29. Wie in die Sonne gucken
"Mensch sein ist wie in die Sonne zu schauen."
"Du meinst, man wird davon blind?"
"Lass es mich dir erklären."
"Oh Gott...bitte sag mir dass das nicht wieder so ein übles Gespräch wird wir das über die unendlich vielen Nullen nach dem Komma."
"Ein Gedankenexperiment. Versuch dir bitte all das vorzustellen, was dich ausmacht. Nicht deine Haarfarbe oder das komische Muttermal am Hintern - sag nichts, ich weiss davon - sondern das Innere."
"Jetzt sowas wie...meine Lieblingsfarbe? Das mit dem Muttermal überhöre ich jetzt einfach Mal geflissentlich."
"Nein... nicht ganz. Ich meine Erinnerungen, prägende wie auch scheinbar unwichtige. Jeden Menschen den du Mal geliebt hast oder liebst, den du verabscheust oder bewunderst. Jedes Gefühl, berauschendes Glück und tiefe Trauer. Dein Umfeld, deine Freunde, ehemaligen Lehrer, Familie, jede Ex-Freundin oder die mit dem Potential dazu. Jeder Traum und Wunsch, jeder Plan, sei er auch gescheitert. Jedes Gespräch. Jede-"
"Schon gut, schon gut. Ich hab verstanden."
"Kannst du dir das alles vorstellen?"
"Natürlich nicht. Das kann kein Mensch.""
"Ich weiss. Aber du begreifst, was ich dir sagen will, oder?"
"Wenn ich ehrlich bin...nein."
"Die Geschichte eines Menschen ist so unglaublich tiefgründig, auch wenn sie es nicht scheint. Kein Autor der Welt kann eine fiktive Person erschaffen die so vielschichtig ist, die nicht nur zwischen den Buchdeckeln lebt."
"Okay, es macht mehr Sinn. Aber was war jetzt mit der Sonne?"
"Der Mensch steht da und will sich selbst verstehen. Natürlich lebt er nicht jeden Moment bewusst, aber hin und wieder denkt er nach über das Sein und nicht Sein. Hätte Shakespeare jetzt gesagt. Hin und wieder schaut er in die Sonne, begreift dass sie da ist, dass sie wichtig ist, wenn nicht das Wichtigste. Aber die Sonne ist so hell und komplex und riesig, dass der Mensch den Blick bald anwenden muss."
"Wenn ich es mir so überlege...das ist gut möglich."
"Wir führen das Gedankenexperiment weiter. Nachdem du in die Sonne geschaut hast, gehst du nach Hause. Spätestens beim Abendessen ist die Nachdenklichkeit verflogen. Die Arbeit morgen hat größere Priorität. Und zudem antwortet das Mädchen was du magst nicht. Du willst schlafen aber liegst Stunden wach. Als du mitten in der Nacht zum klaren Himmel aufguckst siehst du die unzählig vielen Sternen. Und je länger du guckst, desto mehr werden es! Einige sind besonders hell, der Polarstein zum Beispiel. Andere erkennst du nur so schlecht, dass du sie beinah übersehen hast."
"Ich merke schon. Du versuchst wieder mein Hirn zu ficken."
"Die Sternen stehen für alle anderen Menschen auf der Welt. Nicht nur die, die dir nahe stehen. Alle. Auch die Mutter mit Kinderwagen die du heute morgen in der Bahn gesehen hast, der Postbote, die nette Frau am Telefon vom Pizzadienst, der Taxifahrer und und und. Du weisst noch, wie komplex dein eigenes Leben ist? Und davon gibt es Tausende, Millionen, Milliarden! Jedes genauso vielschichtig aber auf eine ganz andere Weise. Faszinierend und gruselig zugleich oder? Irgendwie sprengt es den Rahmen."
"Weisst du was furchtbar ist? Mit dir kann man nachts keine vernünftigen Gespräche führen."
"Wenn du das nächste Mal einem Menschen in die Augen guckst, versuch dir Mal vorzustellen, wie viel dahinter steckt. Im wahrsten Sinne des Wortes."
"Du willst also sagen, dass man niemanden wirklich kennt."
"Genau."
"Noch nicht Mal sich selbst?"
"Mensch sein ist wie in die Sonne zu gucken."
"Und das begründest du Mithilfe von Himmelskörpern?"
"Hm...ja."
"Mein Gott, du solltest weniger trinken und früher ins Bett gehen.'
Wiegesagt. Seeluft tut mir nicht gut.
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