Kamillentee

Der Mann mit der Aktentasche rennt wie gehetzt den hellgrünen Bahnsteig entlang. Offenbar versucht er, die Gedankenbahn zu erreichen, bevor sie abfährt. Ich könnte ihm erklären, dass die Bahn erst startet, wenn er an Bord ist – vorausgesetzt, es handelt sich um seine Bahn.

Das scheint aber nicht der Fall zu sein. Lange bevor er auch nur in die Nähe der Bahn kommt, setzt sie sich in Bewegung.

Keuchend bleibt der Mann stehen. Dann blickt er sich um, entdeckt eine wartende Bahn auf einem fliederfarbenen Steig und läuft wieder los.

Fast hat er die Bahn erreicht, da rutscht ihm die Tasche aus der Hand. Er bleibt sofort stehen, hebt sie auf und wird dabei von einer anderen Seele überholt. Diese steigt gerade in die Bahn, als der Mann ebenfalls ankommt. Direkt vor seiner Nase fährt die Gedankenbahn los.

Jetzt wird der Mann noch hektischer. Er rennt von einem Bahnsteig zum anderen, sobald sich eine Bahn materialisiert, die Aktentasche fest an sich gepresst. Einmal hätte er es beinahe geschafft, in eine Bahn zu springen, aber in diesem Moment hat er die Tasche wieder verloren und bis er sie aufgehoben hatte, ist die Bahn natürlich schon weg gewesen.

Er versteht es nicht. Die Aktentasche steht für die Last, die er aus seinem Leben mitgenommen hat und die er loswerden muss, wenn er ins Jenseits kommen will. Solange er sich an diese Tasche klammert, wird keine Gedankenbahn für ihn bereitstehen.

Ich würde ihn das gerne mitteilen. Aber ich kann nicht aus dem Café herauskommen und die Seelen ansprechen. Das würde bedeuten, dass ich sie einsammele und das ist mir verboten. Tatsächlich kann ich das Café gar nicht verlassen; die stets offene Tür, durch welche die Verlorenen zu mir kommen, ist für mich wie eine undurchdringliche Wand.

Ich bin eben nur diejenige, die den Gästen ihnen vertraute Atzung bringt, die eher die Seele laben soll als jenen Anschein eines Körpers, in welchen sich die Seelen hüllen, die noch auf der Suche sind. Jene Verstorbenen, die ihren Weg bereits kennen, nehme ich nur als vage Schemen wahr, die zu rasch an mir vorbeihuschen als dass ich mehr als ein farbiges Aufblitzen erkennen könnte. Wenn eine volle Bahn aus dem Diesseits einläuft, ist mein Café für einige Momente in ein vielfarbiges, vielstimmig wisperndes Schimmern und Wabern gehüllt, dann verteilt sich alles auf den unzähligen Steigen, die wartenden Gedankenbahnen fahren los und es wird wieder still.

Aber immer wieder bleibt eine einzelne Seele ratlos auf dem Zwischengleis zurück. Und früher oder später findet sie den Weg in mein Café und gibt mir die Chance, ihr zu helfen.

Bei diesem Mann ist das nicht der Fall. Mit bewundernswerter Ausdauer trachtet er, einen Zug ins Jenseits zu erwischen, ohne zu bemerken, dass es so nicht funktionieren kann.

Nach der anfänglichen Hektik geht er methodischer vor, betritt einen Bahnsteig nach dem anderen, wartet auf die nächste Bahn, die natürlich erst erscheint, wenn eine andere Seele dieses Gleis gewählt hat, und versucht dann, sich mit einzuschmuggeln. Nachdem ihm das misslungen ist, zieht er einen Notizzettel aus seiner Aktentasche und befestigt ihn am Beginn des Steiges, um ihn zu markieren. Was selbstverständlich ebenso sinnlos ist wie seine vorherige Hetze. Keine der Seelen kümmert sich um diese Markierungen, aber wenn mehrere von ihnen vorübergleiten, wird der Zettel von ihrem Schwung mitgerissen.

Der eilige Mann scheint zu glauben, dass er nur die richtige Farbe finden muss, um von dieser Zwischenstation fortzukommen. Aber so einfach ist es nicht. Es braucht einen bestimmten Gemütszustand, um überhaupt eine Gedankenbahn rufen zu können und wer diesen erreicht hat, muss auch nicht über die Farbe rätseln. Aber solange der Mann nicht die letzte Last abgeworfen hat, die ihn ans Leben fesselt, wird für ihn auch auf dem richtigen Bahnsteig keine Bahn bereitstehen.

Ich beobachte ihn schon seit Wochen. Tag und Nacht rennt der Verlorene gegen sich selbst an, sucht das Vergessen im Jenseits und kann doch das Diesseits in Form seiner Aktentasche nicht loslassen. Und versteht nicht, was ihm da passiert ist.

Ich frage mich, ob er überhaupt begriffen hat, dass er tot ist oder ob er in einem Traum gefangen ist, der ihm vorgaukelt, dass er unbedingt den Zug erreichen muss, der ihn zu einem geschäftlichen Treffen bringt, für welches er natürlich die Dokumente in der Tasche zu brauchen glaubt. Darum kann er auch die Aktenmappe nicht aus der Hand lassen. Die Mechanik des Bahnhofs versucht ihm zu helfen, indem sie ihm immer die Tasche aus der Hand reißt, aber jedes Mal bleibt er stehen und hebt sie wieder auf. Wenn sie sich öffnet und ihren Inhalt über den Steig verteilt, sammelt er penibel alles einzeln wieder auf. Nicht ein einziges Blatt, einen Bleistiftstummel kann er von sich lassen. Aber mit soviel Gepäck kommt man auf diesem Bahnhof nicht weiter.

Im Moment sind wenig Gäste im Café. Eine Dame mittleren Alters kommt gerade herein und grüßt freundlich und ein wenig allgemein in den Raum. Die beiden Jugendlichen am Ecktisch geben ihren Gruß lässig zurück, der junge Mann am Fenster brummt nur Unverständliches und die alte Frau am Tresen nimmt keinerlei Notiz von der Eintretenden.

Die Dame setzt sich an einen Tisch in der Mitte des Raumes. Das ist ungewöhnlich, denn die meisten Wartenden suchen instinktiv die Nähe einer Wand, als bräuchten sie Rückendeckung. Auch die Art, wie sich die Dame interessiert umsieht, die Karte studiert und nachdenklich die ankommenden und abfahrenden Bahnen verfolgt, ist nicht das übliche Verhalten einer verlorenen Seele.

Ich gehe zu der Dame, nachdem sie die Karte hingelegt hat. „Was darf ich Ihnen Schönes bringen?"

Sie lächelt mich an. „Lachen Sie mich nicht aus. Ich hätte gerne eine heiße Schokolade mit extra Sahne und Schokostreuseln drauf. Und ein Schlumpfeis."

„Gute Wahl", ich lächle zurück. „Das Eis dauert einen Moment, die Schokolade kommt sofort."

„Ach, ich habe ja Zeit", entgegnet sie lässig und deutet auf die Glaswand, durch die man gerade wieder einen Schwung neuer Seelen vorüberrauschen sieht. „Ein herrlicher Anblick, nicht wahr? Obschon Sie wohl daran gewöhnt sind."

„Vielleicht, aber sattgesehen habe ich mich immer noch nicht daran", gebe ich zu und fülle einen großen Kaffeebecher mit dem heißen Kakaogetränk. Meine Getränkemaschine fabriziert eine richtige, vollmundige Schokolade, nicht die Instantplörre, die so eifrig beworben wird im Diesseits. Darauf spritze ich soviel Sahne, wie nur draufgeht und gebe dann eine ganze Handvoll Streusel darüber.

„Bitte sehr!"

Die Augen meiner Kundin leuchten auf, als ich ihr die Bestellung bringe. „Köstlich!" Sie wärmt sich die Hände am Becher und leckt sich in Vorfreude bereits die Lippen.

Die Seelen haben sich bereits in einem bunten Wirbel verteilt und haben nur den grauen Bahnsteig zurückgelassen. Und den hektischen Herrn mit der Aktentasche.

Wieder einmal blickt er sich verzweifelt um. Und da fällt ihm mein Café ins Auge.

Es fällt deutlich auf, ab wann er uns bemerkt. Sein unsteter Blick stoppt plötzlich und richtet sich auf das Café. Momentelang starrt er nur hinüber, dann setzt er sich mit einem unerwarteten Ruck in Bewegung, der den Entschluss wiederspiegelt, den er gerade gefasst hat.

Ich erwarte eigentlich, dass er sich umentscheiden wird, bevor er das Café erreicht hat. Gerade kommt er an einem Bahnsteig vorbei, auf dessem Gleis sich gerade eine weitere Bahn bildet. Doch er wirft nur einen kurzen Blick hinüber, zögert nicht einmal und setzt seinen Weg fort.

Bis er die Tür öffnet, habe ich den Schlumpf aus Blaubeer- und Zitroneneis, Sahne, Schokoladenplätzchen und Erdbeersirup geformt und bringe ihn der Dame an den Tisch. Sie taucht mit sahnebeschmierter Nase aus dem Becher auf und strahlt auf. „Eithne, Sie sind eine Künstlerin! Genauso sahen sie in meinen Comicheften aus!"

„Danke!" Ich deute einen Knicks an, was sie zum Lachen bringt.

Der Herr mit der Aktentasche blickt sie verwundert an und setzt sich dann an den Nebentisch. Sorgsam platziert er die Tasche auf einem Stuhl und greift nach der Karte. Nach einem Moment legt er sie mit müdem Abwinken wieder hin. Entweder hat er sich entschlossen, doch nichts zu sich zu nehmen oder ihm ist eingefallen, dass er bereits weiß, was er will.

Ich nähre mich ihm möglichst behutsam und frage: „Kann ich Ihnen etwas Gutes tun?"

Verwirrt blickt er auf, dann klärt sich sein Blick und er streicht sich seufzend über die Stirn. „Bringen Sie mir bitte einen Es – Kamillentee!"

„Kommt sofort!", kündige ich an. Es ist offensichtlich, dass sein erster Gedanke ein Espresso war, er sich aber besonnen hat. Finde ich auch gut so. Einen Espresso hat dieser hektische Mensch sicher nicht nötig, der beruhigende Kamillentee wird ihm eher guttun.

Heißes Wasser und ein Teebeutel sind schnell in den Becher gefüllt. Ich lege noch einen Keks dazu und mache mich mit dem Tablett auf den Weg. Unwillkürlich singe ich dabei "Auf in den Kampf, Torero! Stolz in der Brust, siegesbewusst ..." Jetzt bin ich an seinem Tisch angelangt und stelle ihm Becher und Kekstellerchen hin. „Bitte sehr, Escamillo!"

Gleich darauf beiße ich mir auf Lippen. Das ist mir jetzt einfach so herausgerutscht. Hoffentlich gibt es keine Rüge dafür. Ich erinnere mich nicht daran, wer mich mit der Führung dieses Cafés bestallt hat, aber umso genauer an die Regeln, die man mir mitgegeben hat. Den Gästen Spitznamen zu geben fällt sicher unter: „Keine Vertraulichkeiten mit den Gästen!"

Der Herr stutzt einen Moment, dann probiert er ein Lächeln. Es scheint das erste Mal für ihn zu sein, seinem Zögern nach, es gelingt ihm aber doch recht gut. „Du Schöne, so sprich, sag deinen Namen mir!"

Ich grinse und falle mit meiner Antwort nur leicht aus der Rolle: „Eithne, die Flamme, mein Herr, Euch zu dienen!"

„Hach!", seufzt die Dame neben uns. „Diese wunderschöne Oper habe ich einmal sehen dürfen, mit zehn Jahren. Ein Onkel nahm mich mit und spendierte mir nachher Eis und Schokolade. Wie war doch der Escamillo schön und ich himmelte ihn regelrecht an! Und dann habe ich mir die Augen aus dem Kopf geheult, als Carmen erstochen wurde! Ich glaube, ich war betrübter als Escamillo über ihren Tod!"

„Das ist eine schöne Erinnerung", stellt der neugetaufte Escamillo fest und nippt an den heißen Tee. „Ich fürchte, so etwas habe ich nicht aufzuweisen."

„Das ist sehr schade", entgegnet die Dame. „Ich glaube, dass ich in meinem Leben oft sehr unglücklich war. Aber umso mehr habe ich die wenigen glücklichen Momente genossen und sie fest in mir verschlossen."

Escamillo schürzt nachdenklich die Lippen. „Ich könnte nicht einmal sagen, ob ich unglücklich war. Ich hatte nie Zeit, darüber nachzudenken." Er nimmt noch einen Schluck. „Jetzt fällt es mir ein – immer, wenn ich einen Espresso in der Kantine bestellte, fragte mich die Bedienung, ob ich nicht lieber einen Kamillentee haben wolle. Aber ich brauchte das Koffein, um motiviert und dynamisch zu bleiben."

„Und wie ist der erste Kamillentee Ihres Lebens so?" Die Dame stellt die Frage, die ich nicht äußern darf.

Escamillo trinkt wieder. „Gut. Überraschend gut. Und er beruhigt tatsächlich."

Natürlich. Dadurch, dass ich meine Erfrischungen aus Lebenskraft fertige, verstärkt sich deren Wirkung immens.

„Ich habe Sie draußen herumrennen sehen." Die Dame befreit den Eisschlumpf von seiner Mütze. „Wo wollte denn diese Tasche so eilig mit Ihnen hin?"

Escamillo lächelt mühsam. „Das weiß ich nicht mehr. Ich habe so vieles vergessen – und vieles wohl niemals erfahren. Und noch mehr nicht verstanden." Er blickt zu mir auf, die ich an der Theke stehe und der alten Dame einen zweiten „Muckefuck" braue. „Eithne, dürfen Sie es uns sagen? Wir sind tot, nicht wahr?"

„Sozusagen zwischen Tod und Leben gefangen", diese Auskunft darf ich erteilen, hat man mir gesagt.

Escamillo seufzt. „Eine Zwischenstation also. Mir kommen jetzt immer mehr Erinnerungen. Und jetzt begreife ich auch Dinge, die zuvor nie so erkannt habe. Ich glaube, ich habe mein ganzes Leben auf Zwischenstationen verbracht. Jeder Halt war nur kurzweilig, ich bin niemals angekommen. Es gab immer noch ein Ziel, das es zu erreichen galt."

Die Dame kratzt die Sahnehose des Schlumpfs ab. „Das ist schlecht. Es heißt ja, der Weg ist auch das Ziel. Aber was Sie sagen, hört sich an, als hätten Sie den Weg immer nur als Mittel zum Zweck gesehen und am Ziel dann gleich den nächsten Weg gesucht, den Sie dann auch nicht genießen konnten." Sie kichert plötzlich. „Schauen Sie einmal, ich bin die erste Person, die erfährt, wie ein Schlumpf ohne Hose aussieht!"

Escamillo blickt auf ihren Teller und grinst. Ich pflege den Schlump komplett auszuformen und ihm dann die Sahnehose darüber zu geben. Solche Streiche hat man mir nicht verboten und es ist selten genug, dass sich jemand so etwas bestellt und ich meine Kreativität ausleben kann.

„Warum hat er denn ein Schwänzchen?"

„Das haben die Schlümpfe doch alle? Haben Sie nie die Comics gelesen? Oh – ich verstehe. Vermutlich haben Sie lieber für die Schule gelernt und Extrakurse genommen?"

Escamillo nickt. „Ja – daran erinnere mich jetzt auch. Ich wurde früh schon darauf gedrillt, möglichst viel im Leben zu erreichen. Und das Ergebnis ist nun, dass ich keinen Tag vorzuweisen habe, an den ich mich gerne erinnern möchte."

„Bei mir sind es auch nicht viele", gibt die Dame zu. „Aber dafür sind sie mir um so wertvoller." Sie lächelt mich an. „Eithne, wundern Sie sich? Ich habe schon bemerkt, dass die meisten hier ihr Leben zum größten Teil vergessen haben und hier bleiben, weil sie sich noch auf ihr wahres Selbst besinnen müssen. Aber das ist bei mir nicht der Fall. Ich weiß, wer ich wirklich bin und wo ich hingehen werde. Ich habe mir nur einen Moment Pause gegönnt, um noch einmal ein wenig Kind sein zu dürfen. Als Kind war ich eine Zeitlang glücklich, wissen Sie." Sie schweigt einen Moment, dann fährt sie fort: „Ich habe jetzt noch einen schönen Moment gesammelt. Meinen Sie, dass ich ihn verlieren werde, wenn ich weiterfahre?"

Darüber weiß ich Bescheid. „Nicht wirklich. Sie werden sich nicht mehr daran erinnern, aber die Kraft, die Ihnen diese Augenblicke schenken, wird Ihnen bleiben und Ihnen helfen, wo immer Sie auch hingehen werden."

„Das ist gut zu wissen", die Dame kratzt das letzte Eis vom Teller, steckt den Löffel in dem Mund und schließt genießerisch die Augen. „Das schmeckt wunderbar", verkündet sie undeutlich, während der Löffelstiel vor ihrer Nase wackelt.

Escamillo trinkt seinen Tee aus. „Und ich?", fragt er ein wenig hilflos. „Was kann ich mitnehmen?"

„Vielleicht eine Erkenntnis?", schlage ich vor.

Betrübt blickt Escamillo in seine leere Tasse. Dann plötzlich greift er den Teebeutel, legt den Kopf zurück, presst den Beutel aus und lässt sich die letzten Tropfen über die Zunge rinnen. „Ich möchte auch mal etwas bis zum Letzten auskosten", erklärt er uns.

„Daran tun Sie gut", lobt die Dame.

Escamillo blickt auf den Bahnsteig heraus. Gerade kommt wieder eine Bahn aus der grünlichen Ferne. „Es sind so viele. Und sie alle wissen, wo sie hingehen wollen. Oder sind es viele Verlorene wie wir?"

„Es wechselt", sage ich. „Zurzeit sind es wenige. Mein Café war schon wesentlich voller."

„Und Sie sind immer hier? Oder wechseln Sie sich auch ab?"

„Nein, ich brauche keine Pausen. Ich mache das alleine und bin auch nicht überfordert." Wieder einmal frage ich mich, ob ich überhaupt eine lebende Seele bin oder nur ein von den Erbauern dieses Bahnhofs geschaffener Automat.

Plötzlich hebt Escamillo den Kopf und seine Augen funkeln lebhafter als jemals zuvor. Und vermutlich auch mehr als in seinem ganzen vergangenen Leben. „Ich weiß nun, was ich mitnehme!", verkündet er.

Die Dame sieht ihn ebenso gespannt an wie ich.

„Erkenntnisse kann ich mitnehmen, haben Sie gesagt. Ich werde es fest in mir behalten, dass ich mich niemals wieder so einspannen lasse. Dass es wichtiger ist, glücklich zu werden als erfolgreich. Dass ich tun darf, was ich will und nicht, was ich muss." Er lacht auf. „Das nächste Mal werde ich leben! Das habe ich in diesem Dasein zu tun vergessen!"

„Das ist ein guter Vorsatz", die Dame tupft sich noch einen Sahneklecks von der Nase und steht auf. „Nun, ich glaube, ich muss nun meine Bahn besteigen. Leben Sie wohl, Eithne, und vielen Dank für alles."

„Ich wünsche Ihnen eine wunderbare Zeit, wo immer Sie auch hingehen", erwidere ich und wende mich an Escamillo. „Was Sie eben gesagt haben, ist mehr als ein Vorsatz. Es ist etwas, was Sie mitnehmen werden, da bin ich mir sicher."

„Danke", auch Escamillo erhebt sich. „Ich sollte nun ebenfalls gehen." Er greift unwillkürlich zu seiner Tasche, lässt die Hand dann aber sinken. „Ach, die brauche ich ja nun nicht mehr."

Ich sehe Escamillo und der Dame zu, als sie über den breiten Warteplatz gehen, die Abfahrtsgleise erreichen und sich dort trennen, um ihre jeweilige Bahn zu besteigen. Einerseits freue ich mich für die beiden, die nun ihrer Bestimmung entgegenfahren. Andererseits bin ich traurig, denn ihre Worte haben neue Fragen in mir ausgelöst.

Die Dame hat gelebt, unglücklich wohl, aber sie hat sich nicht aufgegeben und das wenige Glück, welches ihr zuteil geworden ist, freudig angenommen und in sich bewahrt. Escamillo – das wird er immer für mich bleiben – hat wohl eher wie ein auf Erfolg programmierter Roboter gelebt, aber auch er hat ein Leben gehabt.

Und ich? Habe ich auch jemals gelebt?

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