1 - Uhr

Langsam lasse ich mich auf einem freien Fleck zwischen den unzähligen Kisten nieder und wirble dabei eine Staubwolke auf, die die flach einfallenden Sonnenstrahlen sichtbar werden lässt.
Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen, während sich in mir ein Gefühlsgemisch von vertrauter Geborgenheit, Schmerz und Wehmut ausbreitet.

Schon so oft war ich hier oben, aber jetzt... Mein Herz zieht sich zusammen bei dem Gedanken an meine Großmutter.
Morgen werden wir beginnen, all die Kisten, Koffer und Kartons hier oben durchzusehen und auszuräumen. Morgen wird sich diese kleine Welt aus Erinnerungen und Gegenständen aus längst vergangenen Zeiten auflösen und durch eine kahle Leere ersetzt werden.

Am liebsten würde ich alles so behalten, wie es einmal war, als meinen kleinen Rückzugsort und gleichzeitig eine Art Fenster auf das Leben früherer Generationen.
Dass das meiste unter einer dicken Schicht aus Staub und Spinnweben bedeckt ist, stört mich dabei herzlich wenig.

Im Gegenteil, es ist sogar schön zu sehen, dass alles so bestehen bleibt wie es war, komplett unangetastet.
Bei einigen der Koffer sieht man hier und da noch die metallbeschlagenen Ecken aufblitzen, andere sind längst weich eingedeckt. Manche von ihnen habe ich noch nie geöffnet gesehen, andere habe ich mir damals mit meinen Großeltern zusammen angeschaut und nie vergessen.

Wie die Holzkiste, in der Fotoalben von vor über siebzig Jahren liegen. Oder die Schachteln, in denen fein säuberlich in Watte verpackt die zerbrochenen Vogeleier ruhen, die ich als Kind hier in der Umgebung gefunden habe. Ich muss daran denken, wie ich die türkisfarbenen und blassbraun gepunkteten Eierschalen gesammelt habe und jede neue zuerst Papa und meinen Großeltern zeigen musste.

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen lasse ich meinen Blick weiter durch den Raum gleiten.
Dabei fällt dieser unweigerlich auf eine unscheinbare Schachtel, die als einzige auffällig sauber aussieht, beinahe schon fehl am Platz.
Ich lehne mich vor, um sie zu greifen und näher zu betrachten.

"𝓯𝓾𝓮𝓻 𝓙𝓪𝓬𝓮 𝓖.", steht dort in geschwungener Schrift.
Das bin ich.
Vorsichtig nehme ich den Deckel von der, trotz ihres guten Zustandes, alt aussehenden Box.

Ich weiß nicht, was genau ich erwartet habe - vielleicht einen Brief und ein Herbarium oder etwas ähnliches. Stattdessen liegen in meinen Händen ganze fünf Gegenstände: Ein altertümliches Buch, eine Uhr, ein silberner Kerzenhalter mit blassblauen, fast abgebrannten Stummeln, eine kleine Tonschale und eine Kette.

Das Buch hat die Dicke von einem normalen Roman, vielleicht mit knapp 400 Seiten. Im Gegensatz zu dem heutzutage ungewöhnlich starken Ledereinband, welcher mit eingeprägten Zeichen und Mustern bedeckt ist.

Vorsichtig greife ich es und schlage es mittig auf, doch das vergilbte Papier ist unbeschrieben. Ich blättere einige Seiten zurück, dann bis ganz zum Anfang.
Nichts.
Das Buch ist komplett leer, vielleicht soll es eine Art Tagebuch sein? Meine Großmutter wusste, dass ich altertümliche Gegenstände liebe, vielleicht hat sie mir deswegen einige besondere zurückgelegt.

Behutsam lege ich das Buch zurück und achte dabei darauf, es nicht auf die Kette oder Uhr zu legen.
Die Armbanduhr hat römische Zahlen auf dem Ziffernblatt und ist in dunklem Holz eingefasst.
Das Band sieht zwar etwas heruntergekommen aus, aber sie ist trotzdem schön. Vielleicht kann ich ja neue Batterien einlegen lassen und sie dann tragen.
Obwohl sie still auf zwanzig nach fünf steht, lege ich mir das brüchige Leder um das Handgelenk.

Dann sehe ich mir die goldene Halskette genauer an. Es hängt ein kleiner Anhänger daran, ein Stein, der von kunstvollen Metallschlingen gehalten wird. Die Kette ist so unscheinbar und fein und trotzdem wunderschön, strahlt fast schon etwas magisches aus...

***

Bedächtig ziehe ich die Kette aus meiner Hosentasche und verschließe anschließend den winzigen Karabiner in meinem Nacken.

Als ich mich mit dem Erbstück im den Hals in meinem Wandspiegel betrachte wirkt es fast so, als hätte der Stein dasselbe leuchtende Grün wie meine Augen angenommen.
Ich fühle mich, als wäre Großmutter wieder hier bei mir und würde mich noch immer beschützen.

Vielleicht ist jetzt der richtige Augenblick, um den ersten Tagebucheintrag zu verfassen, denke ich mir.
Es fühlt sich schlichtweg richtig an, meine Gefühle aufzuschreiben und mich für das Hinterlassene zu bedanken. Also greife ich das schwere Buch und meinen Füller.

Doch als ich es aufschlage, traue ich meinen Augen nicht.
Es ist nicht mehr leer, es ist bis zur letzten Seite mit verschnörkelten Tintenbuchstaben beschrieben.
"𝓙𝓸𝓼𝓮𝓹𝓱𝓲𝓷𝓮 𝓖., 𝓯𝓾𝓮𝓻 𝓶𝓮𝓲𝓷𝓮 𝓔𝓷𝓴𝓮𝓵𝓲𝓷 𝓙𝓪𝓬𝓮", steht auf der ersten Seite. Eine Seite, die lose hinter dem Einband liegt und um einiges jünger als das eigentliche Buch wirkt. Danach folgt ein an mich adressierter Text.

"Liebe Jace,

ich weiß, es wird dir unglaublich vorkommen, was du jetzt lesen wirst. Aber bitte, bitte lies bis zum Schluss und glaube mir. Du bist etwas ganz Besonderes und ich möchte dir alles erklären.

Es ist so, dass in unserer Familie seit Jahrtausenden eine Gabe weitergegeben wird, immer von der Mutter an ihre Tochter.
Einst gab es viele Familien wie unsere, vielleicht war einmal jeder so wie wir. Doch manchmal verstarben Besondere ohne Nachfahren vom selben Geschlecht und die Gabe ging verloren.
Heutzutage gibt es zwar noch einige, aber im Vergleich zu früher dennoch verschwindent wenige Personen mit unserer Gabe. Umso wichtiger ist es, dass du alles ganz genau kennenlernst.

Wie du weißt, ist deine Mutter vor mir gestorben, dennoch wird unsere Gabe vererbt, denn du bist meine blutsverwandte Nachfahrin.
Ich wünschte, ich hätte dir alles persönlich gesagt oder hätte noch die Chance dazu, aber wenn du das hier liest, bin ich bereits tot.

Offensichtlich hast du alles gefunden wie geplant. Gib gut Acht auf die Kette und die Uhr, trage beides immer an deinem Körper!

Ohne die Kette kannst du deine Fähigkeiten nicht oder nur sehr beschränkt verwenden, zumindest noch.
Der eingefasste Stein passt sich deinen Augen an und hilft dir, die verborgene Welt der Magie zu sehen. Für die meisten Menschen ist diese Welt unsichtbar, für dich aber nicht. Ich werde dir nach und nach alles Wichtige erklären.

Dieses Buch wird bereits seit mehreren Generationen weitervererbt. Es hat in jedem Kapitel leere Seiten, auf die neue Erkenntnisse geschrieben werden, was du in einigen Jahren vielleicht auch können wirst. Nimm dir genug Zeit beim Lesen, es gibt keinen Grund zur Eile.

Falls die Uhr aber plötzlich zu laufen beginnt, blättere direkt zur Seite 12. Wenn der Stein sich verändert, lies Seite 23. Ansonsten kannst du wie gewohnt fortfahren."

Mit schwirrendem Kopf lege ich das Buch auf meinen Schreibtisch. Soll ich glauben, was da steht?
Auf der einen Seite kann es nicht wahr sein, auf der anderen passt es doch alles zusammen. Und außerdem hat sie nie Scherze oder etwas ähnliches in diese Richtung gemacht, wieso auch?

Während ich in Gedanken versuche, eine logische Erklärung zu finden, drehe ich gedankenverloren meine Armbänder um mein Handgelenk, so wie ich es ständig tue. Ich drehe mein selbst geknüpftes Armband, dann das Haargummi, was noch nie meine Haare zu sehen bekommen hat, sondern nur meinen Arm.

Um mich herum ist alles still, abgesehen von einem leisen Ticken einer Uhr. Es ist, als würde die Stille meine Gedanken um ein Vielfaches lauter werden lassen.
Was könnte dafür gesorgt haben, dass ich das Buch erst jetzt lesen kann und nicht schon auf dem Dachboden?

Meine Finger fahren wieder über die einzelnen Bändchen und treffen dann auf das feste Lederband der Uhr. Ich streiche an ihm entlang und muss direkt an Großmutter denken. Wieder schaue ich auf das Ziffernblatt.

Und schnelle direkt zurück, denn auf einmal stehen die Zeiger kurz hinter XII.
Und der Sekundenzeiger dreht unaufhörlich seine Runden, mit einem leisen Ticken...

Mit fahrigen Bewegungen öffne ich die Schnalle und lege die Uhr weg. Sofort hört sie auf zu laufen.
Was zur Hölle geht hier vor sich?

Ich greife das Buch und schlage es wieder auf. Ich überfliege die ersten Seiten und schnappe dabei genug auf, um mir noch mehr Fragen zu stellen als ohnehin schon. Also lese ich alles noch einmal langsam, bis ich bei Seite zwölf ankomme.

"Wenn die Uhr zu laufen beginnt, setzt sie sich zuerst auf Punkt zwölf zurück. Dann gibt es zwei Möglichkeiten.
Entweder, sie läuft vorwärts, wie du es kennst, oder rückwärts.

Vermutlich läuft sie bei dir vorwärts. Dann bleiben exakt vierundzwanzig Stunden, bis sich die Pforten zwischen unserer und der verborgenen Welt, Ahir, öffnen.
Sobald das geschieht, läuft die Uhr im selben Tempo rückwärts, denn für uns bleibt die Pforte ebenfalls vierundzwanzig Stunden lang offen.

Falls sie jedoch von Anfang an langsam rückwärts laufen sollte, möchte ich von dir, dass du möglichst ruhig bleibst. Es bedeutet, dass du 24 Tagen an einem natürlichen Tod sterben wirst.

Ich möchte, dass du keine Angst vor dem Tod hast, egal was passiert. Wir können nicht wissen, was uns danach erwartet, aber da es auch Parallelwelten gibt, könnte ein Leben nach dem Tod durchaus möglich sein. Falls ja, dann erwarte ich dich dort, sobald deine Zeit gekommen ist."

Was?
Die Uhr soll mir anzeigen können, wann ich sterbe? Das ist kann doch nichts als Humbug sein. Woher sollte sie das denn wissen?
Und eine Pforte zu einer anderen Welt... Ich weiß ja nicht. Einige Seiten vorher stand schon etwas darüber, aber glaubwürdiger wird die Behauptung dadurch nicht unbedingt.

Ich glaube zwar noch immer nicht wirklich daran, aber es soll wohl so sein, dass dort Wesen existieren, die unsere Mythologie beeinflusst haben, als noch mehr Leute sie sehen konnten. So wie Drachen, Feen und andere Fabelwesen.
Anscheinend öffnen sich die Übergänge immer bei einer bestimmten Stellung der Planeten und Kometen.

Ich beschließe, einfach weiterzulesen.
Vielelicht steht ja vierzig Seiten weiter, dass doch alles nur ein Scherz war. Vielleicht hat die Uhr ja unter dem Ziffernblatt kleine Kontakte, sodass sie nur läuft, wenn man sie trägt und der Stromkreis somit geschlossen ist. So ähnlich, wie bei den kleinen Plastiktieren, die blinken können, die man als Kleinkind auf irgendwelchen Festen gewinnen kann.

"Jace, wenn sich die Tore öffnen, ist es mit deine Aufgabe, beide Seiten zu beschützen. Es gibt zur Zeit noch mehrere sogenannte Hüter, wie du auch einmal einer werden kannst.

Jeder hat seinen Platz, einen Ort, den er beschützen muss. Wir können die Pforten nicht verschließen, aber wir können dafür sorgen, dass alle Geschöpfe in ihrer Welt bleiben oder wenigstens vor Schließung der Pforten zurück sind.
Deine Pforte liegt ganz nah bei meinem Haus, du kennst bestimmt noch die alte Trauerweide auf dem Hügel?

In diesem Buch werde ich dir die wichtigen Schutzzauber beibringen, aber auch, wie du die Wesen zurück in ihre Welten bringst und wie du dich verteidigst - es sind nämlich nicht alle harmlose Geschöpfe."

____

So, der erste Teil ist mit tatsächlich über 1.730 Wörtern da!
Wie immer freue ich mich über Feedback (natürlich nicht nur Lob, sondern auch Verbesserungsvorschläge).

Das nächste Update gibt es übermorgen und ab dann wie in der Einleitung angekündigt jeden Sonntag :)

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