5 - Charakter

Sobald ich mich von dem Anblick losreißen kann, lausche ich wieder nach dem Bach.
Er ist schwer zu hören, doch nach ein paar Minuten habe ich das Geräusch wiedergefunden und kann seiner Richtung folgen.

Auf dem Rückweg zur Pforte sehe ich mich weiter um und entdecke neben Nestern von türkisfarbenen Vögeln einen zweiten Baumstamm, der verdächtig danach aussieht, als würde ein Kobold darin leben.
Außerdem ist der Waldboden von einzelnen Pilzen und ganzen Hexenringen übersät. Manche sind noch ganz jung und brechen gerade aus der Erde, bei anderen stülpt sich die Krempe bereits nach oben.
Selbst wenn ich es nicht wüsste, der Wald strahlt etwas magisches aus und jeder hätte ihn für verwunschen gehalten.

Bald schon treffe ich auf den Bach, auf dessen Wasseroberfläche wieder glimmender Nebel liegt.
Ich folge dem Strom einige zig Meter, dann sehe ich die Pforte durch die Büsche hindurch leuchten.
Auch in Ahir bildet ein Baum den Eingang.
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, doch er ist noch größer, älter und verwitterter als alle anderen. Seine Äste sind knollig und von Narben in der Ringe gezeichnet und der Stamm mündet am Boden in Wurzeln, die aussehen, als wollte der Baum sich vom Erdboden erheben.

Der Stamm ist auch wieder halbdurchsichtig und auf der anderen Seite sehe ich durch den Dunst das vertraute Häuschen.
Mein Herz schlägt höher und ich fühle mich sicherer als zuvor in Ahir, als ich einen Fuß durch die Pforte setze, zurück in auf die Erde.

Es ist verrückt, wenn man bedenkt, dass ich mit nur einem Schritt eine andere Welt betreten kann. Und der Rest der Menschheit, der die Pforten nicht sehen kann, sucht unter Verbrauch von Tonnen von Rohstoffen in den Weiten des Weltalls nach anderem Leben. Dabei befindet es sich direkt vor unseren Haustüren.
Was wir wohl sonst alles noch verpassen, weil uns der nötige Sinn verlorengegangen ist?

Gedankenverloren verlasse ich den Baum. Kaum, dass ich aus der Weide hinausgetreten bin, greife ich schon wieder nach meinem Rucksack, um die erste meiner Aufgaben zu erfüllen - die ich bis jetzt ordentlich vermasselt habe.

Wieder rühre ich Solem an, mit drei Tropfen von dem Wasser und meinem dünnen Ästchen. Diesmal äußerst sorgfältig, bessere ich die unsauberen Runen aus.
Zum Schluss kratze ich den heruntergelaufenen Schlamm wieder von der Rinde ab, sodass saubere, klare Kanten entstehen.

Zufrieden betrachte ich mein Werk.
Kann sich sehen lassen, denke ich mir. Wobei es natürlich nie jemand sehen wird.
Danach laufe ich den Hügel hinab, um im Garten meiner Großmutter Beeren zu pflücken.
Ich habe Glück, denn um diese Jahreszeit hängen die Büsche voll mit Himbeeren und Aronias finde ich auch einige.

Ich gebe sie alle zusammen und zerstampfe sie mit dem Weidenhölchzchen zu einem gleichmäßigen Brei. Kaum, dass ich Solem untermische kommen zwei kleine Drachen an. Der von vorhin wird jetzt von einem noch kleineren, dunkelgrünen Exemplar begleitet.
Beide setzen sich auf meine Schultern und ich genieße den leichten Druck, den ihre mit Klauen besetzten Füße ausüben. Am liebsten würde ich einen der beiden bei mir behalten.

Der gelbe, der mich vorhin schon so nachdenklich angeschaut hat, stupst mein Kinn jetzt sanft mit deiner kühlen Schnauze an und ich kann ein breites Lächeln nicht unterdrücken.

Schweren Herzens knete ich den Beerenbrei zu einer Kugel und werfe sie durch die Pforte nach Ahir. Dort sind sie besser aufgehoben, es hat einen Grund, weshalb es zwei getrennte Welten gibt, sage ich mir.

Der kleine grüne Drache verfolgt den Leckerbissen sofort und kehrt so wieder in seine Heimat zurück.
Einige Sekunden später hebt auch das Geschöpf auf meiner linken Schulter ab.
Er schlägt so kräftig mit den ledernen Flügeln, dass meiner Haare im Wind aufflattern, als wollten sie mich ebenfalls davontragen.

Der Drache fliegt in Richtung der Trauerweide.
Mach's gut, denke ich schwermütig. Vielleicht sehen wir uns ja bei der nächsten Pfortenöffnung.

Doch direkt vor dem Portal dreht er sich, im allerletzten Moment, sodass er mit seiner Flügelspitze sogar noch die unsichtbare Rinde streift. Als hätte er es sich spontan anders überlegt.

Er landet sanft auf meinem rechten Arm und beginnt, das verbliebene Beerenmus von meiner Hand zu schlecken.
"Geh nach Hause. Na los. Du kannst nicht bei mir bleiben, vergiss es", flüstere ich.
Auch, wenn wir es beide anders wollen, füge ich in Gedanken hinzu.
"Und wenn ich dich selbst zurücktragen muss. Bleib bei deinen Drachenfreunden."

Er dreht seinen Kopf um beinahe 180 Grad, nur, um mir in die Augen zu schauen. Als hätte er mich verstanden, doch anstatt davonzufliegen, faltet er seine Flügel zusammen und krallt sich in meinen Arm, dass es fast schon schmerzt.

"Hör auf damit. Es ist schon schwer genug!", flüstere ich frustriert und hebe meinen Unterarm ruckartig ein paar Zentimeter an, in der Hoffnung, er würde losfliegen wie ein dressierter Vogel.
Doch er bleibt stur sitzen und rührt sich keinen Millimeter vom Fleck.
"Nach schön. Vierundzwanzig Stunden und keine Sekunde länger. Ab jetzt nur noch", ich schaue kurz auf meine funktionierende Uhr, "exakt 22 Stunden und 53 Minuten. Und du hast Glück, das gerade Ferien sind, sonst müsstest du jetzt wieder gehen."

Der kleine Drache, ich muss unbedingt einen Namen für ihn finden, klettert meinen Arm hoch und lässt sich wieder auf meiner Schulter nieder, anscheinend bin ich bequem.
Zögerlich hebe ich meine linke Hand und lasse sie vor im in der Luft schweben. Er beschnuppert die Finger, bleibt aber sitzen. Vorsichtig streiche ich mit der Kuppe meines Zeigefingers über seine Schnauze und das kleine Horn darauf.

***

Ein Brummeln durchbricht die lauschige Stille und reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich schaue auf meine Uhr und, meine Güte, es ist schon drei Uhr nachmittags!
Schnell fahre ich mir durch die Haare und schultere meinen Rucksack, ehe ich den Hügel hinab zum Auto meines Vaters laufe.
Ich werfe noch einen kurzen Blick zur Weide, auf der der Drache sitzt. Nach seinem bisherigen Verhalten denke ich nicht, dass er abhauen wird.

Mein Vater schlägt die Autotür zu und geht sich zu mir um, wobei sich seine Augen besorgt weiten.
"Meine Güte, was ist denn mit dir passiert, bist du durch einen Wald gerobbt, oder was!?"
Mir wird bewusst, dass ich wohl ziemlich ramponiert aussehen muss, nachdem ich genau das getan habe. Mit Kratzern an den Armen und Flechten in den Haaren.
"Ich bin auf die Weide geklettert", antworte ich wie selbstverständlich.

"Und runtergefallen?"
"Natürlich nicht. Zumindest nicht richtig... Ich bin abgerutscht, aber habe mich wieder gefangen", lüge ich weiter. "Aber mir geht es gut, die Kratzer sind echt nur oberflächlich."

Mein Vater schüttelt den Kopf und murmelt etwas unverständliches, was ich mit Mühe als: "Ich sage dir, seitdem du laufen gelernt hast, dass du nicht auf jeden Baum klettern sollst, aber gut... Inzwischen bist du ja alt genug, um selbst auf die aufzupassen", entschlüsseln kann.

____

Ich weiß nicht, wie viele wirklich auf das Update gewartet haben (bei meinen Leserzahlen wohl niemand XD), trotzdem möchte ich mich kurz entschuldigen/erklären. Ich habe gestern mein rechtes Handgelenk so sehr überarbeitet, dass ich es ab 14 Uhr nicht mehr bewegen oder belasten konnte, weshalb ich das Kapitel auch nicht noch einmal überarbeiten konnte. Heute geht es der Hand aber wieder gut.

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