno Ieran
Tios fortis filions
O magna Ieran
non tei elaberon!
Salve tei in la victorea
Imperator do patrion
Salve ad Ieran tei!"
¹Scilicet igo dimisio tuoe = Natürlich verzeihe ich dir. Allerdings in einem sehr altertümlichen Sorenisch. In modernem Sorenisch wäre das: Scilicet igo veniamutoro tei.
²Igo habero gratum tuoe = wörtlich: Ich weise dir auf dankbar zu sein, gemeint: Ich bin dir zutiefst dankbar. Im modernen Sorenisch: Igo eso tei penitissam gratuam.
³Lord Filopatur aus dem Haus Lagidaes
⁴Heil dir im Siegerkranz
Herrscher des Vaterlands
Heil Ieran dir!
⁵Fühlt in der Götter Glanz
Die hohe Wonne ganz
Liebling des Volkes zu sein
Heil Ieran dir!
⁶Rufst du das Vaterland
Vereinigt und furchtlos
folgen wir dir
Heil dir großer Ieran
Deine tapferen Söhne
Oh großer Ieran
Vergessen dich nie!
Heil dir im Siegerkranz
Herrscher des Vaterlands
Heil Ieran dir!
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