Milch und Burger

Müde und kraftlos schleppt sich der große schwarze Hund den Bahnsteig entlang. Er hinkt auf der rechten Vorderpfote, der buschige Schwanz hängt traurig herunter und kann doch das Wedeln nicht unterdrücken. Ab und zu schnuppert das schöne Tier – denn seine Schönheit ist auch aus der Ferne noch erkennbar – auf dem Boden herum. Manchmal hebt sich der Schwanz ein wenig und bewegt sich hoffnungsvoll etwas schneller, aber immer wieder sinkt er enttäuscht wieder herab.

Ich kann erkennen, dass der Hund jemanden sucht. Tiere sind auf dieser Zwischenstation eigentlich selten; so gut wie alle wissen um sich selbst und ihren Weg und huschen rasch vorbei. Nur wenige suchen noch eine Weile ihren Menschen und mache finden ihn sogar. Die meisten erinnern sich irgendwann daran, dass sie auch ohne Mensch ein vollständiges Wesen sind und machen sich auf, um ihren eigenen Weg ins Jenseits und ins nächste Leben zu gehen. Dieser Hund hier scheint aber entschlossen zu sein, nicht ohne seine Menschen weitergehen zu wollen.

Eine neue Bahn fährt ein. Sofort dreht sich der Hund um, wedelt hoffnungsvoll und blickt den drei Seelen entgegen, die auf ihn zukommen. Als die drei näher kommen, läuft er einer der Seelen entgegen, stoppt aber wieder und senkt den Schwanz wieder.

Die Seele ihrerseits verharrt vor dem Hund, scheint auf ihn herunter zu blicken – genau erkennen kann man es nicht, da sie nur noch aus einem orangefarbenen Dunst besteht – und streckt etwas wie eine Hand aus, um das Tier zu streicheln. Das wird mit halbherzigem Wedeln und dem Versuch eines Hüpfers quittiert Der Hund scheint zu schwach zu sein für sein eigenes Temperament. Eindeutig ein sehr menschenfreundlicher Hund, denke ich. So jemand sollte sich doch leicht jemand anderem zuwenden können.

Aber im nächsten Moment trennen sich die beiden wieder. Die orangefarbene Seele zieht weiter in Richtung der Gleise und der Hund trottet weiter das Zwischengleis entlang. Auf mein Café zu.

Auch Tiere sollen bei mir nicht darben. Ich fülle einen Napf mit Wasser und gehe im Geiste meine Speisekarte durch. Richtig, für Wartende, die es eher deftig mögen, habe ich doch auch verschiedene Toasts und Burger bereit. Ich fertige ein Burgerpatty an, ohne es zu würzen, brate es an, teile es in Stücke und arrangiere es mit Schinkenresten und einem hartgekochtem Ei auf einem Teller.

Kaum bin ich fertig, erscheint der Hund in der Tür und schnuppert vorsichtig. Nicht nur in Richtung Burger und Schinken, sondern auch zu den Seelen hin, die an den Tischen sitzen. Langsam, als glaube er, so würde ich es nicht merken, schiebt er eine Pfote über die Schwelle. Als ich nichts sage, folgt die zweite, an der zwei Zehen fehlen, wie ich jetzt sehe. Zweifellos der Grund dafür, dass das Tier hinkt.

Da er eine ganze Weile in der Tür stehenbleibt, kann ich ihn ausgiebig betrachten. Mein erster Eindruck hat mich nicht getäuscht; es ist ein sehr schönes Tier. Schon der Kopf mit der mittellangen, kräftigen Schnauze, der ausgeprägten Stirn, den breiten Wangenknochen, den Schlappohren und den dunkelbraunen, runden Augen gefällt mir, aber auch der Körper mit den kräftigen Beinen, dem schlanken, geschmeidigen Leib, der tiefen Brust und dem geraden Rücken scheint mir das Idealbild eines Hundes zu sein. Das ganze ist überzogen mit kurzem, glattem, rabenschwarzem Fell ohne eine einzige hellere Stelle, welches gut am Körper anliegt. Nur um den Nacken herum ist das Fell länger und lockerer, als trüge das Tier eine Mähne. Es ist mit einer Schulterhöhe von über sechzig Zentimetern ziemlich groß und mir ist, als müsse ich die Rasse kennen, aber der Name fällt mir nicht ein.

Ich stelle Teller und Napf auf den Boden. „Das ist für dich. Ich hoffe, ich habe deinen Geschmack getroffen."

Der Hund hebt den Kopf und sieht mich genau an. Äußerst behutsam kommt er näher, der buschige Schwanz wedelt leicht. Ich rühre mich nicht. Auf dem Gleis hat sich das Tier weniger scheu gezeigt. Vielleicht spürt es, dass ich anders bin als die verlorenen Seelen.

Fast alle Gäste im Café beobachten den Hund gespannt; selbst die alte Frau an der Theke zeigt zum ersten Mal Interesse an etwas anderem als ihrem Muckefuck. Niemand rührt sich; mir scheint es, als ob alle sogar den Atem anhalten aus Angst, den tierischen Gast zu verscheuchen. Wobei die Seelen natürlich nicht wirklich atmen, doch bekommen die meisten eine recht gute Imitation dessen hin.

Je näher der Hund mir kommt, umso langsamer wird er und umso tiefer hält er den Schwanz zwischen die Hinterbeine. Die sanften Augen sind unverwandt auf mich gerichtet und der scheele Blick von unten herauf verheißt nichts Gutes für mich. Eindeutig misstraut mir der Hund. Das wundert mich auch nicht sehr; man sagt ja, dass Tiere ein gutes Gespür für Stimmungen und Gefühle haben. Und ich, die ich vermutlich nie gelebt habe, unterscheide mich sicher von den verlorenen Seelen, deren Leben noch in Fetzen an ihnen hängt, die nur zusammengefügt werden müssen.

Anstatt sich dem Futter zuzuwenden, hält der Hund die Nase in meine Richtung und zieht die Luft ein. Und dann springt er erschreckt zurück und lässt einen einzelnen, erstaunlich tiefen Beller hören.

„Nana", murmelt die alte Frau beruhigend und hält dem Hund die Hand hin. „Wer wird denn so schreckhaft sein, meine Schöne? Eithne hat dir doch ein feines Mahl bereitet, vor ihr musst du dich nicht fürchten."

Der Hund – vielmehr die Hündin, wie ich jetzt auch sehe – schnuppert die dargebotene Hand ab. Ihr Schwanz hebt sich bereits wieder und wedelt ganz leicht. Nach kurzer Überprüfung des Geruchs wird das Wedeln lebhafter und die Zunge kommt heraus und leckt die faltige Hand.

Auf dem trüben Gesicht der alten Frau breitet sich ein Lächeln aus. „Du bist ja eine Freundliche! Gell, du liebst die Menschen?" Je mehr sie spricht, umso heftiger wedelt die Hündin. Als die alte Frau sie zart hinter den Ohren krault, wackelt sogar das ganze Hinterteil mit und die Vorderpfoten beginnen zu tänzeln.

„Mit so einer braucht man keinen Ventilator mehr", spottet einer der beiden Jugendlichen. Sofort dreht sich die Hündin zu ihm um und er lacht gutmütig. „Na, komm schon, Blacky!"

„Du kannst sie doch nicht Blacky nennen", protestiert sein blonder Freund. „Das ist so ausgelutscht! Wenn schon, dann wenigstens Black Velvet."

Recht hat er. Das glänzende, schwarze Fell erinnert ein wenig an Samt und ich beneide die Verlorenen, die diese Hündin streicheln dürfen. Sie läuft bereitwillig zu den beiden jungen Männern – ich schätze sie auf etwas siebzehn, achtzehn Jahre – und lässt sich von beiden zugleich streicheln. Mit jeder Streicheleinheit scheint sie jünger zu werden und lebhafter. Ihr Dank für die Liebkosungen der beiden besteht aus eifrigem Lecken und einem Wedeln, dessen Luftzug ich auch hinter der Theke noch spüre.

„Was das wohl für einer ist?", überlegt der Dunkelhaarige. Der Blonde glaubt es zu wissen: „Labrador! Das Temperament ist unverkennbar!"

Die alte Frau dreht sich zu ihnen um. „Kein Labrador", widerspricht sie. „Jedenfalls nicht ganz. Da ist noch was drin!"

„Eine Promenadenmischung, meinen Sie?" Der junge Mann, der immer nur Wasser bestellt, wird jetzt auch aufmerksam. „Das sollen doch die treuesten und klügsten Hunde sein."

Die Frau begutachtet das schwarze Vieh, welches nun wieder zu ihr getrottet ist, sehr gründlich. „Diese Augen – und das dicke Halsfell – das Gesicht ist zu breit und die Stirn zu hoch – nicht so spillrig wie ein reiner Labrador – die Stimme zu tief und der Schwanz zu buschig – da stecken noch zwei drin. Einer allein erklärt das nicht."

„Sie kennen sich aus?", fragt der blonde Jugendliche ehrfürchtig.

„Ja", ich kann zusehen, wie sich die müden Augen immer mehr mit Leben füllen. „Ja, ich kenne Hunde gut. Ich hatte ein Hundehaus, halb Pension, halb Tierheim. Und ich habe Tiermedizin studiert. Ich habe sie alle gesehen, die verwöhnten Modehunde, die gequälten Ausstellungstiere und die innigst geliebten oder verachteten Dokös."

„Dokös?", erkundigt sich der junge Mann verdutzt und die nicht mehr so alte Frau lächelt. Die Falten, die sich dabei um ihre jetzt strahlenden Augen bilden, haben nichts mehr mit verflossener Zeit zu tun. „Dorfköter. So haben wir sie genannt und viele glaubten uns sogar, dass es sich um eine neue, besonders feine Rasse handelt."

„Also ist sie ein Dokö?" Der Dunkelhaarige kichert. „Eine neue Rasse, das gefällt mir!"

Die Frau, die nun eher im mittleren Alter steht, blickt auf die Hündin hinunter, die sie vor Freude fast vom Stuhl wedelt. „Ein Laschäro würde ich sagen. Labrador ist vor allem vertreten, aber diese Augen und Pfoten und vor allem die breiten Wangenknochen gehören einem Rottweiler. Die tiefe Stimme, der auch für Rottweiler buschige Schweif und die Haltung der Hinterbeine – das ist Schäferhund. Labrador, Schäferhund, Rottweiler – oder Laschäro."

„Eine großartige Rasse", stelle ich fest und registriere erleichtert, dass die Hündin beim Klang meiner Stimme zwar zu mir aufblickt, aber nicht mehr zurückscheut. Inzwischen hat sie den Teller entdeckt, abgeschnüffelt und wohl für gut befunden. Heißhungrig fällt sie über die Mahlzeit her und hat sie in weniger als einer Minute verschlungen. Dann riecht sie am Wassernapf, wendet sich ab und wirft mir einen traurigen Blick zu.

„Oha, stimmt etwas mit dem Wasser nicht?", fragt mich die Frau.

„Das sollte eigentlich in Ordnung sein", entgegne ich und habe dann einen Geistesblitz. „Moment mal", ich greife zum Milchkännchen und gieße einige Tropfen Milch ins Wasser, gerade genug, um es weiß zu färben. Sofort kommt die Hündin herbei, schnuppert neugierig und schlappt dann mit Wonne das Wasser auf.

Die Frau lacht leise. „Darauf hätte ich auch kommen können! Ich erinnere mich nun, ich hatte auch einige Gäste, welche das Wasser nur annahmen, wenn es wie Milch aussah und roch. Das waren oft Tiere, die zu früh von der Mutter wegkamen und die Milch dann aus dem Napf tranken. Später wollten sie dann nichts anderes mehr."

Bei den Worten der Frau springt die Hündin wieder auf und umtänzelt sie. Dabei tritt sie in den Napf und wirft ihn um.

„Platz!", rutscht es mir heraus. Auf der Stelle legt sich die Hündin flach auf den Boden – sehr flach. Vorder- und Hinterbeine sind seitlich ausgestreckt, Hals und Kinn in einer Linie mit dem Parkett, selbst der Schwanz liegt platt auf. Die dunklen Augen sind starr auf mich gerichtet.

„So ein schuldbewusstes ‚Platz' habe ich auch noch nicht gesehen!" Die Frau lacht auf. Die Hundeaugen wandern einen Moment zu ihr hinüber, dann fixieren sie wieder mich.

„Sie scheint zu wissen, dass Sie hier die Chefin sind, Eithne", meint die Hundefrau. „Sie wartet darauf, dass Sie ihr verzeihen."

„Erstmal muss ich das aufwischen." Ich lasse meinen Worten die Tat folgen. Die Hündin bleibt still liegen, zuckt nicht zurück, als ich sie versehentlich berühre und beobachtet mich weiterhin. Das ist einfach zu köstlich, um meine strenge Miene aufrecht zu halten; ich kann das Zucken im Wundwinkel nicht mehr unterdrücken.

Die äußerste Schwanzspitze hebt sich in einem ganz kleinen, aber hoffnungsvollen Wedeln. Dieses Riesenvieh hat es wirklich gut heraus, seine Stimmung zu kommunizieren. Unwillkürlich grinse ich und das Wedeln wird ein kleines bisschen stärker.

Jetzt kann ich nicht mehr; ich lache laut heraus. Sofort springt die Hündin auf, wedelt, was die buschige Rute hält, leckt mich ab und springt mir fast auf den Schoß. Da ich immer noch auf dem Boden kniee, falle ich um. Schon steht das ganze schwarze Tier über mir und schleckt mir selig das Gesicht ab.

„Aus! Pfui! Lass das!" Vor Lachen kann ich kaum die lange Zunge abwehren und mich auch nur mühsam aufrichten. „Du bist vielleicht ne Rübe!", keuche ich, als ich endlich aufrecht sitze.

Einen Moment lang erstarrt die Hündin. Dann springt sie hoch und fällt mir regelrecht um den Hals. Diesmal leckt und wedelt sie nicht, sondern kuschelt sich einfach an und reibt den samtig-schwarzen Kopf an meiner Schulter.

Ich lege meine Arme um sie und streichle sie. Es ist unmöglich, diesem Brocken Hund böse zu sein oder ihn nicht zu mögen. „Was ist denn jetzt los?"

„Ich glaube, Sie haben ihren Namen erraten", meint der Blonde kichernd.

„Rübe?!?"

„Ich habe schon seltsamere Hundenamen erlebt", die Hundefrau rutscht von dem hohen Hocker. „Und bei ihrem Charakter kann ich mir vorstellen, dass man so oft zu ihr gesagt hat, was sie für eine freche Rübe ist, bis sie das als ihren Namen angesehen hat."

Ja, das kann ich mir auch gut vorstellen. „Du Rübe", ich nehme ihren Kopf zärtlich zwischen die Hände und stupse meine Stirn gegen ihre. „Jetzt hast du keine Angst mehr vor mir?"

„Ich würde sagen, Eithne, sie haben hier jetzt einen Ladenhüter." Die Frau lacht und streichelt Rübe noch einmal. „Und ich werde jetzt gehen. Danke dir, Rübe, dass du mich daran erinnert was, was mir wichtig ist. Ich bin mir nun sicher, dass ich meine Liebe für Tiere auch drüben nicht vergessen werde." Sie verabschiedet sich freundlich von allen Gästen im Café und geht zu den Gedankenbahnen hinaus.

„Tja, und du wirst erst einmal hier bleiben?"

Rübe scheint meine Frage zu verstehen, sie reibt noch einmal ihren Kopf an mir. Und als ich nun aufstehe, um Eimer und Tuch hinter den Tresen zu bringen, läuft sie mir auf dem Fuß hinterher.

Sieht so aus, als hätte ich nun einen Hund. Das macht mich irgendwie glücklich, so als hätte ich mir immer schon einen gewünscht. Oder als ob ich früher einmal einen gehabt hätte. Aber das kann wohl nicht sein. Denn dann müsste ich ja vor meinem Dasein im Café gelebt haben.

Aber vorstellen kann ich es mir, wie es wohl gewesen wäre, wenn ich ebenfalls im Diesseits geweilt hätte und dort einen Hund wie Rübe gehabt hätte ...

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top